Spatzgeschichten
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Der Frosch mit der Brille
„Eigentlich brauchte ich ja eine Brille. So eine, wie sie die Menschentiere tragen, wenn sie auch nicht mehr richtig sehen können", sagte der Frosch zu sich selber.
Es war gerade mitten im Sommer, morgens um neun Uhr. Die Familie Storch, die wieder auf dem Trockenturm der Freiwilligen Feuerwehr Quartier bezogen hatte, war längst mit dem Frühstück fertig und er war wieder einmal glücklich davongekommen. Er war sich aber durchaus nicht sicher, ob er den Sommer, ohne Schaden zu nehmen, überstehen, ja nicht einmal, ob er ihr heutiges Abendbrot überleben würde.
Seine Augen waren ja schon immer nicht die besten gewesen und nun, da er in Jahren schon reichlich vorangeschritten war, wollten sie die grünen Fliegen nicht mehr von den schwarzen unterscheiden, geschweige denn, schon von Weitem einen hungrigen Storch erkennen. Grüne Fliegen waren seine Lieblingsspeise. Er konnte morgens welche essen, mittags und abends. Den ganzen lieben langen Tag immer nur grüne Fliegen. Sie hatten so einen eigenartig würzigen Geschmack, den er ganz besonders liebte. Und er wusste ja auch ganz genau, wo er sie am leichtesten fangen konnte, ohne sich dabei auch nur im Geringsten anzustrengen. Ja, wenn man das wusste, konnte man dick und fett dabei werden und das wurde er auch mit der Zeit.
„Ja aber, seitdem ich nicht mehr so richtig kucken kann, habe ich doch merklich abgenommen", stöhnte er und maß mit den Fingern seine schlanke Taille. Dabei sah er den Mistkäfer, der ihm gegenüber auf einem Blatt saß, so merkwürdig schief an und sagte dann zu ihm: „Könnte eigentlich mal wieder regnen!"
Der Mistkäfer nickte mit dem Kopf, woraufhin der Frosch sich anschickte, seinen wortkargen Gesprächspartner zu verschlingen. Er hatte ihn für eine große grüne Fliege gehalten und wunderte sich jetzt, warum das blöde Vieh im Hals so kratzt. Dem gleichen Irrtum fielen vorher schon eine kleine Schnecke, die er im Hinterhalt ganze zwei Stunden und dreizehn Minuten aufgelauert hatte, diverse Erbsen, die er in einem Garten gefunden hatte, ein klebriger Drops, eine Glasmurmel und viele ähnliche Dinge zum Opfer. Alles Dinge, die ihm geraume Zeit äußerst schwer im Magen lagen und seine Bewegungsfreiheit erheblich einschränkten.
So saß er jetzt mit über dem Bauch verschränkten Armen auf einem Baumstumpf, seinen Rücken an etwas aufragendem Holz gelehnt, auf dem ein desinteressierter Spatz hockte, und meditierte vor sich hin. Während er sich genüsslich von der Sonne bescheinen ließ, dachte er darüber nach, wie so eine Brille wohl zu beschaffen wäre.
Ab und an sprang er direkt von seinem erhöhten Platz aus in eine nahe Pfütze, um sein Äußeres gehörig feucht zu halten, denn eigentlich bekommt ihm Sonne gar nicht. Aber er war ja schon immer ein wenig anders als die anderen Frösche.
„Und überhaupt, für mich kommt nur eine mit großen Gläsern infrage", sprach er halblaut vor sich hin.
Der Marienkäfer, der gerade einen ausgedehnten Rundflug um den Baumstumpf machte, begriff davon natürlich kein einziges Wort, woraufhin sich in der näheren Umgebung mit Windeseile das Gerücht verbreitete, der Frosch vom Baumstumpf sei nun vollends übergeschnappt und er werde demnächst als Wetterfrosch in einem vornehmen Institut mit nur großen Gläsern angestellt und beziehe obendrein noch später eine ansehnliche Pension.
„Und außerdem müsste sie mir sehr gut stehen", dachte der Frosch und blickte dabei in seinen Taschenspiegel. „Und wo hat man je einen Frosch mit Brille gesehen?!" Er strich mit der Hand über seine Locken und träumte davon, wie schön doch die Welt durch eine Brille und wie schön er selber anzusehen wäre.
Er gab sich dem Traum von seiner eigenen Schönheit dermaßen hin, dass er darüber den eigentlichen Zweck der Brille ganz vergaß. Er sah sich schon, inmitten eines Harems auf einem Thron sitzend, eine bedeutsame Rede an sein Volk einstudierend, von allen Seiten mit den leckersten grünen Fliegen, die er dann ja nicht mehr selber zu fangen brauchte, verwöhnt und mit Durchlaucht oder Hochwohlgeboren angeredet zu werden.
Sein Traum führte ihn weg von seinem Baumstumpf in funkelnde Paläste mit hohen Türmen, auf deren Spitzen seine Fahnen im Winde flattern. Im ganzen Land würden ihm Lobpreisungen zuteil, die von seinen ruhmreichen Heldentaten berichten.
„Ja, ja", sagte er wieder zu sich·selbst: „Ich bin schon ein großer Mann", und dachte tatsächlich, es wäre schon soweit.
Unterdessen war der schöne Tag vergangen und der Abend senkte sich herab. Familie Storch flog aus, um sich mit einem guten Nachtmahl zu versehen. Vater Storch sah schon von Weitem unseren Frosch vor sich hin dösend auf dem Baumstumpf sitzen und kam vorsichtig näher, aber der Kleine rührte sich nicht. Dem Storch erschien die ganze Sache reichlich merkwürdig, denn selbst, als er direkt vor ihm stand, zeigte der Frosch keinerlei Anzeichen auf- und davon zuspringen. Er verdrehte vielmehr die Augen auf eine ganz eigentümliche Art und Weise. Als nun der Storch seinen Kopf nach hintenüber warf und zu klappern anfing, um seine Frau auf diesen komischen Kauz aufmerksam zu machen, sprang der·Frosch ganz plötzlich auf und salutierte. Er hatte das Geklapper für das Böllerschießen seiner Kanonen gehalten. Der Storch schnappte zu und um unseren Frosch wurde es endgültig finster.
Er schmeckte nicht besonders und war sehr trocken. Er war eben nur ein gewöhnlicher Frosch, der ein bisschen zu lange in der Sonne gesessen hatte, und der eigentlich eine Brille hätte tragen müssen.
Rostock, Aug. 1978