kaputte Gedichte - Abstrakte Irrwege

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Die Maske Schnee


Das ganze Land ringsum ist bedeckt mit einem weißen Mantel. Ausgebreitet liegt er still über unzählige Hügel und Täler, über dichtbestandene Wälder und schlafende Seen, verdeckt das gewöhnliche Braun der Erde, zeigt verräterisch sich kreuzende Spuren der Rehe und Hasen, sieht die einfachen Menschen sich freuen in ihrem Glück. Auf ihn rollt die glühende Morgensonne einen feuerrot funkelnden Teppich aus, darauf dem neuen Tag entgegen zu schreiten. Morsche Pfähle, uralte  Laternen, die kleine schäbige Mauer vorm Haus und selbst das einsame alte Auto haben wollige weiße Mützen aufgesetzt und träumen von ihrer Jugend. Der Müllplatz sieht schneeweiß aus und steril und denkt dabei mit Grauen an den Frühling.  Sieht das ganze Land mit seiner sonnenüberschütteten Pacht nicht gerade so aus, wie eine lachende Braut, vor dem Altar stehend und zum Frühling nein sagend? Das Land kann den Frühling nicht lieben, einen Frühling, der sich mit Wärme  in die Herzen schleicht. Oder, scheint das Land nicht wie ein unschuldiges Kind in einem riesigen weißen Bett zu schlafen, still und sanft den Schlaf des Unwissenden, träumend von einem Märchenland? Ein Träumer hört nichts und sieht nichts  und dennoch knospen all seine Träume aus Gehörtem und Gesehenem. Nein, nicht wie eine weiße Braut und nicht wie ein schlafendes Kind sieht dieses Land aus. Nein, es gleicht aufs Haar dem alten Clown, der weint, wenn er sich nach dem Auftritt  vor dem Spiegel die Farbe von seinem Gesicht schabt! Dieser Clown hat den ganzen Abend hindurch jedermann seine freudig strahlende Maske gezeigt: blendendes Weiß mit bunten Augen, Nase und Mund. Aufgemaltes Lachen. Genau wie der Clown nach seinem Auftritt,  so schminkt auch das Land sich in der Frühjahrssonne ab. Es fällt das alles verbergende Weiß. Mehr und mehr tritt hervor das runzlige Gesicht, blicken müde Augen in den lachenden Spiegel und der schlaffe Mund krampfhaft ein letztes Lächeln versucht, eingerahmt in fingertiefe Sorgenfalten. Die Ruine des lasterhaften Lebens wird freigelegt, bereitgemacht für weitere Zerstörungstaten.

Rostock, Feb. 1978
(05. Mai 2011)



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