Die Hoschköppe / 55. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 55. Kapitel

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Montag, 10. Oktober 1988


Auch in dieser Nacht habe ich nur mäßig geschlafen. Schon kurz vor vier war ich aufgewacht und bis zum Weckerklingeln nicht wieder eingeschlafen. Zu viele unfertige Gedanken waren in meinem Kopf herumgesprungen. Den Tag durchdöste ich dann bis in den Nachmittag hinein. Ich war auch noch nicht vollständig zu mir gekommen als um fünfzehn Uhr die Wahlberichtsversammlung begann, in deren Verlauf ich ohne Zögern wieder in die APO-Leitung gewählt wurde. Die anderen alten Leitungsmitglieder traf natürlich der gleiche Schicksalsschlag, den sie mit mehr oder weniger eingezogenem Genick hinnahmen. Es hatte sich Gott sei Dank nichts geändert, denn es sollte kein frischer Wind etwas durcheinander wehen, was sich so gut eingespielt hatte. Und wer verließ schon gerne eingefahrene Wege? Die rege Diskussion, die im Anschluss im Wahlprotokoll doppelt und dreifach abgerechnet wurde, fand ausschließlich zwischen dem scheidenden, aber gleich wieder neu gewählten APO-Sekretär, dem Chef der Betriebspoliklinik und unserem Gast statt, der im Auftrag der Betriebsparteileitung der Neptunwerft die Ordnungsmäßigkeit unserer Wahl zu verantworten hatte und ohne dem wir weit früher fertig geworden wären. Alle anderen Genossen hatten entweder nichts zu sagen oder trachteten nach Hause und verwünschten jede Verzögerung. Ich war nach der herzlichen Verabschiedung noch dageblieben, um mitzuhelfen, die nötigen Formulare und Protokolle in der geforderten Anzahl auszufüllen, die ich dann sofort zur Betriebsparteileitung schaffen musste, weil die das ausdrücklich erbeten hatte und deswegen ihre arme Tippse länger machen ließen. Alles wegen der Statistik. Im Protokoll war selbstverständlich hundertprozentige Teilnahme vermerkt, was sogar stimmte. Bei der Anzahl der Diskussionsredner mussten wir natürlich, wie schon angedeutet, ein paar draufschlagen, so, wie wir es in unseren Versammlungsprotokollen auch immer tun.
Als ich dann total kaputt zu Jochen kam, saß der wieder in seiner Couchecke unter der Leuchte und las in seinem Garp. Es war kurz vor sechs. Ich begrüßte ihn und verzog mich in die andere Ecke, sodass wieder viel leerer Raum zwischen uns brach liegen blieb.
„Warum bleibst du nicht hier neben mir sitzen?“, fragte Jochen.
„Ich sitze doch immer hier“, wich ich aus.
So saßen wir noch, als später Thomas klingelte. Jochen hatte ihn eingelassen und war mit ihm im Korridor stehen geblieben. Thomas gab die Haarschneidemaschine zurück und richtete von Raymond Grüße an Jochen aus. Der ließe fragen, hörte ich Thomas sagen, ob er die Maschine auch mal haben könne. „Er weiß doch, wo ich wohne. Kann er nicht selber fragen?“, antwortete Jochen darauf.
„Ich glaube nicht, dass der noch mal hierher kommt“, zweifelte Thomas.
Nach längerem und vollkommen unnützem Hinundhergerede fragte Jochen: „Willst du dich nicht ausziehen und reinkommen?“
„Ich weiß nicht, da sitzt doch noch jemand.“
Thomas hatte mit Sicherheit meine Sachen erkannt und wusste sehr genau, wer da saß. Nach kurzem Zögern legte er seine dann doch ab und kam ins Zimmer. Er gab mir einen außergewöhnlich festen Händedruck, wobei er sich zu mir herabbeugte und mit seinem Gesicht dem meinen ziemlich nahe kam. Weder in seinen Augen, die mich starr ansahen, noch in seiner Miene konnte ich erkennen, ob Thomas jetzt einen Kuss erwartete oder nicht. Vorsichtshalber und schweren Herzens hielt ich mich zurück, was sich dann prompt als falsch gehandelt herausstellte. Jochen, der nur gesehen hatte, dass sich Thomas zu mir gebeugt hatte, beschwerte sich sogleich, dass er noch nicht richtig begrüßt worden sei. Thomas sah mich enttäuscht an, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, und setzte sich mit geknickten Ohren in den Sessel am Fenster, in dem er ja meist saß. Jochen und ich deckten den Tisch fürs Abendbrot. Natürlich für drei. Thomas rührte aber nichts an. Als Jochen ihn zum wiederholten Male aufforderte, er möge doch endlich etwas mitessen, lehnte Thomas entschieden ab: Er esse hier nichts mehr und an dem Tee solle Jochen ersticken. Den Tee hatte ich ihm eingegossen! Am liebsten hätte ich jetzt seine Tasse genommen und ihm den Tee ins Gesicht gekippt. Warum deckte man für diesen widerlichen Kerl überhaupt noch mit auf?
„Soll ich Thomas jetzt sagen, was ich ihm alles ausrichten sollte?“, fragte Jochen in die entstandene Stille hinein.
„Nein, brauchst du nicht mehr!“, ärgerte ich mich über Jochen, der seine Frage sehr passend platziert hatte. Ich könnte ihn …
Thomas, neugierig geworden, wollte wissen, worum es dabei ginge.
„Es betrifft dich … und insbesondere Raymond“, verriet Jochen, was sehr gekonnt formuliert war. Auch er verstand es, den Schmiedehammer geschickt zu führen.
„Will er etwa wissen, ob ich mit Raymond geschlafen habe?“ Thomas sah Jochen lauernd an.
„Nein, darum geht es nicht …“
„Du möchtest Raymond in meinem Namen bitten, dass er mein schlechtes Benehmen am Sonnabend entschuldigt“, wandte ich mich rasch an Thomas, noch bevor Jochen weiterreden konnte.
„Das werde ich nicht tun!“, entrüstete sich Thomas. „Wie komme ich dazu? Das kannst du schön selber besorgen.“
„Na gut.“ Ich hatte in dieser Situation auch keine andere Reaktion erwartet. „Wenn du nicht vermitteln willst, dann muss ich es wohl selber tun, wenn ich ihn das nächste Mal hier sehen werde.“
„Ihn hier zu sehen? Die Gelegenheit wirst du wohl nicht noch einmal bekommen“, triumphierte er.
„Ich kann ja wohl schlecht zu ihm nach Hause gehen“, gab ich zu bedenken.
„Und warum nicht?“, fragte Thomas unschuldig. „Und außerdem könntest du ja auch schreiben.“
„Na, das wäre was. Ich klingele: Raymonds Mutter öffnet. Entschuldigen sie bitte, könnte ich ihren Sohn sprechen? … Die würde glatt nach hintenüber fallen! Ich wollte ja auch nur, dass er nicht denkt, es hätte irgendetwas mit ihm zu tun“, wiederholte ich mich, weil ich sehr darum bemüht war, bei Raymond in kein schlechtes Licht zu geraten.
„Denkt er aber! Der macht sich jetzt urst ne Birne“, sagte Thomas.
„Deswegen ja. Und außerdem hab ich gar nicht gewusst, dass er es war. Ich hatte ihn überhaupt nicht erkannt. Hab ja auch nur flüchtig ins Zimmer gesehen.“
„Hättest ja fragen können, wer alles da ist, habe ja lange genug bei dir gestanden“, wehrte Thomas ab, und zu Jochen gewandt sagte er: „Und du glaubst ihm den Scheiß auch noch!“
Weil wir uns sowieso schon in Fahrt geredet hatten und nichts mehr mein Herzklopfen steigern konnte, gab ich zu, wie alles am Sonnabendabend zusammengehangen hatte, dass ich gekränkt und enttäuscht gewesen war, sie so lustig vorgefunden zu haben, dass die Pissnelke dann das Tüpfelchen auf dem i gewesen sei und dass ich mir nach meinem Gehen gar nicht so sicher war, richtig gehandelt zu haben.
„Wenn schon, dann Pissbär!“ verbesserte mich Thomas.
„Entschuldige, dann eben Pissbär.“ Es sollte alles seine Richtigkeit haben.
Jochen fühlte sich wieder einmal verpflichtet, für mich und gegen Thomas, das etwas klemmende Schwert der Gerechtigkeit aus der Scheide der Blindheit zu ziehen. Es sei durchaus nicht recht, jemanden, der gerade erst kommt, so zu benennen. Wollte er damit gesagt haben, Thomas hätte mit seiner Schmeichelei erst eine Anstandsminute abwarten sollen? Jochen sagte dann, die verfahrene Situation zusammenfassend beurteilend: „Ihr bekriegt euch auf meine Kosten! Ich kann dafür den Rücken herhalten. … und sitzt dabei im selben Boot!“ Hatte er damit ausdrücken wollen, dass wir uns, wohl, weil er mich und Thomas im selben Boot segeln glaubte, in unserem Kampf gegeneinander gar nicht ernsthaft verletzen wollen? Das wir nur so tun als ob? Jochen hatte oft genug miterlebt, dass ich nie etwas Ernsthaftes gegen Thomas vorgebracht habe, wenn es knisterte im Karton, dass ich mich immer auf dessen Seite geschlagen habe, wenn Jochen meinen Standpunkt erforschte.
„Du bist längst aus dem Boot raus!“, sagte Thomas zu ihm, als wolle er meine Gedanken bestätigen.
„Dass am Untergehen ist!“, befürchtete ich. Jochen sollte froh sein, nicht mehr mit drin zu sitzen. „Und du stehst auf festem Boden und siehst zu.“ Ich sah Jochen an.
„Ich, mit dem in einem Boot?!“ Bei Thomas schienen sich ob dieser Vorstellung die hübschen Nackenhaare zu sträuben.
Da Thomas bei dieser Aussage niemanden angesehen hatte, bin ich mir jetzt nicht im Klaren darüber, wen er damit meinte. Auf dieser Ebene ging es munter fort. Jochen hatte darüber noch die Kraft gefunden, den Tisch abzudecken. Die Schüssel mit der Pflaumensuppe war aber vor Thomas stehen geblieben, der Jochens Aufenthalt im Bad dazu ausnutzte, sie bis auf den Boden leer zu essen. Dies war ganz sicher unbewusst und gegen seinen Willen geschehen, denn als Jochen ihm vor einer halben Stunde davon angeboten hatte, tat Thomas noch so, als müsse er sich allein bei deren bloßen Anblick sofort, und ohne es abwenden zu können, in hohem Bogen hinter die Gardine erbrechen. Es war eine wahre Freude mit anzusehen, wie es ihm schmeckte.
Jochen hatte sich inzwischen beruhigt, ich schwieg sowieso, und Thomas flüchtete sich in Bauchschmerzen, die ihn akut bedrängten. Das Bügeleisen der guten Frau Böck wäre jetzt vonnöten gewesen, er fragte aber nach Tabletten. Dazu müsse er erst das Ohr an seinen Bauch legen und hören, was darin vor sich gehe, meinte Jochen. Thomas lehnte aber jegliche äußere Gewaltanwendung strikt ab. Jochen verabreichte ihm aus seiner Naturapotheke oral einen Esslöffelvoll widerlich schmeckende Schafgabenbrühe oder etwas in dieser Art, woraufhin Thomas bald spürbare Besserung vermeldete. Die Naturheilkräfte dieses Krautes waren auch der allgemeinen Stimmung zugutegekommen. Wir hörten elektronische Musik, die Thomas selber auf zwei Kassetten mitgeschnitten hatte. Mir gefiel sie. Natürlich! Ich fragte Thomas, ob ich die eine davon mit nach Hause nehmen könne. Ich befürchte aber, damit Thomas nur eine Freude machen zu wollen. Nur damit, dass ich die Kassette mitnehmen wollte! Die Musik gefällt mir wirklich. Außerdem hatte Thomas sein Lesebuch mitgebracht. Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ musste sich gefallen lassen, von mir in mehreren Anläufen und auch dann nur ruckweise und unverstanden zerhackt zu werden. Jochen, dem davon die Ohren wehtaten, griff sich das Buch, mit dem schon mehrere Generationen unwilliger Schüler gekämpft zu haben schienen, und begann selbst zu rezitieren. Seine beiden Zuhörer schlossen die Augen und sahen Jochen, von einem weiten schwarzen Talar umflattert, auf dem eine exotische Brosche funkelte, wider den Teufel predigend auf einer verschnörkelten Kanzel stehen. Thomas, der die Ballade für seinen Lehrer lernen musste, versündigte sich an ihr als dritter. Da wir alle drei an unserem Kulturerbe unerwartet Freude fanden, ließen wir unser Talent auch noch an anderen Stücken aus.
Als Thomas aufbrach, er wollte noch zu Raymond, er hatte sich nun doch dazu durchgerungen ihm meine Bitte vortragen, schieden wir drei wieder als Freunde voneinander. Jochen wunderte sich darüber, dass Thomas, wenn der nicht wegen des Essens, also materieller Dinge wegen, zu uns komme, sondern vielmehr wegen ideeller, wie er es erst heute Abend wieder betont hatte, selber so wenig zu einem besseren Klima beitrage.
Gegen halb neun fragte ich, ob ich jetzt gehen könne, denn ich hätte noch zu tun. Jochen nahm es nickend hin. Ich zog mich an und reichte Jochen zum Abschied die Hand. Üblicherweise bekam er einen Kuss, wenn ich ging. Darin, dass er heute nur mit einem Händedruck abgespeist wurde, lag aber keinesfalls kalte Berechnung, es drückte vielmehr meine Verwirrtheit aus. Jochen hatte diese, eigentlich nicht nennenswerte Verfehlung aber gleich zum Anlass genommen, mir eine ganze Reihe von Vorwürfen mit auf den Weg zu geben. Mit einer dem Weinen nahen Stimme fragte er wieder, ob ich so langsam aber sicher meinen Abgang einleiten wolle. Das brauche er sich keinesfalls bieten lassen, wie ich ihn in der letzten Zeit behandle. Ich käme nur noch zum Essen, und wenn ich dann da sei, lediglich eisiges Schweigen. Für die Arbeit wäre er gut genug. Ich scheine ihm selbst nichts mehr zu sagen zu haben, aber anderen dürfe er etwas ausrichten von mir.
Jochen hatte sicher recht und ich konnte seine Verbitterung ganz gut nachfühlen. Mein Versuch, mich zu verteidigen, verschleierte den wahren Grund unseres allmählichen Auseinanderdriftens und war deswegen vollkommen untauglich: Ich wolle auch einmal allein sein dürfen und wir beide in einer gemeinsamen Wohnung, das könne nie im Leben gut gehen. Und mit Thomas habe das alles überhaupt nichts zu tun! Dass es mit dem nichts zu tun habe, habe er schon gemerkt, meinte Jochen. Ich wolle wohl das Terrain vorbereiten für einen anderen. Aber hier irrte der Dichter, denn das war es nicht, was ich wollte. Ich beteuerte hoch und heilig, gar nicht fort zu wollen von ihm. Unter wessen Dach solle ich denn essen und wer würde schon meine schmutzige Wäsche waschen, wenn nicht er, scherzte ich. Es sollte wirklich nur ein harmloser Scherz sein, aber damit stieß ich unser Problem nur ins Lächerliche. Unser Leben auf Erden wird erst dann seine Erfüllung finden, wenn sich hinter Luzifer die Höllentore für immer schließen, denn wir sind von Natur aus gut.
Zu Hause trocknete ich bis um zehn Uhr Fotos. Nebenbei dudelte die Kassette von Thomas. Im Takt der Musik füllte ich das letzte Pflaumenmus in Gläser. Jetzt muss nur noch der Topf sauber geschrubbt werden. Aber nicht mehr heute. Lieber will ich im Bett noch bis um elf lesen.


Sonntag, 9. Oktober 1988
- Dienstag, 11. Oktober 1988

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