Die Hoschköppe / 58. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 58. Kapitel

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Donnerstag, 13. Oktober 1988


Endlich von der Arbeit zurück als Erstes einen der drei Fensterflügel geöffnet, um andere Luft hineinzulassen, schaltete dann das Radio ein und ging in die Wanne. Es zog! Wieder raus aus der Wanne und Fenster geschlossen. Retour zur Wanne. Nachdem ich mich einigermaßen theatertauglich ausstaffiert hatte, denn es ist wieder Theaterdonnerstag, begab ich mich zu Jochen, der noch immer dabei war, sich fürs Theater fertigzumachen.
„Morgen gehe ich in die Sauna“, unterrichtete ich Jochen auf dem Weg zur Bushaltestelle.
„Aber wir essen doch noch vorher?“, fragte er.
„Klar esse ich vorher noch!“
„Zu halb sieben fahren wir dann hin.“ Damit deutete er an, mitkommen zu wollen.
„So spät? Ich dachte, du willst vorläufig nicht hin, wegen deines Rückens.“
„Als wir Freitag vor vierzehn Tagen dort waren, war es auch so um die Zeit. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich alleine hinlasse, wenn der andere vielleicht auch da ist. Diesmal kommt er bestimmt allein“, vermutete Jochen.
„Ich würde mich freuen, wenn er wirklich da wäre und dann mit dir mitginge“, sagte ich und erläuterte den Grund meiner Freude, den Jochen natürlich vorhergesehen hatte.
Wie gingen nur langsam, denn wir hatten noch genügend Zeit. Der Nebel, der erdrückend schien und alle Bilder auflöste, war inzwischen noch dichter und schwerer geworden. Hoffentlich würde der Bus uns nicht wieder versetzen, was diesmal nicht verwunderlich wäre. Kaum waren wir an der Haltestelle zum Stehen gekommen, als Babsi, dick eingemummelt in einen neuen Anorak, dazu stieß. Ihre Nachbarsleute würden wohl nicht kommen, denn er sei bestimmt wieder krank, meinte sie. Und die Omi käme auch nicht, die sei zu ihrer Tochter gefahren, meinte sie. Das letzte Mal, sagte Babsi weiter, habe sie vorher noch ihren Rucksack gepackt, weil sie nach dem Theater gleich verreisen wollte, und sich dann noch ein wenig aufs Ohr gelegt, um vorzuschlafen. Als sie dann wieder aufgewacht war, sei es fürs Theater schon zu spät gewesen. Na und, wäre sie rechtzeitig munter geworden, dann hätte es ihr auch nichts genützt, wie sie hinterher gehört habe. Sie habe inzwischen mit mehreren Leuten gesprochen, die die Vorstellung erlebt und mit Begeisterung von der Zauberflöte gesprochen hätten. Wenn die Inszenierung eben so toll sei, dann müssten wir uns eigentlich um neue Karten bemühen, schlug ich vor. Wir bekämen sie dann bestimmt zum Anrechtspreis.
Der Bus kam. Pünktlich, trotz Nebel. Unterwegs stiegen nur noch wenige Leute dazu. Mit ganzen neun Personen fuhr der große Bus zur Stadt rein, wo er uns in der Langen Straße entlud. Bis zum Kleinen Haus mussten wir zu Fuß durch schlecht beleuchtete Hinterhöfe schleichen und über halsbrecherisches Pflaster stolpern, dass noch aus der Zeit Karls des Großen stammt. Bis zum ersten Aufzug bot sich uns gerade noch so viel Zeit, der Freizeitgarderobiere die Klamotten auf den Tresen zu werfen und an der Bar die Bestellung des Pausenmartinis aufzugeben. Neben Jochen eingeklemmt in meinem Sitz in der zweiten Reihe, graute es mir vor den beiden Stücken, die hinter dem Vorhang auf ihre wenigen Opfer lauerten. Nie Bulgakow, hatte ich mir beim Lesen des Programmheftes vorgenommen. Wie töricht meine Voreingenommenheit war, stellte sich schon während des ersten Stückes heraus, in dem es um einen talentierten Hobbyerfinder in einer Moskauer Mietswohnung und dessen grandioses Geistesprodukt ging, einer sogenannten Zeitmaschine. Mit diesem Teufelsding sollte man angeblich wahlweise in die Vergangenheit oder in die Zukunft reisen können, ganz wie es einem beliebte. Die Verwicklungen in diesem Stück, die dem Publikum viele Male Anlass zum Lachen gaben, resultierten daraus, dass der Apparat wider Erwarten funktionierte und einen beflissenen Genossen Hausmeister und einen weiteren kleinen Ganoven, der anscheinend gerade von einer längeren „Abwesenheit“ nach Moskau heimgekehrt war, in den Palast Iwans des Schrecklichen transferierte. Durch äußerst widrige Umstände gelangte dafür Iwan der Schreckliche in die noch schrecklichere Gegenwart der Erfinderwohnung. Seine frappierende Ähnlichkeit mit dem Hausmeister machte es ihm leicht, in die Rolle eines Genossen zu schlüpfen, währenddessen in seinem Palast über dem Haupte des Hausmeisters die scharfe Klinge des Henkers schwebte. Die Akteure auf der beengten Bühne spielten sich die Seele aus dem Leib, was besonders die Besucher in den ersten beiden Reihen in Form von vergossenem Schweiß und fein versprühter Spucke genießen durften. Wer nicht eins sein wollte mit den Komödianten, war besser beraten, wenn er weiter hinten Platz genommen hatte. Dennoch dankbarer und enthusiastischer Applaus aus allen Reihen nach dem ersten Stück. Er war noch nicht abgeebbt, als eine jüngere Frau vor den geschlossenen Pausenvorhang trat, um mitzuteilen, dass es ihnen leidtäte, wodurch sie Aufmerksamkeit erregte. Manfred Gorr, der eben noch als Iwan über die Bretter, die doch eigentlich das Leben bedeuten sollen, gegeistert war, habe plötzlich eine Nierenkolik bekommen, etwas sehr Unangenehmes und Schmerzhaftes, wie sie glaubhaft versicherte, könne aufgrund dessen nicht weiterspielen. Die junge Frau vom Theater war ermächtigt mitzuteilen, dass der heutige Theaterabend nun beendet sei, dass aber jeder mit den heutigen Karten diese Vorstellung noch einmal besuchen könne. Nun, diese Vorstellung ganz gewiss nicht, die war ja gelaufen. Das Besucherkollektiv bat um Übermittlung seiner Genesungswünsche. Eine Gagenkürzung würde ihn aber am ehesten auf den Weg der Besserung bringen. Er war dann auch von seinen Kollegen der Einzige, der nachher an der Bar fehlte. Es musste also etwas Ernstes sein. An der vertrauten Bar machten sie, als Menschen wie du und ich, nicht mehr her wie du und ich. Babsi, Jochen und ich saßen am Tisch vor dem Fenster, welches auf eine schäbige Gasse sah, auf den uns die Bardame die Martinis gestellt hatte. Genüsslich und mit Bedacht süffelten wir Tröpfchen für Tröpfchen. Beim Zerreden des Stückes wollten wir solange ausharren, bis uns der Bus abholen würde. Jochen und ich nutzten den Zwangsaufenthalt, um uns die zwei, drei hübschen Jungs etwas näher zu betrachten, die zusammen mit ihrer Klasse anwesend waren und auch noch nicht nach Hause wollten oder konnten. Mit dem Betrachten hatte es allerdings so seine Schwierigkeiten. Entweder standen irgendwelche beleibte Damen im Wege oder Babsi drängte uns zur Unterhaltung. Als die Jungs gingen, nahmen sie mindestens drei entkorkte Flaschen Wein mit.


Mittwoch, 12. Oktober 1988 - Freitag, 14. Oktober 1988

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