Die Hoschköppe / 56. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 56. Kapitel

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Dienstag, 11. Oktober 1988


Am Nachmittag fuhr ich zum Blutspenden in die Südstadt. Dienstags ist die Blutspendezentrale nachmittags ab dreizehn Uhr geöffnet. Ich betrat um halb zwei die Anmeldung und erhielt die Nummer Zwanzig. Schon hier hatte ich warten müssen, dann vor dem Labor, beim Arzt und selbst im Abnahmeraum. Der Arzt, eigentlich war es eine junge Ärztin, meinte mit einem leichten Augenaufschlag, nachdem sie die Manschette von meinem Arm entfernt hatte, ich habe im Gegensatz zu sonst einen etwas erhöhten Blutdruck, es ginge aber gerade noch, und wollte dann wissen, ob ich mich gut fühle.
„Noch ja“, antwortete ich.
„Wir wollen auch hoffen, dass es so bleibt“, sagte sie dann, und auf den Blutdruck bezogen: „Wir werden sehen, wie er das nächste Mal ist.“ Erhöhter Blutdruck war bei mir noch nie diagnostiziert worden. Was man alles mit durchmachen muss! „Wieder DRK-Spende?“, fragte sie und hielt schon dafür den roten Stempel in der Hand.
„Ja.“
„Noch zwei und sie haben dreißig voll!“
„Das macht doch nichts“, stellte ich fest, aber die Ärztin war für meinen Scherz nicht zugänglich.
Nachdem ich im Gang lange genug auf einer der schlecht gepolsterten Bänke ausgeharrt hatte, währenddessen mein Augenmerk immer wieder auf die mir gegenüber hängende Informationstafel gefallen war, auch Wandzeitung genannt, auf der recht ausführlich über die Erfolge des sozialistischen Blutspendewesens berichtet wurde und auf der sich auch in der rechten unteren Ecke ein zaghafter Artikel (irgendwo ausgeschnitten) zum Thema AIDS versteckte, wurde ich in den Abnahmeraum gerufen, wo ich vorerst in einem der unter den Fenstern stehenden Sesseln Platz nehmen musste, da noch keine der vier Liegen frei war. Während ich und mein Nachbar, ein junger Mann, vermutlich ein Student mit zu geringem Stipendium, wartend um die Wette gähnten, musste ich unentwegt an meinen armen Blutdruck denken. Als ich dann endlich auf einer der Pritschen lag, mutig meinen rechten Arm durch die dafür vorgesehene Öffnung in der Trennwand der Schwester entgegengestreckt hatte und auf den brennenden Einstich wartete, musste ich zwangsläufig meinen Blick auf die scheußliche Zimmerdecke richten. Wird sie gleich die gewaltige Flügelkanüle in meine zarte Vene stoßen, wie beim letzten Mal, dachte ich, oder waren wieder genügend kleinkalibrige Kanülen vorrätig, mit denen man üblicherweise vorher eine lokale Betäubung vorzunehmen pflegt. Ohne Vorwarnung war die Nadel unter meine Haut gesaust und hatte das wenn auch kurzzeitige aber heftige Brennen verursacht. Also Betäubung, stellte ich erleichtert fest. Eigentlich hatte ich das letzte Mal auch nicht mehr gespürt, aber allein schon die Vorstellung, diesen Balken von Kanüle … Und dann dieses fürchterliche Grün der Decke. Und das Geschnatter der Schwestern über Gott und die Welt! Vor Jahren, als die Trennwand noch ihre Glasscheiben hatte, war man als Spender wenigstens davor sicher. Hier etwas gedämpfte Musik konnte ich mir ganz gut vorstellen.
Nachdem alles gelaufen war, musste ich mir die obligate heiße Bockwurst einverleiben. Natürlich eine aus dem Glas. Es war ihnen nichts zu schade. Dazu eine Tasse Kaffee und eine Tafel Schokolade. Einen Apfel, wenn’s die Natur und der Handel hergaben. Jetzt fiel mein unruhig umherschweifender Blick auf die über der Tür der Kantine befindliche Wanduhr. Sie stand. Das heißt, sie hing, aber ging nicht! Ich überlegte, konnte mich aber nicht daran erinnern, sie jemals in Funktion gesehen zu haben. Es gab noch mehrere Uhren in diesen Räumen, alle mit der gleichen Krankheit. Möglicherweise würde eine Transfusion wieder Leben in ihr ausgedörrtes Räderwerk bringen. Ungefähr eine Stunde hatte ich in diesem Haus zugebracht. Auf dem Weg zur Bushaltestelle riss ich den kleinen Pflasterstreifen vom meinem linken Ohrläppchen ab und warf es zusammengeknüllt ins Gebüsch.
Bei Jochen, der um diese Zeit natürlich noch nicht zu Hause sein konnte, er wollte ja wegen eines Anzugs wieder in die Stadt, sackte ich alle leeren Flaschen ein, ging damit in die Kaufhalle und von dort zur eigenen Behausung. Um sechs, dann wollte Jochen zurück sein, ging ich zu ihm. Jochen war gerade mit einem Bericht beschäftigt, den er zu schreiben hatte. Weil ich mir vorgenommen hatte, nicht so abweisend wie an den letzten Tagen zu sein, legte ich möglichst viel Zärtlichkeit in meine schnurrige Stimme und sagte zu ihm: „Tut mir leid, Mäuschen, aber nach dem Abendbrot muss ich gleich wieder nach Hause.“
„Ich weiß, du hast zu tun!“
„Nee, Eddi hatte heute angerufen. Er kann am Sonnabend nicht und ihm wäre es am liebsten, wenn wir das heute Abend machen würden. Er sagte, er hat mit dir gestern darüber gesprochen.“
„Stimmt, das hatte ich gestern ganz vergessen, dir zu sagen. Die machen mich aber auch fix und fertig im Betrieb. Die spielen mich so richtig kaputt. Wenn die so weitermachen, dann können die zusehen, wie die ohne mich fertig werden.“ Jochen schimpfte mächtig über seine Mitarbeiter, die ihn so im Stich gelassen und verraten hatten. Ich meinte tröstend, dass man da nichts machen könne, das seien nun mal die mitdenkenden und selbstständig handelnden Kollegen, die brächten eben nichts alleine zuwege.
Gegen halb sieben klingelte es. Mein spontan einsetzendes Herzklopfen wurde aber nicht belohnt, denn es war Raymond, den Jochen eingelassen hatte und mit dem er geraume Zeit im Korridor verhandelte. Nun war er gekommen, sich die Haarschneidemaschine auszuborgen. Ich kaute an einer Schnitte herum und war gespannt, ob er wohl ins Zimmer kommen werde. Er kam. Als Erstes fragte ich ihn, ob Thomas gestern Abend noch bei ihm gewesen sei und etwas von mir ausgerichtet habe. Ja, er sei da gewesen, aber aus dem, was er alles zusammengeredet habe, sei er nicht schlau geworden. Damit war das Thema abgehakt.
„Esst ihr immer um diese Zeit?“, fragte Raymond.
Ich hatte ihm die Frage kaum beantwortet, da erschien Thomas. Als hätte er draußen gestanden und nur noch auf sein Stichwort gewartet. Er mimte den Erstaunten, hier Raymond, seinen intimsten Busenfreund, vorzufinden. Jochen und ich aßen weiter. Thomas knabberte im Stehen etwas trockenes Brot. Raymond, der in Thomas‘ Sessel saß, denn er konnte es nicht besser wissen, hatte bereits zu Hause gegessen. Mit dem neuen Haarschnitt sieht er wirklich besser aus, dachte ich und beobachtete Raymond, und in diesen Klamotten macht er eine weit bessere Figur, als in jenem Gruftischwarz. Er scheint im Ganzen ruhiger und umgänglicher zu sein als Thomas, nicht so wetterwendisch und unberechenbar.
Zehn vor sieben verabschiedete ich mich von den Dreien. Ich bat sie in aller Form um Entschuldigung dafür, dass ich schon gehen müsse, denn ich werde um sieben Uhr Besuch erhalten. Weil Thomas gleich wieder aufmuckte, bestätigte Jochen meine Angabe. „Wenn es nicht zu spät wird, komme ich noch mal wieder“, versprach ich.
Eddi, der die Zeit nicht abwarten konnte, war mir schon auf halbem Wege entgegengekommen. Ich bestand diesmal darauf, dass Eddi die Belichtungen selber machen solle, da ich bereits die Nase voll habe von den vielen einzelnen Negativen, die er immer anschleppe. Eddi murrte zwar, aber was blieb ihm anderes übrig. Bis um neun wuselte jeder so gut er konnte vor sich hin, dann klingelte Jochen. Erst als wir alle Fotopapiere in Sicherheit gebracht hatten, durfte er eintreten. Er wolle nur mal sehen, meinte er zu Eddi, was wir hier so trieben. Gerade gestern erst habe er mir eine Standpauke gehalten, weil ich ihn so oft alleine ließe und nun glucke er, Eddi, hier herum und nehme mich auch noch in Beschlag. Jochen kam zu mir ins Bad und erzählte, dass Thomas wieder die beleidigte Leberwurst gespielt und die ganze Zeit nur von mir gesprochen habe. Ich legte mir den Zeigefinger senkrecht auf die Lippen, um Jochen Einhalt zu gebieten, er möge über dieses Thema nicht weitersprechen in Eddis Beisein.
Jochen war nicht lange geblieben. Er wolle gleich ins Bett gehen, sagte er. Mir stand das Planschen in den Fotoschalen schon längst bis zum Halse, dennoch wollte die Papierflut, die Eddi lüstern belichtete, schier kein Ende nehmen. Wenn auf den Bildern wenigstens etwas Gescheites drauf wäre!, wünschte ich mir. Was da aber in den Fluten geboren wurde, war mir in keinem Falle Anreiz genug, mit Lust durchzuhalten. Doch dann kam plötzlich und für uns unerwartet das Ende. Als Eddi endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, war es halb elf.


                                                                                                                        Neustrelitz, d. 5.10.88
 Lieber Friedemann!
Es ist 20. 00 Uhr! Edwin hat Fußball an u. ich sitze im großen Ki.Zi. u. will endlich Deinen Brief beantworten. Habe schon wieder ganz schön lange damit gewartet. Aber Du weißt ja, manchmal will man u. kann nicht, weil einfach immer etwas dazwischen kommt. Oder man ist nicht in Stimmung u. dann wird auch nichts draus. Werde mir jetzt große Mühe geben, damit es nicht wieder ein trauriger Brief wird, denn so ist mir zumute. Habe eben bei Mutti rein gesehen u. sie schläft so friedlich u. weiß u. ahnt nicht, wie mir zumute ist. Aber das viele Weinen hilft mir auch nicht, ich muß damit fertig werden, ich meine mit dem Gedanken, daß Mutti nun wohl bald ins Heim geht. Neulich kam die Karte von der Fürsorge, daß ein Platz für sie frei wird. Wann genau, ist noch nicht raus. Diese Nachricht kam am 30., genau an dem Tag, als unser Udo Hochzeit hatte. Edwin hat versucht, es mir zu verheimlichen, aber ein dummer Zufall ließ die Post aus der Zeitung fallen u. da war der Tag für mich gelau-fen. Obwohl er so schon für mich traurig genug war, so wie ich veranlagt bin. Es ist aber ansonsten alles gut u. in gegenseitigem Einvernehmen verlaufen. Es war nichts von all dem Vorhergegangenen zu merken gewesen u. das hat allen gutgetan. 3/4 10 war die Trauung. Sie kamen beide, d.h. alle drei (mit der Kleinen) in einer weißen Hochzeitskutsche mit 2 schwarzen Pferden. Es sah sehr schön u. traurig aus. Von uns waren alle mit Partner, aber ohne Kinder dabei. Von Maria auch die Eltern, ihre Schwester u. ihr Bruder ebenfalls mit Partner. Nach der Trauung haben Edwin u. ich unsere Mutti geholt u. es gab ein gemeinsames Mittagessen hier drüben in der VP-Schule. Danach sind Udo + Maria mit der Kleinen u. ihrer Schwester mit Mann u. Tochter nach Zinnowitz gefahren. Nun sollte ja eigentlich die Hochzeit aus sein, aber Edwin u. ich haben uns ganz kurz entschlossen u. haben all unsere Kinder u. Enkel u. dazu Marias Eltern noch mit zu uns genommen u. gemeinsam Kaffee getrunken. Es wurde ganz gemütlich u. Marias Eltern sind erst um 10.00 Uhr abends nach unten gegangen. Es hat uns auch nicht leid getan u. vielleicht ist für eine Weile die „Eiszeit“ zwischen unseren beiden Fam. vorbei. Man braucht sich ja nicht die Türen einlaufen, aber man muß sich auch nicht aus dem Weg gehen.
Ach so ja, den Polterabend haben wir am 28., also am Mittwoch gefeiert u. das ganz ausgiebig. Udo hatte hier draußen ein Zelt aufgeschlagen. Es gab Kesselgulasch u. Bratwurst u. da beide ja in der VP-Schule tätig sind, waren es so an die 60 Pers. 50 Stühle hatte er u. den Rest haben wir noch von oben geholt. Sogar Edwin war in Stimmung u. es hatte glücklicherweise keine Folgen für ihn u. uns. - Sonntag haben Volkmar, Alex u. Wolfram unsere Kartoffel gebuddelt u. gestern u. heute hat Edwin die Runkeln raus gemacht u. ich habe sie ihm in den Keller geholfen. Das wäre also auch wieder geschafft.
Ach nein, ich schreibe u. schreibe u. immer nur von uns. Bin doch wieder so richtig in Fahrt gekommen. Also mein lieber Friedemann, wie geht es Dir? Was machen Deine Sorgen? Ich habe mir oft Gedanken über alles gemacht u. komme immer wieder zu dem gleichen Punkt. Bitte überleg Dir genau, was Du machst. Ich meine das mit Jochen. Euch verbinden doch schon einige Jahre u. ich denke, Thomas ist noch zu jung u. könnte Dich eines Tages enttäuschen u. Du stehst mit leerem Herzen u. Händen da. Es muß ja nicht so kommen, aber es wäre doch möglich. Also überstürze nichts. Manchmal löst die Zeit auch ein Problem. So mein lieber Friedemann, ich glaube, für heute reicht es wieder einmal, nicht wahr. Ich freue mich schon auf Deinen nächsten Brief. Auch auf Deinen Besuch, wenn Du Dich dazu entschließen würdest. Du brauchst wirklich keine Angst oder Hemmungen haben, es hat sich nichts geändert, das kannst Du mir glauben.
Also mein „Kleiner“, viele liebe Grüße u. ein Küßchen
                Deine „große“ Schwester Edeltraud
                                    Edwin läßt grüßen!
Nun aber Schluß, ich glaube, mein Kuli geht zu Ende, er kleckert
schon mächtig u. ich bin schon ganz blau an den Händen.
6.10  Guten Morgen!
Will noch schnell den Umschlag fertig machen u. den Brief zum Kasten bringen. Es ist erst kurz vor 7.00, aber Edwin muß d. Auto in die Werkstatt bringen, die Bremse geht nicht. Dazu mußte er sich aber die Ersatzteile hier u. dort unter der Hand kaufen, damit der KIB die Reparatur machen kann. Das muß man sich mal vorstellen.


Montag, 10. Oktober 1988 - Mittwoch, 12. Oktober 1988

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