Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Spatzgeschichten

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Ein verregneter Sonntag


Aus schwarzem, genarbtem Leder ist das Schlüsseletui, das mich den ganzen Tag hindurch und überallhin begleitet. Ängstlich verstecken sich darin die vielen Schlüssel: manche etwas größer, manche etwas kleiner, die meisten aus hartem Stahl. Alle klammern sich Hilfe suchend an den blanken Ring. Er hält sie zusammen an guten und an schlechten Tagen, jahrein, jahraus. Stolz sind sie, die Schlüssel, die größeren auf ihren weise erscheinenden Bart, die kleineren auf die vielen Zacken und Kerben, die sie wie eine Krone tragen. Und jeder einzelne Schlüssel ist etwas Besonderes, eine kleine Persönlichkeit. Mit dem einen öffne ich das Haus, mit einem anderen das große Zimmer, der nächste passt in dies Schloss und wieder ein anderer in jenes. So schließe ich mein Haus für mich auf und für meine Freunde. Für meine Feinde bleibt es verschlossen. Dieser hier, wenn auch unscheinbar, kennt alle meine Geheimnisse. Er bewacht meine Vergangenheit und bewahrt alle meine Träume, heute schon und für die Zukunft, Erinnerungen an Vergangenes: Schöne Kindheit, die Jünglingszeit schon begierig, wechselhaft die Mannesjahre! Da sind Briefe: oft gelesene, nicht immer verstandene, Sonnenschein verheißende und enttäuschende, lachende und weinende, ausführliche und knappe, viele liebend, manche flüchtig geschrieben, jeder erzählt eine andere Geschichte. Da sind Adressen: von Leuten, die ich nie gesehen, von Freunden, die heute noch schreiben oder die noch nie geschrieben, von Tagbekanntschaften und Nachtbegegnungen, von Bettgeschichten, die ich schnell vergaß oder von denen ich heute noch träume, und von Menschen, die ich einst geliebt. Und da sind auch viele Fotos: vielmal angeschaute, alte mit umgeknickten Ecken und neue mit sauber geschnittenen Rändern, wohlbehütete und oft gezeigte, solche, die zum Lachen zwingen und andere, die die Augen verwässern, lieb gewonnene und solche, die ich missen könnte. Ja, auch Träume werden hier aufbewahrt, wenn ich sie auch sonst schlecht verschließen kann. Es sind dies die bereits Geträumten. Geträumt in unruhigen Nächten, wo der Schlaf nicht Süße, sondern Folter brachte, an lauen Abenden, wo der Honigmond auf die Blumenwiesen tropfte, an rauschenden Tagen, wenn mir der Kopf zu schwer auf den Schultern lastete, und in himmlischer Umarmung des Liebenden. Träume, sie begeistern uns für eine Sache, beseelen uns mit Sehnsucht und Verlangen, lassen uns mit Flügeln bewachsen durch die weiten Lüfte segeln zu immer ferneren Zielen. Aber auch sie werden zu Erinnerungen, wenn wir uns mit den Tatsachen abgefunden haben. Erinnerungen an nicht Gewesenes, an vergeudeten Möglichkeiten. Aber ein Schlüssel fehlt mir unter den vielen: der Schlüssel zu deinem Herzen.
Durch die nassen Fensterscheiben sieht mich der graue Tag an, schickt trübes Licht auf meinen Tisch. Unordentlich liegen die beschriebenen Blätter darauf verstreut. Buchstaben fassen sich bei den Händen und tanzen ihren Reigen über die Zeilen, schwanken mal nach rechts und dann nach links. Die Ziffern auf dem Telefon schlafen im Dämmerlicht. Ihr Kreis wird dunkler und dunkler. Kein Anruf wird ihre Ruhe stören. Wie von Schmerzen gequält krümmt sich der Hörer über den Apparat, gefesselt wie ein Hund an der Kette. Draußen tropft der Regen von den Laternen. Der Wind spielt mit ihrer losen Verglasung und treibt etwas höher die grauen Wolken über die Stadt. Ein nasser Spatz drückt sich draußen schutzsuchend in die rechte Fensterecke. Solche Tage machen mich müde, zermürben den Geist. Das Denken wird schwer. Wie Blei liegt das Grau auf meinem Gemüt. Eine einsame Fliege verkriecht sich im welken Blattwerk der auf dem Fensterbrett stehenden Blumen. Die werde ich gießen müssen.
Jetzt aber will ich nur an dich denken, wenn auch der Kopf mir davon schmerzen wird. Ich hab es oft getan, dachte an deine Worte, dein Lachen, an deine Augen, mit denen du sprechen konntest, an deinen zärtlichen Mund. Unerträglicher wird die Sehnsucht mit jedem Tag, den du fortbleibst, immer drückender die Ungewissheit. Selbst auf fruchtbarster Erde wird das Korn nicht reifen, wenn man ihm die Sonne nimmt. So quält mich deine Abwesenheit. Ich brauch dich, um leben zu können. Aber ich habe Vertrauen.
Was weiß schon draußen die Welt davon! Sie ist viel zu groß, zu riesig, um mich zu kennen, zu grau, um mich zu verstehen. Was wissen denn schon die Menschen da draußen, die mit hochgeschlagenem Kragen vorbeieilen. Sie wissen nicht, dass ich hier wohne, dass ich ihnen vom Fenster aus zusehen kann, wenn ich will. Sie wissen nicht, dass ich hier sitze und warte, nichts von meinen Gefühlen. Sicher, auch sie müssen schwere Gedanken mit sich herumtragen, die sie nirgends abladen können, denn dafür gibt es keine Müllkippen. Das wäre nicht schlecht: Müllkippen für schwere Gedanken. Man könnte sie dort abkippen, wie irgendwelchen Sperrmüll, und seinen Weg erleichtert fortsetzen. Sie kennen mich nicht, genauso wenig, wie ich sie kenne.
Ewig dieser Regen! Man müsste verbieten, dass es tagsüber regnet. Man müsste überhaupt alles Grau verbieten. Ich hasse das Grau. Ich stelle mir vor, du sitzt mir jetzt gegenüber dort im Sessel. Du liest ein Buch. Du brauchst gar keine große Konversation mit·mir zu führen, ließ nur ruhig dein Buch. Mir genügt es jetzt, wenn ich dich anschauen darf, mich in dein Gesicht zu vertiefen, es immer und immer wieder neu zu entdecken. Ab und zu musst du natürlich aufschauen, damit ich in deine Augen blicken kann. Ich streich dir dann die Locken von der Stirn und bin glücklich. Es bedarf nicht immer Worte, um glücklich zu sein. Mag meinetwegen der Himmel auf die Erde fallen, mich kümmert es nicht, solange du nur bei mir bist.
Die Bücher in den Regalen schreien mich an, die Bilder an den Wänden schwärzen sich, alles um mich her verliert seine Form. Dein Sessel ist leer. Wo bist du, wo? Die Wände scheinen näher zu rücken. Die Welt rattert lauthals die Straße entlang. Wasser spritzt aus verschwommenen Pfützen. Irgendwo da draußen stürmt das Meer. Irgendwo da draußen rauschen Bäume im Wind. Mich fröstelt. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Scheinbar unendliche Weiten tun sich vor mir auf. Sanfte Hänge wechseln einander ab. Kräftiges Grün bewächst die Rundungen, die einem schlafenden Körper gleichen, der ausgestreckt in der wärmenden Sonne ruht. Der Wind fächelt erfrischend über die Hügel. Die Gräser, Kräuter und Blumen wiegen sich nach seinem Rhythmus. Die Vögel scheinen am Himmel angeklebt zu sein. Ihre Lieder erfreuen die grüne Eidechse, die auf einem Stein ein Plätzchen für sich gefunden hat, wo sie ungestört die Wärme genießen kann. Auf jenem Hügel, der dem Übergang zwischen Hüfte und Schenkel ähnelt, stehen ein paar vergessene Tannen. Leise flüstern sie mir ihre Geheimnisse ins Ohr. Weit hinter den grasbewachsenen Hügeln ragen felsige Berge aus dem Grund. Gewaltig schauen sie auf die kleine Welt zu ihren Füßen nieder. Ihr steiler Anstieg ist unten mit riesigen Nadelbäumen bestanden. Alt und ehrwürdig sehen sie aus mit dem Moosbewuchs, der um Stämme und Äste wuchert und an den Bart eines Greises erinnert. Zwischen ihren Wipfeln, die nie stillstehen können, schimmern die weißen Häupter der Berge hindurch. Von den Graten eingekeilt zwängen sich die Gletscher unermüdlich zu Tal. Unter ihnen plätschert lustig das Schmelzwasser. In kleinen Wasserfällen stürzt es sich kopfüber in das große Abenteuer. Wundersames wird es auf seiner langen Reise sehen und erleben. In ihm werden sich viele Fische tummeln, es wird Schiffe tragen und sich ins Meer ergießen. Vielleicht werde ich ihm eines Tages begegnen.
Das Telefon holt mich zurück. Erwartungsvoll nehme ich den Hörer ans Ohr und melde mich. Ich bekomme keine Antwort.
Draußen hat längst die Dämmerung den hässlichen Tag vertrieben und verspricht eine scheußliche Nacht. Die Laterne an der Straße wirft unverschämt ihr gelbes Licht in mein Zimmer. Schatten spielen an den Wänden. Es hat aufgehört zu regnen. Zum x-ten Male gehe ich ans Fenster und schau auf die Straße. Menschenleer liegt sie da. Niemand kommt auf ihr daher, um an meiner Tür zu läuten, um eingelassen zu werden, um Glück und Liebe ins Zimmer und in mein Herz zu bringen.
Dein Sessel bleibt leer. Warum quälst du mich so? Wofür strafst du mich? Warum lässt du mich hundertmal hoffnungsvoll zum Fenster gehen und ebenso oft enttäuscht zurückkehren? Habe ich es dir denn nicht gesagt, dass ich dich liebe? Weißt du denn nicht, dass ich hundert Tode sterbe, wenn du nicht wieder kommst? Dein Bild strahlt keine Wärme aus, erwidert keine liebkosende Berührung.
Ein Druck auf den roten Knopf und irgendwelche Musik erfüllt leise den Raum. Ich setze mich zurück in meinen Sessel, schließe wieder die Augen und lass den Kopf nach hinten sinken. Schlafen will ich. Aber ich werde noch aufbleiben, für alle Fälle!



Rostock, Juli 1979
(11. Mai 2011)



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