Die Hoschköppe / 71. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 71. Kapitel

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Montag, 31. Oktober 1988


„Um fünf war Raymond bei mir und hat sich die Klunker abgeholt“, erzählte ich Jochen, als ich heute zu ihm kam. Einen Ring, ziemlich breit mit einfachem Relief, vermutlich Edelstahl. Ich hatte ihn Anfang der siebziger Jahre einem Flohmarkthändler in Stettin abkaufen müssen, nachdem der mir den schweren Ring probehalber auf den Finger gesteckt und anschließend nicht wieder herunter bekommen hatte. Eine hochwertige Halskette, vermutlich Aluminium, eloxiert, und einen goldenen oder zumindest vergoldeten Ohrring, auf den ich eines schönen Tages in der Wilhelm-Hörning-Straße getreten war. „Nach Thomas hat er auch gefragt. Zu Hause ist der nicht, meinte er. Und ob er wohl bei dir sein kann. Das glaube ich nicht, hab ich gesagt, denn du würdest erst um halb sechs von der Arbeit nach Hause kommen. Raymond hatte wieder ein Mädchen dabei. Das wird bestimmt wieder diese Kitti gewesen sein. Vermutlich wollte die mich auch mal von Dichtem bekucken.“
„Hast du sie rein gelassen?“, fragte Jochen.
„Das fehlte mir noch! Und außerdem hatte ich das Bett wieder nicht gemacht. Wie lange ist denn Raymond gestern Abend noch geblieben?“
„Bis kurz nach zehn. Wir haben uns noch den Film angesehen. Es war wieder sehr interessant, sich mit ihm zu unterhalten.“
„Ja? Du hast wohl wieder so einiges rausbekommen!“, vermutete ich.
„Ja, das habe ich“, triumphierte er. „Raymond scheint mehr zu wissen, als er selber oder wir ahnen. Thomas hat wohl auch ihn ganz schön aufs Kreuz gelegt. Jedenfalls war das alles eine abgekartete Sache von ihnen, wenn erst die eine Hälfte von den beiden zu uns gekommen war und nach der anderen gefragt hat, die dann wenig später wie zufällig hinterher geklappert kam. Er hat sich sogar zu fragen getraut, ob Thomas mit einen von uns geschlafen hat. Das habe ich natürlich verneint.“
Ich sah mich gezwungen, augenblicklich die beträchtliche Menge Speichel hinunterzuschlucken, die sich in meinem Mund sturzbachähnlich angesammelt hatte.
„Thomas ist in der letzten Zeit wohl hauptsächlich deswegen nicht zu uns gekommen, weil er eine neue Freundin hat. Raymond sagt, die sei im Moment solo und schon immer scharf auf Thomas gewesen, was er nun überhaupt nicht verstehen kann, denn an dem wäre nicht einmal das Taschenmesser scharf, wenn er eines hätte.“
Was war jetzt noch zu glauben? War denn jedes Wort, jede Geste, alles Tun nur ein Schnipselchen in einem riesigen bunten Puzzle, mit dem sich Thomas die sonst so eintönige Zeit vertrieben hatte?


Sonntag, 30. Oktober 1988 - Dienstag, 1. November 1988

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