Spatzgeschichten - Abstrakte Irrwege

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Keine Zeit für den Frühling


Ein Pfiff! Unwillkürlich sehe ich zum Fenster. Ein weißer Rahmen für das blendende Van-Gogh-Blau des weiten Himmels: ein modernes Triptychon, von schneller Hand gemalt. Die Sonne brennt schon kraftvoll durch die doppelte Verglasung. Das zweite Drittel des Jahres ist kaum angebrochen. Die Birke gegenüber strebt mit ihren noch kahlen Armen ins Blau des Himmels. In ihren Zweigen sitzt ein Spatz, denn von dort vernehme ich ein feines Schilpen, nicht wohltönend, aber voller Rührung. Vielleicht ein Dankgebet, denn endlich ist die Herrschaft der Farbe Grau vorbei, die solange den Himmel, die Wege und Straßen, die Häuser und selbst die Menschen mit ihrem nebligen Schleier umhüllte. Ganz gleich, was der kleine Schreihals rufen mag, soll er nur!
In meiner kleinen Stube bemächtigt sich die erste Fliege meiner Ruhe. Erst durchforschte sie neugierig jeden Winkel des Zimmers, ohne sich fangen zu lassen. Jetzt aber fliegt sie ängstlich vor dem Fenster hin und her. Sie hat das Gift gerochen. Aufgeschreckt sucht sie einen Ausweg aus dieser Todesfalle. Es macht keinen Sinn, das Fenster zu öffnen.
Draußen ist alles im Erwachen begriffen, soweit das Auge schaut. Das ganze Land reckt und streckt sich, rüttelt seine verschlafenen Glieder wach und reibt sich, noch müde, den Schlaf aus den Augen. Unbeschreibliches liegt in der Luft. Die Würze der Hoffnung, groß und unschuldig, und der Erwartung, prickelnd, erregend, begierig. Es ist Frühling.
Die roten Ziegeldächer, noch kalt vom letzten Schnee, suchen die Sonne, strecken sich ihr entgegen, die wohltuende Wärme aufzutanken. Auf den flachen Pappdächern beginnt dagegen der Teer in den Mittagsstrahlen zu weinen. Glänzende Tränen kriechen langsam in kleinen Bächen abwärts. Wehe dem eitlen Kätzchen, das hier spazieren geht. In den vielen Obstgärten werden bald Abertausende Knospen aufspringen und sich zu üppigen weißen und rosa Blüten entfalten. Wie ein Wattebausch wird jeder Baum im Grünen stehen, den Insekten ein Paradies. Wenn sie alle gesättigt sind, werden weiße und blutige Schneeflocken den Rasen bedecken. Unermüdlich pumpen die alten Stämme lebensspendenden Saft aus der dunklen Erde. Im frischen Rasen leuchten bereits die ersten Farbtupfer dieses Jahres: gelbe, violette, weiße und blaue.
Es ist gut, dass endlich Frühling ist, schreibst du in deinem Brief. Ja, es ist gut. Frühling, das ist wie Kindheit. In ihm keimt das Leben, erwacht der Schoß zu neuer Blüte. Frühling, sehnsuchtsvoll von der Natur erwartet, von den Menschen, von mir. Aber auch Erinnerung ist der Frühling.
Wie gern war ich, ein Knabe noch, vom heimatlichen Dorfe aus zum Großen See geschlendert, an dessen Ufern regelmäßig im zeitigen Frühjahr, sobald die Sonne etwas wärmer schien, die vielen knorrigen Weiden, die ihre Wurzeln bis tief unter den See eingegraben hatten, bekröpft wurden. Ihre leblosen Zweige, von den kräftigeren Ästen abgesondert, da sie im Ofen nur ein mühsames Feuer ergeben, lagen meist in einem zusammengetragenen Haufen. Hierauf legte ich mich dann genüsslich in die wärmende Sonne und lauschte dem leisen Rauschen des Schilfes und des heimlichen Geflüsters der verspielten Wellen. Des Dorfes Kirchturm nicht mehr ansichtig und sicher vor jeglicher Überraschung träumte ich in den lieben Tag hinein. Über mir flogen die Schatten der Möwen laut kreischend dahin und in den Schlehen, die dort die ganze Böschung überzogen, beschimpften sich die Sperlinge.
Auch du liebst ihn, den Frühling, schreibst du, es sei aber mit deiner Freizeit schlecht bestellt. Du liebst ihn, hast aber keine Zeit für ihn. Wie arm du dich damit machst! Auch mich liebst du, wie du immer wieder betont hast, aber auch für mich hast du keine Zeit. Wie klein muss dein Herz sein!
Du sprichst schon so viele fremde Sprachen, die ich nicht verstehe. Sage mir, wozu, um Himmels willen, musst du nun auch noch Griechisch und Latein lernen? Doch nur, um dich mit ebenso fremden Menschen zu unterhalten. Gut, gut, es gehört eben zu deinem Beruf; es muss sein. Hättest du bei all dem wenigstens ab und zu einen lieben Blick für mich übrig: Allein das hätte mich schon glücklich gemacht. Ich hätte aus deinen Augen, den himmelblauen, gelesen, was mir dein Mund verschweigt. Beim Griechisch hast du momentan die berühmten Anfangsschwierigkeiten, schreibst du, bist aber zuversichtlich. Wie schön für dich; und wie traurig. Aber ich glaube, es ist mir jetzt egal, was für Schwierigkeiten du mit deinen Studien hast, egal, egal …
Mir aber webt ein belebender Wind ins Gesicht, treibt die lockigen Haare mir aus den Augen, wenn ich, meine Stube weit hinter mir lassend, über sandige Wege, durchs leichte Gehölz oder am Meer entlang spazieren gehe, während dich nur alter, trockener Staub aus den dicken Büchern, aufgewedelt von jedem sich wendenden Blatt, umwirbelt und die winzig kleinen Papierschrecken, aus ihrer Alltagslethargie je aufgeschreckt, in Scharen fliehen. Mir lacht dann die ganze Sonne.
Du schreibst, das Leben hat, einer Medaille gleich, zwei Seiten: die der Vergangenheit und die der Zukunft. In unserem Leben, in deinem und in meinem, häufen sich auf der Seite der Vergangenheit die leeren Tage. Hierin magst du recht haben, sicher. Dazwischen aber ragen einige Tage hervor, an denen wir glücklich waren, an denen wir liebten, an denen wir spürten zu leben. Wie schön du das sagst, wie glatt dir das aus der Feder floss; ist bestimmt aus einem deiner vielen Bücher.
Aber höre doch, wir bewegen uns nicht auf einer der beiden Seiten, von denen eine jede fern von uns im Sande verläuft: Wir leben zwischen gestern und morgen, wir leben heute. Und wir haben Frühling, ein Frühling voller Hoffnung und Erwartung. Lebe wohl in deinem Schneckenhaus, in das nie die Sonne scheint, warm und zärtlich, in das nie der balsamische Duft des Lebens dringt. Lebe wohl, auf welcher Seite du dich auch befinden magst.
Noch das eine, letzte Mal noch: Lebe wohl, denn auch ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich will, ich muss hinaus in den Frühling, in meinen Frühling.



Rostock, Mai 1980
(12. Mai 2011)



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