Die Hoschköppe / 57. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 57. Kapitel

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Mittwoch, 12. Oktober 1988


Heute sah ich Thomas ungefähr eine halbe Stunde lang, mehr nicht. Leider! Als ich um halb sechs zu Jochen kam, saßen die beiden gerade über Astronomie. Sie hatten einen großen weißen Bogen Papier vor sich, auf den sie die Kreisbahnen der Planeten um die Sonne zu zirkeln versuchten. Wozu das gut sein konnte, blieb mir rätselhaft. Ich nahm aber mit besonderer Befriedigung wahr, dass Thomas recht nett zu mir war, irgendwie anders als in den letzten Tagen. Da ich ihm zur Begrüßung nicht die Hand gegeben hatte, ich hatte nur ein flüchtiges „Hallo!“ ins Zimmer geworfen, denn ich weiß nie, wie‘s Thomas gerade an der Mütze ist, forderte mich Jochen auf, Thomas doch wenigstens einen Kuss zu geben, denn er habe auch einen bekommen!
„Das hab ich grade gern: auf Befehl!“, sagte ich, hätte aber nichts lieber getan.
Thomas, vielleicht in seiner Hoffnung enttäuscht, sah wieder auf seinen Mars und ich zeigte Jochen einen nicht ernst gemeinten Vogel. Als Thomas dann zum Essen nach Hause ging, begleitete ich ihn bis zum Zeitungskiosk, denn ich hatte aus der Kaufhalle ein halbes Brot zu holen. Das frische Schrotbrot, das ich aus Gehlsdorf mitgebracht hatte, ließ sich beim besten Willen noch nicht in Scheiben schneiden. Thomas hatte zwar angekündigt, er wolle nach dem Abendbrot wiederkommen, ließ uns aber vergebens warten.
Als ich aus der Kaufhalle zurück war, erzählte Jochen, dass Thomas ihn um fünf aus der Badewanne geklingelt habe.
„Ach so?“ Ich zwang mich zu einem Schmunzeln. „Was war denn gestern Abend alles so los“, wollte ich wissen.
„Ach, eigentlich nichts Besonderes. Außer, dass Thomas laufend betont hat, ich kann ihm mal am Arsch lecken. Er hat das verlockende Angebot so oft wiederholt, dass ich nicht anders konnte, als ihn herauszufordern. Ich hab von ihm verlangt, dass er bitte zu diesem Zwecke die Hosen runterlassen möchte. Aber das passte ihm überhaupt nicht in den Kram, weil Raymond zugegen war. Verständlicherweise. Raymond hat die ablehnende Reaktion von Thomas auch nicht verstanden. Wenn er erst so groß rum tönt, dann muss er hinterher auch die Konsequenz tragen, hat der gesagt. Raymond scheint mir auch ein ganz geiles Stück zu sein“, stellte Jochen fest, „als Thomas die Rede auf Long Dong gebracht hat, wollte Raymond die Bilder auch unbedingt sehen. Sonst ist nichts weiter passiert.“
Wieso kennt Thomas eigentlich Long Dong?, fragte ich mich, während Jochen mal kurz ins Bad ging. Hatte Jochen nicht gestern Abend behauptet, Thomas habe die ganze Zeit nur von mir gesprochen?
Plötzlich tauchte Jochen leise in der Stubentür auf und winkte mich zu sich: Ich solle einmal durch den Spion sehen, draußen stehe ein außerordentlich hübscher Bengel bei Markus. Vorsichtig hob ich den dunkelbraunen Wildlederfetzen an, der das Loch abdeckt, und brachte mein Auge in Positur. Ja, Jochen hatte recht, der hätte mir auch gefallen können. Er war schlank, trug einen Jeansanzug, ein blaues Hemd, blonde Haare und eine Brille. Von seiner Unterhaltung mit Markus bekam ich immerhin so viel mit, dass es auch um uns ging. Auch über Thomas wurde geredet, wobei sie aber nur seinen Nachnamen benutzten. Der andere fragte, ob Pohl denn auch schwul sei. Das glaube er nicht, meinte Markus. Ich war solange hinter der Tür geblieben, bis beide fort waren.
Er sei furchtbar müde und kaputt, er habe die letzte Nacht fast gar nicht geschlafen, habe fortwährend über die Arbeit nachgrübeln müssen, meinte Jochen. Dann solle er schleunigst ins Bett gehen, empfahl ich ihm, ich wolle dann nach Hause gehen. Es war erst halb neun. Ich werde aber noch bis um elf wach bleiben.


Dienstag, 11. Oktober 1988 - Donnerstag, 13. Oktober 1988

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