Die Hoschköppe / 72. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 72. Kapitel

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Dienstag, 1. November 1988


„Bist du auch gerade erst gekommen?“, fragte ich Jochen, der dabei war, im Korridor seine Jacke an die Garderobe zu hängen.
„Die war ganz feucht, die Hose ist auch vollkommen durch“, antwortete er und deutete damit an, dass er die Jacke eben aus dem Bad geholt hatte.
„Du warst also nicht in Evershagen?“
„Bei dem Wetter!“
„Habe ich mir auch schon gedacht, deshalb komme ich auch jetzt schon.“
„Wieso: jetzt schon? Ist doch schon nach halb sechs“, wunderte sich Jochen.
„Du sagtest, um sechs!“
„Ich habe Besuch gehabt. Um fünf.“
„Thomas?“, fragte ich.
„Ja. Ganze dreißig Sekunden war er hier. Das hier hat er gebracht.“ Jochen zeigte mir einen roten Plastebeutel, in dem ein in Klarsichtfolie eingewickelter unförmiger Klumpen Fleisch lag. „Habe ihn gefragt, ob er nicht reinkommen will. Er muss wieder rüber, hat er nur gesagt. Und ob irgendwas ist. Was soll sein, sagte er. Fünfzehn Mark wollte er dafür haben.“
„Und, hast du sie ihm gegeben?“
„Ich hatte nur einen Fünfziger. Er kommt noch mal wieder.“
„Wann?“, wollte ich wissen.
„Hat er nicht gesagt. Was willst du nun damit machen?“
Ich nahm den rosigen weichen Klumpen in die Hand. Er sah aus wie Rouladenfleisch. „Einfrieren“, schlug ich vor, legte das Fleisch zurück in die Tüte und brachte es in die Küche.
Jochen zog sich zusammen mit seiner Zeitung und meinen Kulturspiegel in der Stube zurück, machte es sich gemütlich und wollte nicht mehr gestört werden.
„Das wird dann wohl seine letzte Aktion gewesen sein“, befürchtete ich.
„Sein Bruder wird mit unserem bestellten Fleisch angekommen sein und er musste es nun loswerden“, rief Jochen.
„Kann sein.“ Ich ging ans Fenster. Bei Thomas brannte Licht im Zimmer. Im Sessel neben mir lagen Jochens und meine frisch gewaschenen Oberhemden bunt durcheinander.
„Ich wollte gerade damit anfangen“, sagte Jochen, als er meinen Versuch bemerkte, in dem engen Zimmer einen Bogen darum zu machen. „Das kannst du ja jetzt machen.“
Auch das noch, dachte ich und ging um den Tisch zu ihm. „Tut es dir wenigstens leid …“, begann ich.
„Was?“, fragte Jochen.
„… dass du mir keine Gelegenheit gegeben hattest, mit ihm ins Bett zu gehen?“
„Nein!“
„Nein?“
„Ihr hattet inzwischen genug Gelegenheiten“, behauptete Jochen.
„Das sagst du jetzt, wo du genau weißt, dass er es nicht mehr will.“
„Der will schon noch. Und außerdem wart ihr dreimal miteinander im Bett!“ Jochen sah mich herausfordernd an.
Mir verschlug es die Sprache. Mein Mund füllte sich plötzlich mit heißer Luft, die mir die Zunge und das ganze Respirationssystem bis in die hintersten Verästelungen hinein verdorren ließ und zu akuten Schluckbeschwerden führte. Ich wandte mich mit letzter Kraft ab, stierte einen Moment auf den Küchenvorhang, der wie ein Chamäleon seine Farbe wechselte, drehte mich dann mit verschleiertem Blick wieder zu Jochen um und bemühte mich, so unerschrocken wie möglich zu fragen: „Wer sagt das?“
„Raymond! So habe ich ihn jedenfalls verstanden.“
„Das musst du mir mal ganz genau erzählen, was er gesagt hat.“ Ich wartete aber keine näheren Einzelheiten ab, sondern verzog mich ohne weitere Umstände sicherheitshalber in die Küche, wo mir Jochen die Aufregung und das Entsetzen nicht ansehen konnte, und begann mit den Vorbereitungen für das Abendbrot. Nähere Einzelheiten bekam ich vorerst aber nicht zu hören. War Thomas tatsächlich so weit gegangen und hatte den Umweg über Raymond dazu benutzt, Jochen unser kleines Geheimnis zu stecken? Das konnte er mir doch nicht angetan haben? Diese hinterhältige kleine Ratte! Dieser Schuft, Schurke, Lump, Halunke, Strolch, Gauner, Spitzbube, Ganove, Hundsfott, Malefizlump, Lumpenhund, Dreckskerl, dieser geile Unmensch, ihm gehört der Hals umgedreht und wie ein Militärstiefel doppelt genagelt. Zum Glück und aus welchen Gründen auch immer verfolgte Jochen dieses Thema nicht weiter. Er blätterte stattdessen weiter in der Zeitung, während ich vorsichtig den Tisch deckte.
„Wollen wir am Sonntag bei meiner Mutter Mittag essen, dann brauchst du dir nur am Sonnabend etwas alleine zu kochen“, fragte Jochen beim Essen.
„Wieso das denn?“
„Sonnabend bin ich doch im Betrieb“, erinnerte er. „Pass bloß auf, dass ich dann auch aufstehe.“ Die Wahlversammlung sei bis sechzehn Uhr angesetzt, es werde aber dreimal etwas zu Essen geben.
„Dann könnte Eddi ja auch nachmittags kommen. Er hatte heute Vormittag angerufen und da haben wir uns für Sonnabend um acht verabredet. Er will schon wieder Bilder machen, massenweise, nehme ich an. Nun überlege ich schon, was für eine Arbeit ich mir vornehmen könnte für die Zeit. Ich habe absolut keine Lust, wieder stundenlang im Bad zu sitzen und in den Lösungen rum zu panschen. Er soll schön zusehen, wie er selber fertig wird. Wer weiß, was das wieder für ein Scheiß ist. … Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass du Sonnabend nicht hier bist. Ich soll dich übrigens grüßen von ihm.“
Nach dem Essen wickelte ich das Fleisch aus: Es waren acht schöne Scheiben Roastbeef. „Davon werde ich mir Sonnabend eine in die Pfanne hauen“, verkündete ich. Wir taten die Scheiben einzeln in Gefrierbeutel, die Jochen zuschweißte und anschließend irgendwo in der Gefriertruhe versteckte. Hoffentlich werde ich sie wiederfinden. Dann holte ich freiwillig das Plättbrett hervor und begann, mich über die armen Hemden herzumachen. Ganz nebenbei fragte ich, was denn nun Raymond gesagt habe. Zum Glück stellte sich heraus, dass Raymond nicht so direkt behauptet hatte, dass ich mit Thomas geschlafen habe. Jochen hatte lediglich den Eindruck gewonnen, dass Raymond das gemeint haben könnte. Ich drückte das Eisen noch fester auf das Hemd. Mir kringelten sich Sterne vor den Augen. Ich hatte wieder einmal auf dürren Zweigen gestanden. Diesmal verbargen sie den tiefen, schwarzen Schlund des Orkus, hielten aber meinen schweren Verfehlungen stand. Von den rauen Wänden hätte mein Wehgeschrei widergehallt, auf dass Orkus vernehme, ich komme!
„Alles war vorher abgesprochen, hat Raymond gesagt, wenn sie sich hier getroffen haben“, wiederholte Jochen. „Und als unser Theaterbesuch ins Wasser gefallen war und wir die beiden hier überraschten, da war Thomas auch vorher zu Raymond gekommen und hat ihn geholt. Es ist jedenfalls nicht so gewesen, wie es uns Thomas hatte weismachen wollen: Sie hätten sich zufällig getroffen.“
„Na, das hätte ich an seiner Stelle auch gesagt.“
„Raymond hatte den Auftrag, mich abzulenken, damit ihr freies Spiel habt.“
„Wann soll denn das gewesen sein? … Das kann ja gar nicht sein! Ich kann mir nicht denken, dass Raymond da mitgemacht hätte.“ Das konnte wirklich nicht sein, da war ich mir ganz sicher. Oder nicht?
„Das hat er ja auch gar nicht gesagt. Ich hatte eben nur den Eindruck, als wenn Thomas ihn vorgeschickt hatte, um mich zu beschäftigen. Ich habe ihn gefragt, warum er nun Sonnabend gekommen war. Er hatte keine Lust, schon wieder mit in die Disco zu gehen und zu Hause war es ihm zu langweilig. Und Sonntag war er nur gekommen, um sich die Klunker abzuholen.“
„Na, da hätte er doch zu mir kommen müssen“, meinte ich.
„Ich habe ja auch dann zu ihm gesagt, dass er Montag zu dir gehen soll.“


Montag, 31. Oktober 1988 - Donnerstag, 3. November 1988

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