Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Jeden Sommer eine neue Liebe


1

Die Luft ist glasklar. Der Wind, der von See her kommt und kurze dunkelgrüne Wellen vor sich hertreibt, bricht gegen die niedrige Steilküste und schwingt sich an ihr hinauf in die Höhe. Hier, nur ein paar Schritte vom Rand entfernt, spürt man von seiner Kühle nichts, denn er fällt erst weiter hinten in den dichten Gestrüppstreifen ein. Weit draußen, kurz unter dem Horizont, liegen die wartenden Schiffe auf Reede. Wo sie sonst in einem milchigen Dunstschleier dem Auge verborgen bleiben, da werden sie heute vom Sonnenlicht überflutet. Aus dieser Entfernung betrachtet, sehen sie chic aus, die vielen Kolosse aus Stahl: freundlich leuchten ihre Farben auf dem Wasser. Von rostigen Narben, eingefangen auf allen Meeren, keine Spur. Geduldig warten die schwangeren Leiber auf die Stunde, wo sie im Hafen ihre schwere Last gebären können. Dort werden sich ihnen dann stählerne Geburtshelfer, riesigen Giraffen gleich, entgegen recken und ans Tageslicht hieven, was in ihren Bäuchen steckt. Jetzt aber kümmern sich allein die ungezählten Möwen um sie.
Die Sonne brennt auf das steinige Ufer. Der kühle Wind mag aber schuld daran sei, dass nur wenige Menschen den schmalen Strand beleben.

2

Die Szene war gut gespielt, die ich mir anhören musste, als ich nach drei Wochen Urlaub zurückkam. Hatte nicht erwartet, dass drei Wochen so viel verändern würden. Aber verändern kann ja schon ein Tag, eine Stunde. Es braucht mitunter nicht lange Zeit dazu, Säulen stürzen und die Erde sich öffnen zu lassen. Eine kurze Erschütterung und alles ist vorbei. Gewiss, drei Wochen sind eine lange Zeit. Eigentlich hatte ich nicht im Traum daran gedacht, dass sich überhaupt etwas ändern könnte. Ich habe geschworen, dass nichts gewesen ist, als ich davor noch, gezwungenermaßen, zwei Tage in Berlin war. Es war wirklich nichts. Aber es wird schon so sein: Was ich selber denk und tu, trau ich auch andern zu. So heißt es ja wohl. Da war kein reines Gewissen. Habe gleich gemerkt, dass da irgendwas im Busch ist. Nur lumpige drei Wochen! Und ich hatte mich so auf das Wiedersehen gefreut. Zuerst fand ich die Eifersucht recht schmeichelhaft, hielt ich sie doch für Liebe.

3

Welchen Gedanken mögen wohl die Leute da unten nachhängen? Drücken ihnen auch irgendwelche Sorgen die Schläfen ein? Sie haben sich hinter aufgespanntes Leinen, den bunten Segeln des Strandes, verkrochen und braten, erholen sich von ihrer Arbeit. Die langen Grashalme, die unmittelbar am Rand des Abhanges wachsen, tanzen im Auftrieb des Windes hin und her. Solange der Wind keine Ruhe gibt, müssen sie tanzen. Hier oben kann ich einsam sein, wenn mir danach ist. Hier kann ich mich, auf einer Decke lang ausgestreckt, dem rhythmischen Rauschen der Wellen hingeben, einer Musik, die nur hin und wieder durch den Schrei einer vorbeifliegenden Möwe gestört wird. Es ist eine schläfrig machende Musik. Sie verleitet zum Träumen. Warum träumt der Mensch so gerne? Weil die Träume vielleicht das Schönste sind in seinem Leben? Sie sind etwas Persönliches, etwas Eigenes, das einem niemand nehmen kann. Träume sind wie Flügel. Oder wie Rosen, deren Duft berauscht.

4

An all die schönen Sprüche vorher, glaub ich nun auch nicht mehr. Die Sache mit der Eifersucht war nur die Ouvertüre. Als Nächstes musste ein nichtiges Ereignis als Sündenbock herhalten, ein winziges Geheimnis, welches ich mit keinem teilen wollte. Da hieß es dann: entweder, oder! Ich sehe gar nicht ein, warum nicht auch ich ein Geheimnis haben darf, das nur mir allein gehört. In solchen Fällen wird dann immer das mangelnde Vertrauen ins Spiel gebracht. Kein Vertrauen, ich und kein Vertrauen, dass ich nicht lache! Dass ich zu viel vertraut habe, hat mir bisher schon eine Menge Kummer bereitet! Ich und kein Vertrauen, das kann man mir wirklich nicht vorwerfen. Aber das Eine sollte sich jeder merken: Nur so viel Vertrauen, wie man selber zu schenken bereit ist, kann man vom Anderen zurückerwarten. Oder etwa nicht? Ich habe mein kleines Geheimnis nicht verraten! Nachher, als es dann zu spät war, stellte sich heraus, dass es gar keines mehr war. Na ja, ist jetzt auch egal. Die Fotos musste ich zurückgeben. Die Fotos, die mir so viel bedeutet hatten. Alle! Bin rausgegangen und habe geheult. Habe geheult, wie ein kleines Kind, dem man das liebste Spielzeug kaputtgemacht hat. Von da an war ich wieder allein.

5

Das Blau des Himmels ist wohl unendlich. Unendlich: unvorstellbar! Vor seinem Hintergrund wippt über meinem Kopf ein trockener Sanddornzweig. Gefährlich spitz stachelt er nach allen Seiten. Wie wehrhaft er sich wehren kann, hat mein Daumen schon zu spüren bekommen. Die Schiffe da draußen warten immer noch. Es sind zweiundzwanzig, wenn ich richtig gezählt habe. Wo sie wohl herkommen? Wo die Tonne herkommt, die unten am Ufer von den Wellen fortwährend hin und her geworfen wird, kann ich mir jedenfalls denken. Wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich alle möglichen Farbflecke. Komisch! Die Unendlichkeit scheint mir jetzt noch größer zu sein. Das gleichmäßige Klatschen der Wellen tut gut. Ich halte die Augen geschlossen und höre nur zu. Aber nach einer Weile verfalle ich wieder ins Grübeln. Alles Mögliche schießt mir durch den Kopf, immer bunt durcheinander. Wenn ich doch bloß das Denken für kurze Zeit abstellen könnte!

6

Ich denke daran, wie wir uns kennengelernt haben. Wie lange ist das jetzt her? Es war im Mai, glaube ich. Ja, genau zwei Wochen vor Pfingsten. Also vor guten drei Monaten. Ziemlich kurze Zeit. Schade. Die ersten Wochen waren die schönsten. Die verstohlene Heimlichkeit unserer großen Liebe. Ich habe dich gern verwöhnt. Heute glaube ich allerdings, dass das Ganze für dich einen anderen Namen hatte: Neugierde. Ich aber sehnte mich nach dir, wenn du nicht da warst, zählte die Stunden doppelt und dreifach. Vom Fenster aus hielt ich Ausschau nach dir, wie nach Land ein armer Matrose im Mastkorb. Wie glücklich war ich jedes Mal, wenn du um die Ecke bogst.

7

Die Steine klappern. Irgendjemand stapft unten am Strand vorbei. Die Sonne meint es heute wirklich gut mit uns. Ich sollte jetzt langsam daran denken, nach Hause zu fahren. Mein Fahrrad steht noch immer treu und brav an den Strauch gelehnt. Aus dem Vorderreifen wird bestimmt wieder die Luft raus sein. Das werde ich bei Gelegenheit mal nachsehen müssen.

8

Vor ein paar Tagen habe ich dich mit einem anderen gesehen. Ich kenne den. Und du, du tust mir leid. Seit wann magst du gewusst haben, dass du mit mir Schluss machen wirst?

9

Habe ich auch nichts vergessen? Immer lasse ich etwas liegen. Was treibt der Spatz da auf dem Sattel? Die Luft ist tatsächlich raus, hab‘s mir doch gedacht. Scheiße!



Rostock, Aug. 1979
(11. Mai 2011)



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