Die Hoschköppe / 54. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 54. Kapitel

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Sonntag, 9. Oktober 1988


Nach einer sehr unruhigen Nacht war ich um halb neun aufgestanden, mehr müde als ausgeschlafen. Es regnete! Frühstück: das ganze Wochenende ohne ein einziges Frühstücksei. Jochen hatte sich schon bitter darüber beklagt, dass ich gar nicht mehr zu ihm reinkäme.
„Nach dem Frühstück gehe ich nach Hause, die Abzüge entwickeln“, erklärte ich, was ich dann auch tat. Es war an diesem trübtraurigen Sonntagmorgen zu keiner weiteren Konversation gekommen. Ich strebte in die eigene häusliche Einsamkeit, weil ich mit mir allein sein wollte, was Jochen zwangsläufig dazu verdammte, auch allein zurechtkommen zu müssen. Erst um zwölf ging ich zurück. Jochen hatte inzwischen Koteletts gebraten, Pflaumensuppe gekocht und einen Pflaumenkuchen gebacken. Ich riss als Erstes das Fenster auf und nahm mir dann die Wochenpost vor.
Beim Essen fragte Jochen: „Hast du alles geschafft?“
„Nein, ich habe den ganzen Vormittag mit den verdammten Pflaumen zugebracht. Ich kann bald keine mehr riechen.“ Mehr wurde auch jetzt nicht gesprochen. Ich starrte vor mich hin oder sah durch die Gardine nach draußen, wo meine Blicke immer wieder Thomas‘ Fenster suchten. Es stand weit offen.
Jochen beobachtete mich. „Was hast du?“, fragte er.
„Nichts. … Ich bin traurig.“ Was ich diese Frage hasse!
„Wieso traurig?“
„Ach, nur so.“ Als der Tisch abgeräumt war, sagte ich: „Ich gehe jetzt wieder zu mir, die Fotos entwickeln und schreiben. Falls Thomas kommen sollte und nach mir fragt, kannst du ihm sagen, die Pissnelke kommt frühestens zum Tee, wenn überhaupt, und er möge mir verzeihen, dass ich ihn trotzdem noch immer liebe. Er soll mir deswegen nicht böse sein.“ Jochen nahm meine Bitte hin, ohne etwas dazu zu sagen.
Ich hatte von den Negativen, die mir Eddi am Freitagabend mitgegeben hatte, nur einige wenige für wert befunden, um davon Abzüge zu machen, weswegen ich mich pünktlich zu halb vier bei Jochen zurückmelden konnte. Unterwegs überlegte ich mir, was ich zu Thomas sagen wollte, sollte er da sein. Und ob es Raymond möglicherweise beeindruckt, wenn ich ihn für mein Verhalten um Entschuldigung bitte, kam mir in den Sinn.
Jochen lag noch zugedeckt auf der Liege. Er war allein und hatte geschlafen. Ich setzte Teewasser auf und ging dann ins Bad, mich zu rasieren.
Wieder kaum ein Wort. Diesmal ging das Schweigen aber von Jochen aus. Thomas‘ Fenster zeigte sich noch stummer. Jochen hatte gestern in der Stadt zwei Platten gekauft, die ich nacheinander auflegte: Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 7 A-dur op. 92 mit den Sätzen Poco sostenuto - Vivace, Allegretto, Presto und Allegretto con brio und Die Weihe des Hauses Ouvertüre C-dur op. 124 gespielt von der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Jeffrey Tate; dann Richard Wagners Sinfonie C-dur mit den Sätzen Sostenuto e maestro. Allegro con brio, Andante ma non troppo, un poco maestoso, Allegro assai und Allegro molto e vivace und Siegfried-Idyll. Diese Platte war mit dem Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin aufgenommen. Dirigent Heinz Rögner. Jochen saß in der anderen Couchecke kilometerweit weg und las. Mit den letzten Klängen stand ich auf, um das Abendbrot vorzubereiten. Gesprochen wurde wieder nur das Nötigste: dass morgen kein Brot gekauft werden brauche, Butter sei auch noch da und was in der kommenden Woche alles anliege.
„Hat Raymond sein Haar anders?“, fragte ich.
„Ja.“
„Ach deswegen habe ich ihn nicht erkannt. Waren Thomas‘ Haare geschnitten?“
„Nein.“
„Falls Thomas kommt: Er möchte Raymond von mir Grüße ausrichten und sagen, dass ich ihn um Entschuldigung bitte wegen meines schlechten Benehmens gestern Abend. Er soll nicht denken, das hätte was mit ihm zu tun.“ Damit ließ ich Jochen allein, der mir ziemlich niedergeschlagen nachsah.

Sonnabend, 8. Oktober 1988 - Montag, 10. Oktober 1988

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