Die Hoschköppe / 73. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 73. Kapitel

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Donnerstag, 3. November 1988


Heute erreichte mich folgender Brief:

                                                                                                                      Neustrelitz, d. 30.10.88
                Lieber Friedemann!
Heute ist Sonntag u. da werde ich wieder mal schreiben. Ich habe Tag für Tag den Briefkasten aufgemacht, aber leider keine Post von Dir. Ich habe doch zuletzt geschrieben, wenn ich mich recht erinnere, muß das so kurz vor oder nach dem 10.10. gewesen sein. Bist Du krank oder was ist los? Ich bin schon richtig unruhig und wollte telefon., aber da Du mal schriebst, ich soll nicht anrufen, habe ich mich nicht getraut. Aber das war ja eigentlich in einem anderen Zusammenhang. Also mein „Kleiner“, was ist los? Oder ist die Post verlorengegangen?
Lieber Friedemann, nun muß ich heute leider berichten, daß unsere Mutti seit 10 Tagen in Hohenlanke im Heim ist. Was ich nun schreiben soll, weiß ich nicht! Daß es besser für sie ist? Nein, das stimmt nicht! Sie ist zwar nie mehr allein, bekommt auch ihr Essen u. Trinken, es ist warm, sie hat ein schönes Bett, eine gute Zimmergefähr-tin, die zwar schon 84 ist, aber sich sehr um Mutti kümmert, denn wenn da einer keinen hat, der ist verloren u. Mutti wäre es. Die Oma Lübke ist auf den Füßen nicht mehr so wie Mutti, dafür aber geistig voll da u. aus die-sem Grund fällt ihr das schwerer als unserer Mutti. Mutti weiß nicht, wo sie ist u. ich finde, daß sie sich durch all die alten Leute wieder mehr an die Zeit vor Neustrelitz erinnert. Sie wartet immer auf Vatting u. ich bin eben nur zu Besuch u. darüber freut sie sich. Gestern hat sie seit langem von alleine nach Dir gefragt u. was alle machen. Ansonsten redet sie nicht viel von alleine, ich weiß manchmal kaum noch, was ich sagen soll. Die Zeit bei uns ist vollkommen aus ihr raus. Und das ist für mich der einzige Trost an diesem verflixten Zustand. Ich kann u. kann nicht fertig werden damit. Mit Herzklopfen geh ich hin u. mit Herzschmerzen komm ich wieder raus. Aber ich muß mich zusammennehmen, denn alle sagen, ich sähe furchtbar aus, sicher übertreiben sie! - Ich darf wohl nicht zu oft hinfahren, bis jetzt war ich jeden 2. Tag, aber sicher hilft auch hier die Zeit etwas u. es geht besser. - Die Wäsche mach ich alleine, da dort sehr wenig Personal ist u. danach sieht es auch überall aus. Aber inzwischen weiß ich schon, wo alles steht u. dann wird sich ein Kittel angezogen u. los geht's mit Besen u. Eimer. Es macht nicht den Eindruck, daß die Schwestern böse darüber sind. Wenn ich dann alles etwas ins Reine gebracht habe, koch ich uns Kaffee u. wir trinken dann gemütlich eine Tasse. Durst hat Mutti viel, aber sie soll nicht so viel trinken, da sie oft alles unter sich macht. Nach den Nachhemden zu urteilen muß sie auch beides ins Bett machen, u. dann kommt doch mal ein Moment, wo ich denke, daß es so besser ist. Denn hier hat sie zuletzt ja auch sehr oft Pech damit gehabt u. wenn es die Bonbonbüchse war. Ach Friedemann, warum muß ein Mensch so werden, daß er nicht mehr zurechtkommt? Morgen muß ich versuchen, neue Hausschuhe zu bekommen, Muttis sind verschwunden, Oma Lübke sagt ja „die sind geklaut“, aber ich nehme an, die sind beim Pullern vollgelaufen u. man hat sie weggeworfen, das ist uns hier ja auch passiert. Den gleichen Weg nehmen auch die Schlüpfer, wenn ich nicht rechtzeitig da bin. Ich kann Dir sagen, los ist da auch was. Ich frage mich bloß, wer immer die Artikel in der Zeitung schreibt über diese Heime. Ach so, es ist ein 2-Bett-Zimmer und von der Größe so wie das Kleine bei uns. Es stehen 2 Betten, 2 Schränke, 2 Nachttische, 1 Tisch + 2 Sessel drin. Und natürlich ein Waschbecken. Möbel sollten wir nicht mitbringen, da es vom Heim nicht so gerne gesehen wird in solchen Fällen wie bei Mutti. Ja, Friedemann, so sieht es aus. Bei Edwin u. mir ist nun Ruhe, aber auch damit muß man erst fertig werden, was Edwin anscheinend schneller gelingt als mir. Wenn es Abend wird u. im Bett habe ich ganz schön zu kämpfen.
- Montag -
Heute war noch keine Post! Aber vielleicht morgen! Da heute ganz gutes Wetter war, haben wir beide einen Gartentag gemacht, das war auch nötig, aber dafür bin ich jetzt ganz schön geschafft. Edwin hat den kl. Ofen aus dem Glashaus in die Laube gestellt u. nun heizt er immer u. es läßt sich aushalten (20 Grad). Noch einen Tag u. ich habe alles fertig u. der Frost kann kommen (muß aber nicht). Am Donnerstag waren wir in Fürsten-werder zur Silberhochzeit bei Ingrid u. Helmut. Es war ganz gemütlich. Sie haben in Fibiashof gefeiert. Am Freitag war ich mal kurz im Ort, habe mich aber nicht lange dort aufgehalten, denn so viele haben mich nach Mutti u. allem gefragt, daß ich bis zum Schuhladen schon fix und fertig war u. schnell wieder zurückgegangen bin. Radatzki ist auch tot, Lungenkrebs, er soll sich lange gequält haben. So, mein Lieber, nun mach ich aber Schluß. Morgen geh ich zur Stadt u. übermorgen zu Mutti. Sie wird bestimmt schon warten. Sie weiß ja nicht, daß ich erst Sonnabend bei ihr war. Udo, Susanne + Gudrun waren auch schon mal mit. Edwin war erst 1 x mit drin, ich glaube, es bekommt ihm auch nicht so gut.
Wann kommst Du uns mal besuchen? Dann fahren wir beide zu Mutti, nicht wahr? Also überleg nicht lange, wir werden es schon beide schaffen. Ach so, ich habe für Mutti ein Sparbuch angelegt, das Geld, d. h. die Rente geht ja nun ans Heim und wenn die Gebühren abgezogen sind, wird es aufs Sp.- Buch eingezahlt. Das macht das Heim. Viele Angehörige gehen am Rententag hin u. holen sich den Rest, aber haben nicht d. Zeit, ihre alten Leutchen zu besuchen, sowas gibt es auch. - So, nun aber genug! Bleibe gesund, denk an uns u. schreib bloß bald oder komm, damit ich beruhigt bin.
              Viele Grüße Deine Edeltraud + Edwin

Dienstag, 1.November 1988 - Freitag, 4. November 1988

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