Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Wie unser Ahorn verschwand


Vor langer, langer Zeit, die Sonne schien gerade durch ein Wolkenloch, da kam ein Ahorn in unsere kleine Stadt. Er ging geradenwegs zum Bürgermeister, klopfte an dessen Tür und wurde hineingerufen.
„Guten Tag, Herr Bürgermeister", sprach er ganz höflich. „Dieses Städtchen gefällt mir und ich würde mich hier sehr gern niederlassen."
„So, so", meinte der Bürgermeister, nachdem er den Gruß erwidert hatte, und klatschte sich dann in die Hände: „Sie möchten sich also bei uns niederlassen."
Weil der Bürgermeister und alle übrigen Einwohner des Städtchens Bäume sehr gern hatten, wurde der Ahorn eingeladen, sich den schönsten Platz im ganzen Städtchen auszusuchen und dort seine Wurzeln bis tief in die Erde einzugraben. Darüber freute sich der Ahorn riesig. Und seit der Zeit stand unser Ahorn, jedermann zur Freude, am Marktplatz, dicht bei dem alten Brunnen, bis er letzte Nacht plötzlich verschwand.
Das kam so: Dem Ahorn war nämlich zu Ohren gekommen, dass dort, wo er so viele Jahre seinen Schatten auf die runden Pflastersteine warf und in seinem Astwerk Generationen von Spatzen das Licht der Welt erblickt hatte, eine neue Straße gebaut werden soll und das alle Leute im Städtchen wollen, dass er von dort weg muß. Das betrübte ihn tief und er wurde sehr traurig. Er wusste von anderen Bäumen in anderen Städten, dass in solchen Fällen kurzer Prozess gemacht wird. Diese Motorsägen sollen sehr gefräßige Tiere sein, schoss es ihm durch den Kopf. Schon bei dem Gedanken, dass die vielen großen und kleinen Leute, die sonst immer so gut zu ihm waren, ihn zu Brennholz machen wollen, hätte ihm das Laub gelb werden können. Darum packte er seine Siebensachen zusammen und machte sich heimlich, als die Nacht am finstersten war, auf und davon. Er lief, was das Zeug hielt, und ward nicht mehr gesehen. Als am frühen Morgen die Arbeiter mit ihren weißen Helmen, den Schaufeln und Spaten und einem Kranauto zu seinem Platz kamen, um den geliebten Ahorn vorsichtig auszubuddeln, da fanden sie nur noch ein paar vergessene Ahornblätter und ein Loch in der Erde.
Die Arbeiter sahen sich alle ganz groß an, nahmen ihre Helme ab und gingen schweigend wieder fort. Eine Motorsäge hatten sie nicht mitgebracht.


Rostock, Aug. 1978



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