Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Klaus fährt zu seinen Eltern


Pfingsten, ein kirchliches Fest, wird von vielen Leuten nur deswegen herbeigesehnt, weil damit ein zusätzlicher freier Tag verbunden ist. Wenn eine Frau ihren Haushaltstag dranhängt, dann ist das beinahe wie Urlaub. In jenem Jahr, in dem Klaus diese Reise unternahm, fiel dieses Ereignis genau an die Stelle im Kalender, wo die zweiundzwanzigste und die dreiundzwanzigste Woche zusammenstießen. Der Zeitpunkt war nicht schlecht gewählt, denn es herrschte ausgesprochenes Hochsommerwetter. Der Wetterbericht war für circa zehn Tage im Voraus berechnet und passte auf einen sehr kleinen Zettel: Tagestemperaturen achtundzwanzig bis dreiunddreißig Grad, stellenweise Gewitter.
An die Temperaturen hatte sich das Wetter gehalten. Die Gewitter? Keine Ahnung, die waren immer woanders. War auch egal, solange noch Wasser aus der Leitung kam. Wie gesagt, Pfingsten stand vor der Tür und wollte rein gelassen werden. Klaus bekam zwar keinen Haushaltstag, wollte aber trotzdem das verlängerte Wochenende für eine Fahrt zu seinen Eltern nutzen. So machte er sich frohen Mutes daran, auf die Reise zu gehen.
Um keine Hoffnungen auf ein großes Reiseabenteuer zu wecken, sei gleich vorneweg klargestellt, dass sein Reiseziel lediglich ein kleines Nest namens Fürstenwerder war, das recht malerisch von zwei Seen eingekeilt am nordwestlichen Rand der Uckermark liegt. Die Stadtmauer des Ortes bietet drei Zugänge. Im Norden über Woldegk, im Süden über Feldberg, was sicher vielen ein Begriff ist, und zu guter Letzt im Osten über Prenzlau kommend, der zu Fürstenwerder gehörenden Kreisstadt. Als Garnisonsstadt war Prenzlau natürlich komfortabler zu erreichen, aber zu bereisen nicht empfehlenswert. Dann schon eher Fürstenwerder. Man durfte nur nicht von der verkehrten Seite kommen. Klaus verfolgte die Absicht, über Woldegk anzureisen. Das war die eine verkehrte Seite, die zweite wäre Feldberg gewesen. Fürstenwerder war allerdings nur dann schwierig zu erreichen, und das muss der Gerechtigkeit halber dazusagt werden, wenn man sich leichtsinnigerweise irgendeinem öffentlichen Verkehrsmittel auslieferte.
Aber kehren wir gemeinsam zurück zum Ausgangspunkt seiner Reise: Rostock. Die Stadt, die schon seit Längerem diesen Namen trägt, brauche ich wohl nicht näher zu beschreiben. Die meisten Leser werden sich erinnern, dass es zu Warnemünde gehört. Es ist sicher auch nicht erforderlich zu erwähnen, dass Klaus hier wohnte und arbeitete?
Mehrjährige Erfahrungen lehrten ihn, ein solch kompliziertes Unternehmen, wie es die Reise zu seinen Eltern zweifelsfrei darstellte, nur dann anzutreten, wenn zeitlich genügend Spielraum vorhanden ist. Also mehrere Tage. Wieder vorausgesetzt, man fährt nicht mit dem eigenen motorisierten Untersatz. Klaus verfüge natürlich nicht über einen derartigen Apparat, denn er war nur ein kleiner Angestellter.
Mangels Haushaltstag hatte er sich am Freitag vor Pfingsten den größten Teil seiner Arbeitszeit freigeben lassen. Bevor er aber abhaute, stellte er sich im Betrieb unter die Dusche. Er wollte nicht verschwitzt auf Reisen gehen. Draußen war die Hitze unerträglich, selbst in den Räumen war es unangenehm warm. Sein Körper war noch von oben bis unten mit duftendem Schaum bedeckt, als eine Kollegin um die Ecke schaute und fragte, ob sie irgendwie helfen könne. Nachdem Klaus das freundliche Angebot ängstlich ausgeschlagen hatte, sah er zu, den Betrieb so schnell als möglich zu verlassen. Das anfängliche Frischegefühl und der angenehme Duft verflüchtigten sich schon beim Anziehen der sauberen Klamotten, die er extra von zu Hause mitgebracht hatte. Und beim Gedanken an die angebotene Hilfe zeigten sich bereits die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. Als er dann ins Freie trat, traf ihn die Hitze wie eine geballte Faust. Er blinzelte in die Sonne, verwünschte ihre Hartnäckigkeit und machte sich auf den Weg zur Straßenbahn. Der war zwar nicht weit, aber bei jedem Schritt sickerte über seiner Wirbelsäule ein neuer Tropfen hervor, vereinigte sich mit den anderen und lief mit ihnen gemeinsam als kleines Rinnsal in Richtung Pofalte bergab. Da in der Straßenbahn alle klappbaren Fenster geöffnet waren, brachte der Fahrtwind etwas Erleichterung. Die Fahrt zum Hauptbahnhof hatte Klaus nur ein einziges Mal unterbrochen, und zwar um einen Haarschneider aufzusuchen. Er wollte nicht zu Pfingsten und so …
Obenherum erleichtert, aber mit reichlich Ecken versehen, gelangte er glücklich zum Hauptbahnhof, schlenderte zur Herweghstraße, ein schnellerer Gang war bei der Hitze nicht möglich, wo er auf Anhieb die richtige Bushaltestelle fand. Dort reihte sich Klaus pünktlich eine Stunde vor Abfahrt des Busses in die bereits postierten Koffer, Taschen und Beutel ein. Das heißt, er stellte seine Mitbringsel ordnungsgemäß hintenan und drückte sich dann an die Gartenmauer, um von dem überhängenden Laub ein wenig Schatten zu erhaschen. Dabei schreckte er einen verschlafenen Spatz auf, der auf einer der oberen Staketen im Schatten gesessen und vor sich hin gedöst hatte. Beim Auffliegen blätterte etwas weiße Farbe vom Holzzaun. Klaus traute seinen Augen nicht! Hatte der Vogel wirklich bunte Beine oder war ihm schon die Hitze zu Kopf gestiegen? Die kleine Gepäckparade vor ihm war einer Gruppe Mädchen zuzuordnen, die sich offensichtlich neben ihrer Freizeit als Studentinnen betätigten und ebenfalls eine Heimreise anzutreten gedachten. Nach ihm kamen noch drei, vier Mädchen. Deren genaue Anzahl ließ sich nicht genauer ermitteln, denn ihm flirrte alles vor Augen und die eine waberte in die andere über. Beiden Gruppen begrüßten sich mit großem Hallo und verschmolzen miteinander.
„Na, habt ihr auch früher Schluss gehabt?“, war die Frage, die von beiden Seiten gleichzeitig gestellt und bejaht wurde. Das neue Gepäck wurde nicht, wie manch einer vielleicht glauben könnte, am Ende der Gepäckschlange abgestellt, also hinter der Reisetasche von Klaus, sondern vorne an der Spitze. Innerlich war Klaus sehr empört über diese Dreistigkeit. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich seine Siebensachen zu greifen und auch an die Spitze der stillen Prozession zu bringen, aber darin erschöpfte sich schon seine ganze Kraft. Er nahm davon Abstand, weil in einem klaren Moment und nach reiflicher Überlegung die Angst vor handgreiflichen Auseinandersetzungen gesiegt hatte, die sich leicht hätten anschließen können, denn das schwache Geschlecht war nicht nur zahlenmäßig stark vertreten. Sein Sitzplatz war ohnehin nicht gefährdet, denn es zeichnete sich ab, dass sich alle weiteren Mitreisenden, die nach und nach heran strömten, pflichtgemäß verhielten.
Die Luft war unerträglich. Selbst die Mauer verströmte Wärme. Und die Zeit schien mit einem Gummiband irgendwo festgepinnt zu sein. Klaus zählte derweil die vorbei fahrenden Autos und erwehrte sich der Fliegen, die seinen Schweiß auf der Stirn unwiderstehlich fanden. Als dann endlich die Schlange unter Qualen ihr gewohntes Ausmaß erreicht hatte, fuhr pünktlich zwei Minuten vor Abfahrt, Abfahrt war um dreizehn Uhr, aus einer anderen Seitenstraße ein viel zu kleiner Bus vor. Bei dessen Anblick lebten in den Geplagten nostalgische Bilder auf. Klaus konnte sich noch genau an seine Lehrzeit erinnern, damals war dieser Bustyp modern gewesen. Die zuletzt gekommenen Leute fingen an zu jammern, denn ihr Zurückbleiben war vorauszusehen. Erstaunlicherweise war der Bus innen wesentlich größer als er von draußen den Anschein erweckte, denn es wurden alle mitgenommen. Niemand musste ein von vornherein versautes Pfingstfest antreten. Wahrscheinlich wurde derselbe Trick angewandt, dessen man sich auch in den Animationsfilmen bedient, denn in denen ist das Innen grundsätzlich größer als das Draußen. Nachdem alle beim Fahrer bezahlt hatten, schloss er die Tür und los ging die Fahrt.
Fast alle Fahrgäste hatten einen Sitzplatz ergattert, sodass nur wenige im Gang zwischen dem Gepäck hingen. Weil sich der Bus während des Wartens gut aufgeheizt hatte, hechelten schon kurz nach der Abfahrt alle nach Frischluft. Leider ließen sich von den winzigen Schiebefenstern nur ein halbes Dutzend öffnen. Erdreistete sich einer der stehenden Herren eine der beiden Dachluken aufzuklappen, beschwerten sich die Frauen über Zugluft und der Fahrer brüllte, dass nur er die Klappen zu bedienen hätte. Mit frischer Luft, wenn man die draußen überhaupt so bezeichnen konnte, sah es mau aus. Jeder Einzelne schwitzte so gut er konnte und bei dem Geruckel war es nicht zu vermeiden, dass die Sitzenden auch noch mit der gefürchteten Rückenlehne der kunstlederbezogenen Sitze in Berührung kamen. In der Beziehung waren die an den Haltestangen Hängenden besser dran. Aber ansonsten lag alles im Normalbereich. Klaus bedauerte schmerzlich, nicht ausreichend zu trinken eingepackt zu haben. Das hieß, er hatte überhaupt nichts dabei. Und das es an nicht einer Haltestelle einen Kiosk mit Getränken gab, ist wohl selbstverständlich. Das stimmte nicht ganz, in Malchin sah er eine Oma aus dem Bus eine Flasche Kondensmilch trinken. Es gab also doch etwas, sogar alkoholfrei! Aber klebrige Kondensmilch war nicht so sein Fall.
Bis Neubrandenburg verlief die Fahrt ruhig: kein Toter, kein Verletzter. In der Viertorestadt stieg dann Ärger ein. Neben den weniger auffälligen Zusteigern hatte sich eine junge Mutti mit Kleinkind in den Bus gezwängt, welches nach der Abfahrt prompt zu heulen anfing, weil für Mutter mit Kind kein Sitzplatz zur Verfügung stand. Das wohlwollende Angebot einer sitzenden Frau, den Kleinen auf den Schoß zu nehmen, wurde von dem Kind kategorisch und mit verstärktem Gejaule abgelehnt. Das Kind, ein sehr garstiger Junge, saß fortan zwischen den Beinen seiner Mutter auf deren Tasche. Hier versuchte es, unter Aufbietung aller Kräfte seiner Stimmbänder und Arme, der Mutter den Rock vom Leibe zu zerren. Durch das ununterbrochene und die Ohren belästigende Gebrüll angestachelt, begann sich unter den Reisenden eine Diskussion mit gefährlicher Tendenz zu entwickeln. Die Stehenden und die Sitzenden spalteten sich in zwei Parteien auf, die gleichermaßen daran beteiligt waren. Gegenstand dieser zur Revolte neigenden Unruhe war die einhellige Meinung, dass man der Mutter samt dem Kinde schnellstens einen Platz zur Verfügung stellen müsse, wenn das Ärgste verhindert werden solle. Die Gemüter entzündeten sich der Reihe nach und brannten lichterloh. Nur, wer von den Sitzenden deswegen aufstehen sollte, darüber konnte lange Zeit keine Einigung erzielt werden. Jedenfalls solange nicht, bis allen fast gleichzeitig auffiel, dass sich einer nicht an dieser heißen Debatte beteiligte, und das war sein Fehler. Derjenige welcher war leider Gottes der geschwächte Klaus, der zusammengesunken auf der hintersten Bank saß und sich bis dahin in einer trügerischen Sicherheit gewähnt hatte. Aller Augen starrten gebannt auf das auserwählte Opfer. Das aber rührte sich freiwillig nicht. Daraufhin wurde er höflich aber sehr bestimmt gefragt, ob er eventuell bereit wäre, den Bedürftigen seinen Platz anzubieten. Der wölfische Ausdruck in den Gesichtern ließ aber keinen Widerspruch zu. Unter diesen Umständen wäre es lebensgefährlich gewesen, einen Streit vom Zaune zu brechen, obwohl Klaus nach wie vor der Meinung war, dass da Jüngere hätten begeistert aufspringen müssen. Seine Höflichkeit (in Wahrheit war es die blanke Furcht) gebot natürlich, diesem Vorschlag sofort und überaus freudig zuzustimmen. Bis auf einen, nämlich Klaus, waren alle mit dieser Lösung zufrieden und die allgemeine Lethargie konnte wieder die Oberhand gewinnen. Die restlichen Kilometer bis Woldegk war dann Ruhe im Schiff. Nun hing auch er im Bus wie ein Schinken im Rauch, von dem das Salz troff. Wobei kein Schinken dieser Welt mit ihm getauscht hätte, denn die konnten im Rauch stille hängen und in sanfter Ruhe reifen. Einen Vorteil hatte die Sache wenigstens: Das Wasser konnte nun ungehindert abfließen, und nicht nur von seinem Rücken. Hin und wieder blickte er zu dem Jungen hinüber, der ihn jedes Mal heimtückisch anlächelte. Aber er blieb dabei, das Kind war verstockt.
Auf diese Art und Weise glücklich auf dem Marktplatz in Woldegk angekommen, entstieg Klaus als Einziger das antike Gefährt und begab sich schnurstracks zu einer Bretterbude, wo er einen Fahrschein für die letzten acht Kilometer bis Fürstenwerder zu erwerben gedachte. Vor ihm stand ein schmalschulteriger Mann älteren Kalibers am Schalter, der bei dieser Gluthitze eine schwarze Kunstlederjacke anhatte. Wahrscheinlich trug er auch eine lange Unterhose, denn auf dem Lande war alles möglich. Zufällig äußerte der das gleiche Anliegen. So wurde Klaus aus allernächster Nähe Zeuge der knappen und niederschmetternden Erklärung: „Die Straße ist dicht. Es fährt kein Bus!“ Aber ansonsten machte die Kollegin hinter der Glasscheibe einen sehr netten Eindruck. Diese wenigen Worte veranlassten ihn spontan, der Glasscheibe den Rücken zu kehren. Und außerdem wollte er den umstehenden Leuten seinen aparten Duft ersparen, den er leider nicht im Bus hatte zurücklassen können. Klaus müffelte nicht nur, es klebte auch sehr unangenehm im Schritt. Nachdem er den Schock ob dieser Auskunft überwunden und geistig einigermaßen wiederhergestellt war, suchte er vorübergehend den nächstbesten Schatten auf, wo Klaus der schönen Idee verfiel, auf ein Taxi warten zu wollen. Vielleicht konnte sich ein kleines Taxi da durchzwängen, dachte er. Den Taxistand fand er gleich um die Ecke, von einem Taxi selbst war vorerst nichts zu sehen. Dass eines auf ihn gewartet und sich aufdrängelt hätte, hatte er bescheidenerweise nicht erwartet. Aber als nach einer halben Stunde intensiver Sonneneinstrahlung noch immer keines in Sicht kam, wurde die Sache doch echt bedenklich, zumal der Schatten, in dem er anfangs stand, selber auf Schattensuche gegangen war. So ein Schatten war auch nicht mehr das, was er einmal war!
Bis Fürstenwerder lagen nur noch lumpige acht Kilometerchen vor ihm, wenn die Straße benutzbar war. Auf halber Strecke würde er Göhren passieren. Jedem ist sofort klar, dass es sich nicht um das legendäre Ostseebad handeln kann. Das erklärt sich schon aus der geografischen Lage zwischen Woldegk und Fürstenwerder. Hier ist von Ostsee weit und breit nichts zu sehen. Selbst bei diesen Temperaturen nicht, die manchem wohl die Sinne verwirren mögen. Wenn sie nun aber doch plötzlich da wäre, so richtig real, auch daran würden sich die Leute gewöhnen. Und ein bisschen mehr Leben könnte der Gegend nicht schaden. Wobei an der Gegend selber, die Natur und so, eigentlich nichts auszusetzen wäre, außer das eben die Ostsee fehlt. Aber dafür findet man hin und wieder einen hübsch gelegenen See, wenn es hochkommt und man Glück hat, sogar zwei nebeneinander. Wie bei Fürstenwerder zum Beispiel. Eigentlich kann sich dieses Fleckchen Erde ohne Ostsee glücklicher schätzen: Ihr bleibt der Gestank von Sonnenöl und Kacke erspart.
Klaus drückte sich noch immer Halt suchend an die warme Hauswand beim Taxistand, von wo aus er bequem die große Uhr an der gegenüberstehenden Post beobachten konnte. Gerade als der große Zeiger mit einem schwungvollen Satz auf halb fünf hopste, entschloss er sich wassertriefend, zu Fuß den Kampf mit den acht Kilometern vor und der glühenden Sonne über sich aufzunehmen. Als er noch jung und knusprig war, wohnten zwei Tanten hier in Woldegk. Damals war die Entfernung, teils mit dem Rad, teils zu Fuß zurückgelegt, ein Klacks. Er schnappte sein Gepäck und machte sich in Erwartung der angenehmen Landschaft tapfer auf den Weg. Es galt, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. So überquerte er den großzügig bemessenen Markt, um sich dann ein letztes Mal umzusehen. Nicht einmal jetzt, wo er den ersten Platz unter den Wartenden aufgegeben hatte, war ein Taxi in Sicht. Die Straße, in die er dann einbog, führte ihn an wenigen Häusern und meist gut gepflegten Gärten vorbei, aus denen ihm die herrlichsten Pfingstrosen entgegen blühten, seinem ersten Etappenziel entgegen: dem Ortsausgangsschild. Obwohl Klaus in dieser Stadt das Licht der DDR erblickt und die ersten Lebensjahre verbracht hatte, verband ihn nichts weiter mit Woldegk als ein paar einzelne Besteckteile mit den Initialen des hiesigen Stadtkrankenhauses, die er von seiner Oma geerbt hatte.
Mit seinem Gepäck behängt und mit wachsender Spannung erstieg er die erste Steigung. Zu beiden Seiten der Chaussee, die sich im Laufe der Jahre zu einer Reihe von Bodenwellen, Senken und Frostaufbrüchen verwandelt hatte, eine Metamorphose, die man vielerorts beobachten konnte, lagen die mit unterschiedlichen Gehölzen bepflanzten Felder einer Baumschule. Danach ging es wieder bergab. Unten im Tal schlängelte sich ein kleiner Bach durch die Wiesen. Von Weitem schon sah er den Katzenbuckel, den die Straße darüber machte. Ganz in der Nähe umkreisten mehrere Männer mit Schaufeln und Bierflaschen in den Händen eine Baracke auf Rädern und rüsten sich zum Feierabend. Das musste der geheimnisvolle Ort sein, der die Busse daran hinderte, ihren Pflichten nachzukommen. Noch ehe Klaus diesen Straßenabschnitt erreicht hatte, mutmaßte er den Grund der Sperrung. Der Katzenbuckel war wahrscheinlich mit den Jahren lahm geworden und bedurfte jetzt einer totalen Erneuerung oder wenigstens irgendwelchen stützenden Einfällen der Ingenieure. Die Baustelle passierend fand er seine Ahnung bestätigt. Natürlich musste niemand mehr bei seiner Arbeit mit beiden Beinen im Wasser stehen, wenn es sich vermeiden ließ, ausgenommen er arbeitete als Sportangler oder in irgendeiner Werkküche. Aus diesem Grund wurde dem Bach in zehn Meter Entfernung ein Ausweichbett gebuddelt. Damit kein Unbefugter dort hineinfällt, war dieser im Bereich der Straße mit dicken Betonplatten abgedeckt. Man muss sich das wie beim Bau eines Staudamms vorstellen, da wird auch meistens der Fluss umgeleitet. Eben nur schneller. Im nächsten Jahr zu Pfingsten wird sicher der Bus wieder fahren, dachte Klaus. Was ihn allerdings zu dieser Hoffnung berechtigte, wusste er nicht.
Eine tropfnasse Spur auf dem Asphalt hinterlassend, quälte er sich die Chaussee entlang. Wegen des Hindernisses war zwar erwartungsgemäß wenig Verkehr, aber von den Fahrzeugen, die dennoch unterwegs waren, zeigte sich keines gefällig, selbst die Sonne lachte sich ins Fäustchen. Äußerlich triefend war er innerlich völlig ausgedörrt, wie ein alter knorriger Baum, der einen Regenhusch abbekommen hatte. Seit mittags hatte er keinerlei Flüssigkeit zu sich genommen. In Woldegk war auch nichts zu kriegen gewesen, denn die Geschäfte waren geschlossen und außerdem feierte man dort gerade den Kindertag. Der Bach, den Klaus gerade hinter sich zurückließ, hatte seinen Durst noch gesteigert. Sein Plätschern beschwor das Bild eines großen Glases herauf, in das kühles, prickelndes Wasser hineingegossen wurde. Dieses Glas hatte zwei Beine, mit denen es um Klaus herum lief, und einen Mund, der unentwegt höhnisch lachte. Immer wenn Klaus danach greifen wollte, um daraus zu trinken, verdampfte es. In Kindertagen hätte er aus dem Bach trinken dürfen, ohne gleich einen grässlichen Tod befürchten zu müssen. Aber die Zeiten waren lange vorbei. Jetzt gab es das Landeskulturgesetz, das unter Androhung empfindlicher Strafen solch ein leichtsinniges Handeln verbot. Die Chausseebäume, die in regelmäßigen Abständen zu beiden Seiten standen, spendeten etwas Schatten, in dem es sich aber auch nicht angenehmer wandern ließ. Die Luft stand still wie in einem Einweckglas. Kein Blatt machte sich die Mühe, hin und her zu wippen, kein Grashalm unternahm den Versuch, sich auch nur einen einzigen Millimeter zur Seite zu biegen. Zäh und schwer lag die Luft auf der Straße. Nur mit allergrößter Kraftanstrengung konnte er sich hindurchschieben. Aus allen Richtungen war aufgewecktes Gezwitscher zu vernehmen. Den vielen kleinen Sängern schien die Hitze nichts anhaben zu können. Sie hatten ein kühlendes Plätzchen gefunden, denn viel Raum beanspruchten sie nicht. Wurde es ihnen dennoch unterm Schwanz zu heiß, flogen sie in den Wald, der inzwischen bis an die linke Straßenseite vorgedrungen war, und erfrischten sich dort in angenehmerer Luft.
Als der Wald wieder vor den Feldern zurückwich, ging es in eine Linkskurve und wieder einen Berg hoch. Berge und immer wieder diese blöden Berge! Was hatten die eigentlich im Flachland zu suchen? Ein paar davon hatte Klaus noch vor sich. Im Stillen hoffte er noch immer, dass von hinten ein Auto kommen würde, anhielte und ihn mitnähme. Damit hatte er aber kein Glück. Warum auch? Hatte noch nie Glück damit gehabt! Von vorn kam ab und an ein Fahrzeug, aber was nutzte ihm das, er wollte ja nicht wieder nach Woldegk zurück. Dann endlich war hinter ihm ein sich näherndes Auto zu hören. Sich umwendend musste er leider schon von Weitem feststellen, dass es sich dabei um einen ausländischen Wagen handelte, der noch dazu mit zwei Frauen besetzt war. Und da wusste man ja nie … Klaus wollte rasch hinter einen Baum springen, ihm fehlte aber die Kraft dazu. Zum Glück hatten sie nicht angehalten. Er schaffte es, auch aus eigener Kraft den Berg hinunter und nach Göhren hinein zu rollen. Aus dem Dorf kam ihm ein Ungetüm von Lkw entgegen und löste den Rest der Dorfstraße in eine riesige Staubwolke auf. Nachdem Klaus in die Wolke eingetaucht war, begann seine verschwitzte Haut zu jucken und die Augen wie Feuer zu brennen. Seitdem die Felder per Flugzeug gedüngt wurden, war der einfache Straßenstaub auch nur noch mit Vorsicht zu genießen. Es dauerte eine Weile, bis er sich freigehustet und wieder klare Sicht hatte. Die an der Dorfstraße liegenden Gehöfte lagen wie verlassen in der Sonnenhitze. Es herrschte unheimliche Stille. Nur ein abgetakelter Althahn beaufsichtigte ein paar herumlungernde Hühner, ansonsten schien alles Leben ausgestorben zu sein. Der Dünger hatte fürchterlich zugeschlagen. Einsam und verlassen stand in einer Ecke ein verrostetes Eisenrohr, an dem oben ein gelbes H befestigt war, das auf eine öffentliche Haltestelle hindeuten wollte. In ihm rief es sofort eine entsprechende Erinnerung wach. Am Rohr war in Augenhöhe ein kleines Schild befestigt, auf dem sich eigentlich ein Fahrplan hätte befinden sollen. Sollte wahrscheinlich heißen: kein Fahrplan - kein Bus! Auf dem H stand ein Spatz und schaute mitleidig auf den kaputten Wanderer. Klaus beachtete in anfangs nicht, aber dann fielen ihm die bunten Beine auf. Es sah aus, als hätte der Spatz Strümpfe an. Rechts einen grünen und links einen blauen. Verzweifelt hielt sich Klaus am Rohr fest. Er musste unbedingt etwas trinken, bevor es zu spät war. Belustigt flatterte der Vogel davon. Obwohl die Straße nach Fürstenwerder hier links abbog, wendete er sich scharf nach rechts. Ohne Aussicht auf Erfolg wollte er die Dorfkaschemme aufsuchen. Niemand wird sich seine Überraschung vorstellen können, die gastliche Stätte tatsächlich geöffnet vorzufinden. Drinnen wurde alles angepriesen, was das Herz eines armen Wanderers zum Lachen bringt. Die wenigen Gäste, die es lebend hierher geschafft hatten, taten ebenso erstaunt, als sie das Gespenst hereinschlurfen sahen. Den Grund für ihre verdutzten Gesichter vermochte er allerdings nicht zu erraten. Dessen ungeachtet und aus Höflichkeit tupfte er sich mit dem Taschentuch die Schweißtropfen von der Nasenspitze. Mit jedem Glas Fassbrause, das Klaus begierig in sich hineinschüttete, kehrte ein neuer Lebensgeist in Klaus zurück.
Kaum hatte er das freundliche Lokal mit neuem Mut verlassen und war zwanzig Meter gegangen, fuhr ein Engel auf einem Moped an ihm vorbei. Der hielt an und lud ihn ein, bis Fürstenwerder mitzufahren. Das Wesen hatte ihn trotz seines desolaten Zustandes erkannt, es konnte also nur ein Engel gewesen sein. Warum allerdings ein Engel auf ein schäbiges Moped angewiesen war, blieb ihm schleierhaft. Die Reisetasche zwischen ihnen, brausten sie die restlichen vier Kilometer munter über Berg und Tal. Unterwegs überholten sie noch zwei Wandernde. Die armen Teufel, dachte Klaus. Abends halb sieben kam er endlich bei seinen Eltern an. Die Freude über das Wiedersehen mit dem vermisst geglaubten Sohn ließ sie verständlicherweise über vieles hinwegsehen, als Nächstes aber steckte ihn seine Mutter in die Wanne.
Die wenigen Tage seines Aufenthaltes in Fürstenwerder reichten gerade hin, ihn soweit aufzupäppeln, dass er für die Rückreise gerüstet war. Wie es ihm gelang, wieder nach Rostock zurückzukehren, soll dem Leser zwar nicht vorenthalten, aber an anderer Stelle zum Besten geben werden, denn auch daraus kann er heilsame Erfahrungen schöpfen. Wenn er aber nicht darauf warten will oder kann, mag er von hier aus rückwärts lesen.


Rostock, Juli 1979



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