Die Hoschköppe / 70. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 70. Kapitel

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Sonntag, 30. Oktober 1988


Auf dem Weg zwischen Uni und S-Bahn-Haltestelle gibt es mehrere Bäcker, an denen Jochen am Freitagnachmittag wegen des frischen Kuchenduftes nicht so ohne Weiteres vorbei kam. Bei einem kehrte er ein und kaufte sechs Stückchen Blechkuchen, die wir gleich vernaschten, nachdem auch ich nach Hause gekommen war. Da es nur winzige Stückchen waren, hatten wir damit keine Mühe. In meiner Erinnerung geistern Stücke von Blechkuchen, Schnecken und Amerikaner von wesentlich größeren Ausmaßen herum, die ich in meinen Kinderjahren vom dörflichen Bäcker für weniger Geld holen durfte. Aber vielleicht stelle ich mir die gelben Amerikaner und all den anderen Kuchen nur deshalb voluminöser vor, weil man alle Dinge aus der schönen Kinderzeit viel, viel größer in Erinnerung hat! Bis auf die Zipfel natürlich, die damals noch klein waren. Als wir, meine Schwester und ich, den elterlichen Haushalt in Fürstenwerder aufzulösen hatten, nahm ich die Gelegenheit wahr, über den Kirchplatz zu gehen. Warum der gut einen Meter über dem Straßenniveau liegt, wissen nur die vergangenen Jahrhunderte, in denen er auch als Friedhof gedient hatte. Vielleicht war nur himmelwärts Platz für neue Gräber. Heute erreicht man ihn deswegen von beiden Seiten nur über ein paar Stufen. Hier hatte ich als Kind zusammen mit anderen, alle mit einer Taschenlampe bewaffnet, bis in die Dunkelheit hinein Verstecken gespielt. Ich fragte mich, als ich an den alten Feldsteinmauern der Kirche vorüberschritt, wo zum Teufel war hier Platz, sich zu verstecken. Ich muss mich schämen dafür, dass ich wieder abgeschweift bin.
Für den Abend war nichts Besseres geplant, als unendlich lange fernzusehen. Das Programm war wenig aufregend, darum schlug Jochen aus Jux einen erneuten Saunabesuch vor. Wegen dieser drei Kuchenkrümel hatten wir ursprünglich das Abendessen etwas hinausschieben wollen. Nun aber, nach Jochens Vorschlag, dem ich sofort zugestimmt hatte, wurde ich mobil. Im Nu war der Tisch gedeckt, während Jochen noch Zeitung las. Nach dem Essen raffte ich die Saunasachen zusammen, die noch im Bad gehangen hatten, aber schon trocken waren. Bald darauf standen wir an der Bushaltestelle.
„Gerade gestern Abend erst habe ich mich über die Scheußlichkeiten in der Sauna ausgelassen und nun stehe ich schon wieder hier“, sagte ich zu Jochen und musste über mich selbst lachen. Dann kam der Bus. „Hoffentlich müssen wir nicht wieder so lange warten wie gestern“, sorgte ich mich.
Wir ließen uns zwei Wartemarken geben und setzten uns wieder auf eine der Bänke am Fenster, auf der nur noch für uns zwei Platz war. Es waren fast nur Frauen, zwischen denen wir saßen, und da die in die Damensauna wollten, konnte es also nicht lange dauern, hofften wir. Obwohl wir dann gleich aufgerufen wurden, war es doch schon fünf Minuten vor halb acht. Drinnen war es anfangs genauso voll wie am Abend zuvor, leerte sich aber sehr schnell. Wie immer, wenn ich kam, verließen die Schönsten das Feld, kaum dass ich sie auch nur einmal richtig betrachten konnte. Immerhin ließen sie eine gute Handvoll knackiger Kerle zurück, die sich wie eine Horde Kamele mit Musik aufführten und sich später beim Anziehen in Matrosen verwandelten. Es war eine Lust, ihre glatten Körper zu studieren. Ein Junge, der aber wie sich herausstellte nicht zu ihnen gehörte, fiel uns besonders auf. Dass wir genüsslich seinen apollinischen Körper visitierten, schien ihm durchaus nicht unangenehm zu sein. Immer wieder sah er uns mit seinen hübschen großen und dunklen Augen an, in denen, wie ich zu erkennen meinte, eine große Portion Sehnsucht und ein tiefes Verlangen lag. Um halb neun war er plötzlich angezogen und blickte ein letztes Mal zu uns. Wir saßen neben der alten Waage, von der, wenn man sie scharf anblickt, die vergilbte weiße Farbe abblättert.
„Hast du den Bengel gesehen?“, fragte ich Jochen und deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang.
„Ja, hab ich, er war wieder mit seinem Vater hier.“
„Ach, war das der von vor ein paar Wochen, als wir auch freitags hier waren? Ich wollte schon sagen, dass der mir irgendwie bekannt vorkommt und das ich den schon mal gesehen haben muss.“ Erst jetzt war mir klar geworden, warum Jochen hierher wollte. „Dann müssen wir nächsten Freitag mindestens um halb sieben reingehen“, meinte ich vorausplanend.
Unsere Zeit war kurz vor halb zehn abgelaufen. Also werden wir in Zukunft freitags nach Warnemünde fahren. Da das für den Donnerstag ausschlaggebende Moment ohnehin weggefallen war, macht es uns nichts aus, den Tag zu wechseln. Der kleine Ringer, der immer von seinem Onkel begleitet wurde, war in dieser Saison noch nicht wieder aufgekreuzt. Auch der kleine Onkel nicht. Es hat doch niemand wirklich geglaubt, dass wir aus irgendwelchen gesundheitlichen Gründen die Strapazen eines Saunaganges auf uns nehmen?
Sonnabendfrüh kroch ich zu Jochen ins Bett. Es war bereits hell im Zimmer und beide fühlten wir uns munter genug. Obwohl ich einen tüchtigen Ständer mitgebracht hatte, reichte mein Einsatz nicht für ein paar Frühstückseier aus. Das klappte erst nach dem Mittagsschlaf, den ich allein auf der Liege gehalten hatte, während Jochen Mandelplätzchen zauberte.
In der Sonnabendausgabe der Ostsee-Zeitung lasen wir, dass die beiden Grauwale aus dem Eis von Alaska befreit werden konnten. Das war mit immensen Kosten und unter großer Anteilnahme der westlichen Medien erfolgt. Wie schön, wenigstens zwei Grauwale gerettet. Vielleicht bringt man sie zur Erholung in japanische Gewässer!
Als es dunkel wurde, ging drüben bei Thomas das Licht an. Hatte er nicht erst am Sonntag zurückkommen wollen? Mussten sie vielleicht des Wetters wegen die Klassenfahrt vorzeitig abbrechen? Als es dann zehn Minuten vor sechs klingelte, glaubten wir schon, er sei es. Ich hörte aber nur Raymond, der Jochen fragte, ob Thomas bei uns sei. Auch er hatte das Licht gesehen und wollte offensichtlich seine Sehnsucht stillen. Nein, hier sei er nicht und er wolle doch erst morgen wieder zurückkommen, hörte ich Jochen antworten. Die Tür klappte und Jochen kam allein ins Zimmer. Eine Stunde später klingelte es erneut. Aber nun werde es bestimmt Thomas sein, hofften wir. Das Licht in seinem Zimmer brannte noch immer. Enttäuscht sah ich Raymond in die Stube treten. Dazu, wie er das Mädchen losgeworden sei, mit dem er vorhin im Treppenhaus gestanden habe, gab er keine Erklärung ab, er ist uns auch keine schuldig. Raymond fragte aber, ob Jochen sie kenne. Jochen konnte sich zwar erinnern, sie schon einmal mit Raymond vor seiner Tür gesehen zu haben, auch damals fragten sie nach Thomas, aber kennen tue er sie nicht. Raymond klärte uns darüber auf, dass dies Kitti gewesen sei, also Thomas‘ Freundin. Nunmehr ehemalige Freundin Kirstin.
Mir ging bei der Erwähnung ihres Namens ein Gedanke durch den Kopf, den ich nun loswerden möchte, bevor er wieder in irgendwelchen dunklen Zellen verschwindet. Jochen hatte in der Anfangszeit, als der Trabbel mit dem Lorbass Thomas losging, auch den Brief eines Mädchens bekommen, in dem er mehr oder weniger heftig aufgefordert wurde, mit ihr den sogenannten Beischlaf zu betreiben. Als Jochen neulich auf diesen Brief zu sprechen kam, hatte Thomas zugegeben, dass auch dieses Machwerk seinem Geiste entsprungen war. Das wäre ja dann, und dies schoss mir durch den Kopf, als sein schriftlich formulierter Wunsch anzusehen, selber mit Jochen ins Bett gehen zu wollen. Warum er sich seinen Wunsch bis heute nicht erfüllt hat, ist mir allerdings schleierhaft. An mir hatte er zu der Zeit noch kein Interesse, so erschien es mir jedenfalls. Damals hatte Thomas törichterweise geglaubt, dies hatte er inzwischen mehrmals betont, ich möge ihn nicht.
Raymond kam ins Plaudern und verriet uns, dass Kitti anfangs ganz schön sauer auf Thomas gewesen war, wohl auch auf uns beide, weil er für ihre Begriffe zu viel bei uns rumgehangen habe. Sie war von ihm enttäuscht und fühlte sich beleidigt, weil Thomas sie nicht mehr anrührte. Etwas Ähnliches hatte uns Thomas selber auch schon gesagt, als er beunruhigt davon sprach, kein Interesse mehr an ihr zu finden. Raymond meinte sehr zuversichtlich, dass sie dies inzwischen verwunden habe und er, Raymond, sei ja schließlich auch noch da. Seine Brust schwoll etwas an, die Augen funkelten und in seiner Stimme schwang so etwas wie Prahlerei mit. Mit anderen Worten: Wo der eine ausfällt, springt der Freund ein. Das brauche Thomas aber nicht unbedingt zu wissen, legte er uns ans Herz. Ein Freund beweist sich eben erst in der Not! Wie alt wir Kitti schätzen würden, fragte er. Da ich sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, durfte ich mich in dieser Raterunde meiner Stimme enthalten, Jochen traf aber gleich ins Schwarze: Sie sei fünfzehn. Raymond ist jetzt siebzehn. Warum auch nicht! Es gibt kein Gesetz, das es Kindern verbietet, es zügellos und nach Herzenslust miteinander zu treiben. Inwieweit Raymond glaubwürdig ist, sei dahingestellt.
Jochen begab sich mit einer ungewissen Vorstellung von dem gerade Gehörten in die Kombüse, um belegte Brote zuzubereiten. „Fünfzehn Schnitten bekommst du von mir aber nicht, das brauchst du dir nicht einzubilden“, rief er Raymond zu, der angedeutet hatte, dass fünfzehn Schnitten zum Abendbrot sein üblicher Satz ist, dieweil er sich noch im Wachstum befindet. Er hatte sich wieder todschick aufgemotzt: ganz in Schwarz und mit einem Haufen chromglitzernden Klunkern um den Hals. Mir gefiel er auch so. Aber mir gefallen ja alle Burschen, wenn sie nur jung genug und gut aussehend sind. Dann ist es mir ganz gleich, mit welchen Fummeln oder Lumpen sie sich behängen. Jochen hatte aber nicht umhingekonnt, ihn seines Aufputzes wegen ein bisschen hochzunehmen. Ob wir was gegen Gruftis haben, fragte Raymond, und wenn ja, was? Eigentlich nichts, darin stimmte Jochen mit mir überein, solange die uns nichts Schlimmes antun. Raymond wusste bereits durch seinen fleißigen Zuträger, dass Jochen und ich nun schon über acht Jahre zusammen sind, oder es miteinander aushalten, wie ich es weniger romantisch ausgedrückt hätte. Nun wollte er sein Wissen auch noch darum, wie wir uns kennengelernt hätten, erweitern. Ach, das sei auch so eine Geschichte von vielen gewesen, winkte ich ab, als sei es mir leid, immer wieder daran erinnert zu werden: Lange, sehr lange sei das nun schon her und dunkel sei es auch gewesen.
„Ein paar Mal war er schon an mir vorbeigegangen“, erinnerte sich Jochen, „bevor der sich getraut hat, mich anzusprechen.“
„Ich hatte immer noch gehofft, was Besseres zu finden“, sagte ich. „Da mir aber nichts Besseres über den Weg gelaufen ist, habe ich eben ihn fragen müssen, ob er mitkommen will. Und diese dunkle Gestalt, die da das kalte Treppengeländer festhielt, hat spontan zugesagt und ist dann später immer wiedergekommen. Und jetzt werde ich ihn nicht wieder los, versucht habe ich es ja schon einmal“, meinte ich scherzend.
„Und für mich ist es damals sehr bequem gewesen“, sagte Jochen. „Ich habe zu der Zeit noch in Evershagen bei meiner Mutter gelebt und bis Lichtenhagen war es mit dem Bus eine Knackssache.“
So, nun weiß es jeder: Es kommt ausschließlich auf den öffentlichen Verkehr an.
Alle Einzelheiten zu berichten, die an diesem Abend ans Stubenlicht befördert wurden, würde entschieden zu weit führen. Eines wurde jedenfalls klar, dass Thomas wohl schon immer befürchtet hatte, Raymond werde eines schönen Tages sämtliche Deckel ihres gemeinsamen Nähkörbchens aufreißen und deren Inhalt bedenkenlos ausstreuen. Besser wäre es gewesen, die voreiligen Finger davon zu lassen, denn bekanntermaßen enthielt das Nähkästchen der Pandora nicht nur Knöpfe, Garne und Ösen. Darum also sein langes Zögern, uns Raymond vorzustellen. Wie dumm nur, dass sie sich haben überraschen lassen! Jochen, einmal in Fahrt gekommen, war so schnell nicht zu bremsen, wobei er Raymonds Redseligkeit, die wohl mit seinem Genuss einiger Gläschen Weinbrandverschnitt-Verschnitt in direktem Zusammenhang stand, schamlos ausnutzte, sich selber beinahe ganz vergessend und seinerseits auch einige Dinge preisgebend, die nun wirklich nicht für Raymonds Ohren bestimmt waren. Zumindest jetzt noch nicht. In seinem Übereifer rutschte Jochen dann sogar heraus, er hatte sich scheinbar nicht mehr unter Kontrolle, dass er Thomas schon einmal bei mir habe rausschmeißen müssen. Mir wurde bei dem Gedanken, wo das noch enden mochte, himmelangst und bange, und noch bevor Raymond nach dem Grund dafür fragen konnte, war es mir gelungen, das Thema zu wechseln.
Aber so wie angeblich alle Wege nach Rom führen, stießen auch wir bald wieder auf unser Lieblingsthema Thomas. Es war wie verhext, sooft wir auch das Thema wechselten, nur ein Stichwort genügte und wir waren wieder bei ihm. Raymond schwatzte aus, dass Thomas während der Schulzeit eine nicht näher bezeichnete Phase durchgemacht habe, die ihn zum Letzten in seiner Klasse degradiert hatte, dass es Fünfen am laufenden Band gehagelt habe und das er deswegen sitzen geblieben war, was aber noch vor der Jugendweihe gewesen sein muss, denn in deren Genuss wären sie nicht mehr gemeinsam gekommen. Ob sie denn bis dahin in eine Klasse gegangen seien, wollte Jochen wissen. Na klar, woher meinten wir denn, dass sie sich beide kennen würden, sagte Raymond, als würde sich jede andere Möglichkeit von allein verbieten. Und das sich Thomas solange nicht bei uns habe sehen lassen, hänge höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass er eine rein bekommen habe. Jochen und ich sahen uns belustigt an. Ob ihm denn ein buntes Veilchen blühe, fragten wir etwas schadenfroh. Die Frage konnte er uns nicht beantworten. Wir dachten dabei an das Veilchenbild, welches bei mir über der Liege hängt. Das Bild hat die Größe von einem Quadratmeter. Ohne Rahmen! Obwohl wir uns auf seine Kosten amüsierten, tat er uns doch auch leid. Thomas habe zwar auch die Tanzschule mitgemacht, wie alle aus der Klasse, von einem Tanzklub oder Tanzzirkel, in dem er angeblich sein wolle, wisse Raymond nichts. Als Jochen dann noch fragte, ob Thomas jemals Karate ausgeübt habe, wollte sich Raymond schier ausschütten vor Lachen. Obwohl ich allem interessiert lauschte, widerte mich das Ganze an. Ob er, Raymond, denn schon einmal mit zu seiner Oma war, bohrte Jochen. Er hätte schon des Öfteren sollen, meinte Raymond, habe es aber noch nicht geschafft. Dass sie bei Tessin wohne, stellte sich als richtig heraus, von einem Pferd wisse er aber auch nichts. Dass Thomas Klavier und Gitarre spielen könne, sollen wir getrost als ebensolche Luftnummer abhaken. Thomas hatte uns also tatsächlich haufenweise schillernde Seifenblasen in die Luft gepustet. Nun war eine nach der anderen davon zerplatzt. Übrig blieben nur die zahlreichen Westverwandten.
Ich hatte noch mehrmals das Thema zu wechseln versucht, ohne Erfolg. Nun verfluchte ich meine Leichtgläubigkeit. Ich ärgerte mich darüber, dass Jochen recht behalten hatte, mit seiner Meinung zu dem, was uns Thomas alles aufgetischt hatte und suchte für mich nach Entschuldigungen für Thomas, dem ich alles, vielleicht mit ein wenig Zweifel, aber doch geglaubt hatte. Ich hatte ihm gern geglaubt, weil ich es wollte. Ich sagte deshalb zu den beiden, sie sollten Thomas so nehmen, wie er ist, und sollten versuchen, ihn zu verstehen. Wenigstens bei uns hatte er etwas darstellen wollen. Raymond hatte nämlich auch gesagt, Thomas sei ein schüchterner Stubenhocker, der kaum aus seinen vier Wänden raus gekrochen komme, der kaum den Mund aufmache, wenn er mit mehreren zusammen sei, und ein einsamer Nachtschwärmer, der wie ein Komet alleine umherschweife.
Unmerklich war die Zeit verstrichen. Erst als um ein Uhr fünfzehn der Film „Wolfen“ geendet hatte, machte sich Raymond auf den Weg nach Hause.
Ich konnte lange Zeit keinen beruhigenden Schlaf finden. Mein Gehirn, oder das, was ich dafürhalte, drehte alles Gehörte und alle Erinnerungen an Thomas wieder und wieder durch einen großen Fleischwolf, doch alles, was dabei herauskam, war nur Mitleid und Sehnsucht.
Heute Morgen meinte Jochen beim Frühstück: „Mann, ist der geil! Der will was von dir. Alle wollen sie was von dir!!“ Das hörte sich zwar schmeichelhaft an, entspricht aber leider nicht der Wahrheit, auch wenn er dies noch so oft wiederholt.
„Von wem sprichst du jetzt?“
„Na von Raymond!“
„Wie kommst du denn auf das schmale Brett?“
„Wozu hat er denn gefragt, ob du heute Abend zu Hause bist!“
„Du hast doch gehört, dass er mit dieser Kitti rummacht.“
„Das nehme ich ihm nicht ab.“
„Er ist doch nur scharf auf die Klunker“, beruhigte ich Jochen.
„Die blaue Kette gibst du ihm aber nicht.“
„Nein, auf keinen Fall.“
„Ich bin mir ganz sicher, dass Raymond mitmachen würde, dass er sich nicht so bockbeinig anstellt wie Thomas.“
Am Abend, kurz nach neunzehn Uhr, kam Raymond erneut zu Jochen. Ich war gerade im Bad. Ich hatte doch tatsächlich gehofft, er würde zu mir kommen. Ich hörte Raymond erzählen, dass er nachmittags um halb drei, dann sei er aufgestanden, Thomas in seiner braunen Jacke gesehen habe und fragte nun, ob der hier gewesen sei. Jochen verneinte das. Als ich nach einer Weile zu ihnen ins Zimmer kam, begann Jochen seine Fragerei fortzusetzen, in deren Verlauf herauskam, dass der angegebene Beruf von Thomas‘ Vater, der Sprengmeister sein solle, stimmte, dass seine Mutter aber Sekretärin in Marienehe sei. Zu uns hatte Thomas gesagt, sie sei Rechtsanwältin oder Staatsanwältin. So genau hatte er sich nicht festlegen wollen. Als solches war sie aber bei Gericht nicht bekannt, soviel hatte Jochen auch schon herausbekommen, der seine Mutter in einem Rechtsstreit vor dieser behinderten Institution vertreten hatte.
Um viertel neun verabschiedete ich mich von beiden. Zu Raymond sagte ich mit einem Augenzwinkern: „Und lass dich nicht rumkriegen von ihm.“


Donnerstag, 27. Oktober 1988 - Montag, 31. Oktober 1988

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