Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Charme des Sommers


Müde schleichen die Gedanken in der höllischen Hitze des Tages, versuchen der unbarmherzigen Sonne zu entfliehen, suchen den belebenden Schatten einer steinernen Kühle. Turbulentes Gehaste und geschäftiger Lärm hinterlassen die weiten Straßen menschenleer. Die Stadt glüht, glüht so sehr, als müsse sie jeden Augenblick zu Asche zerfallen. Großes Schweigen schwebt über dem Pflaster, sieht in die verhängten Fenster, sitzt an leeren Tischen vor den Cafés und trinkt die klebrigen Colareste. Alles Leben hält Siesta. Ein glücklicher Scheintod beherrscht für·Stunden das Land. Wenn dann endlich die Sonne wieder vom Himmel rutscht, wenn sie langsam weit hinter dem Horizont ins Meer hinabgelassen wird, erst dann wieder weicht er zögernd dem zurückkehrenden Leben. Wenn freundlicher Schatten seine Segel ausbreitet und in seinem stolzen Schiff über das Land hinweg zieht, dann erwacht wieder der Lärm in den Straßen. Verstecktes Leben kriecht hervor aus allen Ritzen der gähnenden Stadt. Die verhängten Fenster bekommen Gesichter, zwischen dem Hupen und dumpfen Röhren benzingetriebener chromglitzernder Autos klappern stahlbeschlagene flinke Absätze feiner Lackschuhe im Rhythmus des dahineilenden Tages. Genüssliches Läuten·entspringt wieder den schneeweißen Porzellantassen, wenn blanke Löffel den wohlduftenden Kaffee umrühren und ein erfrischendes Zischen befreit sich, wenn Limonadenflaschen gekonnt von flinken Kellnern in Pinguindress aufgehebelt werden. Ein babylonisches Stimmenlabyrinth ist in die Straßen gewebt, deren Öffnungen in die vielen Straßencafés, Supermärkte, alte Museen, Boutiquen und überall dahinein münden, wo sich Menschen begegnen. Vielarmig erhebt die Stadt ihre unzähligen Instrumente zur bekannten Sinfonie. Ich liebe diese Stadt. Ich liebe sie, weil sie mich geboren hat und weil sie mich hier leben lässt. Ich liebe ihre belebten Straßen und Plätze mit den alten Palästen, ihre grünen Parks mit den funkelnden Wasserspielen. Und ich liebe ihre Menschen, die nach getaner Arbeit sich dem Müßiggang hingeben, um Reiterstandbilder stehen oder auf den Rändern der vielen Brunnen hocken. Es ist Sommer. Ich liebe diese Stadt und ihre Menschen auch weil Sommer ist. Ist es nicht köstlich zuzusehen, wenn luftige Kleider über dem noch heißen Pflaster wie ein zarter Hauch dahinschweben? Birgt das Bild nicht unendlichen Trost, wie leger Körper und Geist dem Sommer huldigen? Liegt in den Augen der vielen Menschen nicht ähnlicher Glanz, spiegeln sich nicht in allen dieselben Lichter, dieselben Scheiben der teuren Läden und die gleichen Freuden? Haben aber nicht alle auch unerfüllte Träume: die Taxifahrer in ihren gelben Autos, die Fensterputzer mit ihrem schwarzen Waschwasser, die flaumfedernen Mädchen mit den frechen Ausschnitten, die Colaverkäuferinnen in ihren kleinen Bretterbuden, die Bullen mit den freundlichen Gesichtern, die Kaffeetrinker unter den bunten Sonnenschirmen, die zum Verweilen einladen, die hübschen Jungs mit den feuchten Augen, die dicken Marktweiber mit den kräftigen Lungen und all die anderen ohne Namen? Ich liebe sie alle. Und nicht nur weil Sommer ist. Aber allein mit dir wandere ich gegen Abend hinaus ins weite Land, zu grünbelaubten Bäumen und duftenden Blüten, die sich in ihrer Farbenpracht einander den Rang ablaufen, zu dem Murmeln des flinken Baches, der sich freudig mit dem See verbrüdert, und zu stillen Wegen, die uns die Hast des Tages vergessen lassen. Wir gehen hinaus in eine uralte Natur, die jedes Jahr jung aus ihrem Schlaf erwacht, die morgens vor glattem Spiegel mit milchigem Dunst ihr müdes Gesicht cremt und mit übertriebenem Rouge schwärmerisch den Abend feiert. Gegen Abend betten wir unsere kecken Träume auf rosafarbene Wolken, setzen aus unzähligen bunten Schmetterlingen riesige Segel, legen die Ruder fest mit Kurs auf Irgendwo und schauen zu, wie sie, stolzen Schiffen gleich, die den Hafen verlassen, hinaus segeln aufs himmlische Meer. Meer ohne gefährliche Klippen, scharfzahnigen Riffen und geheimnisvollen Strudeln, die alles in eine nie zu entrinnende Tiefe ziehen; aber auch Meer ganz ohne Ufer. Kein Vater, kein Sohn, kein Heiliger Geist wird mit weit geöffneten Armen den Schiffen auf dem Wasser entgegengehen und sie erlösen von der unendlichen Irrfahrt. Gegen Abend sind wir allein mit uns und der Natur, dem Lärm entronnen in die Arme eines ländlichen Sommers, zu dem Spiel der Grillen und zu dem Turniertanzen mondsüchtiger Falter. Dürstend treten wir an die Quelle der Liebe, deren kristallener Strom unsere Zunge köstlicher netzt als feuriger Wein, deren Kühle uns in den Adern erregender prickelt als der erlesenste Sekt. Errötend hebt dir der junge Spatz mit leichter Hand das seidige Hemd. Lass es fallen und die Hose streife ab von den wilden Schenkeln und tanze mit mir nach des Abends märchenhaft klingenden Melodien. Werfe alles von dir und schwebe mit mir in seliger Höhe dahin, über Blumen und Gräser, über Berge und Täler unseren Träumen nach. Lasse fallen den Schleier gekaufter Farben, der meine Augen täuschen will, und zeige dich mir so wie du bist, rein und klar. Auch der Sommer verhüllt nicht seine wahre Schönheit. Dein Liebreiz gleicht ihm, der mit seinen tausend Farbtupfen unsere Sinne bezaubert, der mit Grillen und Nachtigallen uns wachen lässt, dem an Bäumen und auf Feldern Früchte wachsen und gedeihen, aus dessen Gesicht deine Jugend leuchtet, eine Jugend voller Hoffnung und Erfüllung, sie ist die Erneuerung des Lebens. Ich liebe den Sommer, weil er dein Gesicht trägt, weil er mit deiner Stimme singt, weil er so jung ist, wie du. Ich liebe seine Rosen mit ihren Dornen, seinen Hauch voller Zärtlichkeit, seine mütterliche Güte. Lass uns einander die Hände halten und nicht eher enden in unserem Tanz, bis das in eisigem Frost unsere Seelen erfrieren. Jetzt aber ist Sommer, ein Sommer voller Herrlichkeit, und du bist unter allen seine schönste Blume, deren Duft mich immer mehr berauscht, Charme des Sommers.

Rostock, Juni 1978
(05. Mai 2011)



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