Die Hoschköppe / 53. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 53. Kapitel

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Sonnabend, 8. Oktober 1988


Unvermittelt, aber mit gewohnter Gewalt riss mich der unscheinbare Radiowecker aus meinen Träumen, denn ich träume jede Nacht. Es ist nur schade, dass ich mich am Morgen danach nicht immer an alle Einzelheiten erinnern kann, denn es sind meist schöne Träume. In ihnen durchlebe ich ferne Zeiten und fremdartige Welten, in denen meine süßesten Wünsche wahr werden. Wenn ich irgendwann einmal Geld im Überfluss haben sollte, kaufe ich mir als Erstes einen Traumrekorder. Versprochen.
„Schlaf weiter!“, sagte Jochen so sanft wie für diese frühe Morgenstunde möglich. Er hatte sich beim Stellen des Weckers um eine volle Stunde vertan. Um halb sieben warf er mich dann wirklich und gnadenlos aus dem Bett. Meine Lust hielt sich in engen Grenzen, zumal es draußen noch immer regnete. Es hatte schon die ganze Nacht Bindfäden gegossen.
„Bei diesem Sauwetter scheuchst du mich in die Stadt, als hättest du kein liebendes Herz im Leibe?“, beschwerte ich mich.
Mit aufgespannten Schirmen wateten wir durch die schier uferlosen Pfützen von einem Geschäft zum nächsten. Während unserer Odyssee fanden wir im Centrum einen Anzug, der uns ganz gut gefiel: dunkel, mit dezenten Streifen und über sechshundert Mark der DDR teuer. Wir schlugen nicht sofort zu, sondern ließen ihn vorerst hängen, um uns auch noch anderweitig umzusehen, kamen aber bald auf ihn zurück, nachdem wir weitere drei einschlägige Fachverkaufsstellen ohne günstigere Angebote aufgesucht hatten. Erfreut darüber, dass dieses schöne Stück auf ihn gewartet hatte, zerrte Jochen den Bügel, auf dem der Anzug hing, vom Ständer und schritt mit ihm zur nächsten Probierstube, wo schon mehrere Leute ausharrten, alle mit irgendeinem Fummel über dem Arm. Ich stellte mich derweil an einer anderen Kabine an. Geduldig traten wir von einem Bein aufs andere, ohne es übel zu nehmen, mal von hinten, mal von den Seiten angerempelt zu werden. Es war erstaunlich, wie viele Leute es bei diesem Wetter aus dem Haus getrieben hatte. Als Jochen dann endlich in die freigewordene Kabine schlüpfen konnte, den Vorhang hinter sich zugezogen und die Jacke anprobiert hatte, die ausgezeichnet passte, stellte er mit Entsetzen fest, dass die Hose von gänzlich anderer Größe war. Das Muster passte immer hin. Die auf meine Bitte hin herbeigeeilte Kollegin Verkäuferin meinte, dass das schon mal vorkomme und sie werde gleich nachsehen, ob noch was am Lager sei. Sie war sehr nett, musste uns aber trotzdem einen abschlägigen Bescheid geben. Es sei das letzte Exemplar, was da hinge und vielleicht wollten wir doch …? Wir wollten natürlich nicht! Das war nun wirklich das Allerletzte. Wir lehnten dankend ab und machten uns auf den Weg zur Straßenbahn. Auf der Treppe ins Erdgeschoss sagte ich dann zu Jochen, aber vielleicht hatte ich es in dem Gedränge auch zu jemand anderem gesagt: „Genauso habe ich es kommen sehen: du fährst leer zurück und ich habe wieder einen Haufen Geld ausgegeben.“ Ich hatte mir nämlich inzwischen eine Jacke aus derbem grauem Jeansstoff gekauft. Und zwar das gleiche Modell, welches ich in Warnemünde wegen des Preises hatte hängen lassen.
„Glaube nicht, dass dies das letzte Mal war, dass wir wegen eines Anzugs in die Stadt gefahren sind“, drohte Jochen.
„Öfter kann ich mir das aber nicht leisten“, jammerte ich.
Während wir auf dem Bahnsteig die S-Bahn erwarteten, fummelte Jochen von seinem Schlüsselbund meinen Wohnungsschlüssel los, denn ich wollte von der Bahn aus gleich zu mir nach Hause gehen, um mir trockene Klamotten anzuziehen. Mein Schlüsselbund lag warm und trocken auf Jochens Flurgarderobe. Es lag auch noch dort, als ich hinkam. Viel Zeit war nicht mehr, wollten wir den Bus um elf Uhr fünfzehn nach Evershagen noch schaffen. Gerade als wir gehen wollten, klingelte es. Jochen sah gehetzt durch das gläserne Loch in der Tür, öffnete und ließ Thomas rein, der ebenfalls pudelnass war. Er käme eben von seiner Schwester, meinte er und setzte einen Beutel voller Äpfel für einen Moment ab. Ob wir auf Derby wollten, fragte er. Jochen sah ihm in die regentränennassen Augen und erklärte, dass wir im Begriff seien, zu seiner Mutter zu fahren, die heute Geburtstag habe, und dass wir aber mit Sicherheit zum Abendbrot zurück seien. Er sei nur gekommen, um den gestrigen Abend zu erläutern, entschuldigte Thomas sein Eindringen und fragte Jochen, ob er ihm nachgegangen sei?
Nachgegangen? Wieso war er auf den Gedanken gekommen, Jochen könne ihm nachspioniert haben? Hatte er etwas zu verbergen? Vielleicht deswegen seine komische Reaktion, dachte ich. Aber ein Großteil von dem, was wir zu wissen glauben, rührt aus Missverständnissen her.
Jochen konnte ihm lediglich bestätigen, dass er gesehen habe, wie er ins Haus gegangen sei. Ohne den vorherigen Abend wirklich aufzuklären, erbat sich Thomas die Haarschneidemaschine und ging dann mit uns zur hinteren Haustür. Unmittelbar davor hatte der Nachbarssohn Markus gemeinsam mit einem Freund ein Motorrad beim Wickel. Mit ölverschmierten Händen wühlten sie lustvoll in dessen Eingeweide. Wir drei hasteten vorsichtig und grüßend an ihnen vorbei ins Freie.
„Das war wohl nichts!“, vermutete ich.
„Auch, vergiss es!“, war Thomas‘ Kommentar dazu.
„Das konnte ja keiner ahnen“, bedauerte Jochen diese Begegnung, denn dieser Wurmfortsatz von Flur, in dem die beiden Motorfreaks auf dem gefliesten Fußboden hockten, war vom Hauptgang, aus dem wir gekommen waren, nicht früh genug einsehbar gewesen und es hatte keine Warnsignale gegeben, kein Werkzeuggeklimper oder die stöhnende Stimme von Markus, was uns den intimen Umgang mit der Maschine angezeigt und rechtzeitig gewarnt hätte. Thomas und Markus gehen in eine Klasse und sitzen angeblich sogar auf einer Bank nebeneinander. Aber auch das weiß man nicht so genau. Fast vor seiner Haustür verabschiedeten wir Thomas und spurteten zur Haltestelle, wo wir gerade noch den Bus erwischten.
Nachdem wir artig die wohlbehaltenen Chrysanthemen überreicht hatten, fanden sich alle am Geburtstagstisch in trauter Familienrunde zusammen. Ich saß neben Kati, mir gegenüber Jochens Mutter, daneben er selbst. Roland hätte eigentlich mitfeiern sollen, aber sein Schiff war noch nicht eingelaufen. Wir aßen gut und reichlich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, denn Jochens Mutter zeichnet sich unter anderem durch überdurchschnittliche Kochkünste aus, was ich dadurch gern honoriere, indem ich auch den Nachschlag jedes Ganges, der immer sehr viel reichlicher bemessen ist, restlos und mit wachsendem Appetit in mich hineinstopfte, wodurch ich regelmäßig gezwungen bin, im Anschluss die Hose zu öffnen. Während ich mich ganz der Verdauung hingab, berichtete Kati davon, wie es ihr bisher ergangen war, dass sie sich an ihrem fernen Lehrort gut eingelebt habe und dass das Internat sehr schön sei, auch wenn es sich dabei um ein sehr altes Fachwerkhaus handele, dessen altersschwache Balken hie und da verschütteten Fusel ausatmen, denn das krummbeinige Gemäuer hatte einst eine Gaststätte beherbergt. Alle hatten es bereits auf einer Ansichtskarte bewundern können. Die Einheimischen hätten natürlich lieber gesehen, es wäre eine Kneipe geblieben, denn die brauchten kein Internat, in dem fast ausschließlich Mädchen wohnten, was zwangsläufig nur Unruhe stiften konnte. Nur mit der Sprache habe sie noch so ihre Schwierigkeiten, aber immerhin, einige Vokabeln habe sie schon gelernt. Zum Glück könne man sich jederzeit hochdeutsch verständigen. Jochens Mutter las dann Rolands Brief vor, in dem er recht anschaulich alle Einzelheiten des Martyriums seiner Äquatortaufe schilderte. Mit Rücksicht auf sein berufliches Fortkommen wolle seine Mutter aber auf eine strafrechtliche Verfolgung des Kapitäns verzichten und ich auf den Abdruck dieses erschütternden Dokuments.
Jochen und ich mussten erst noch Abendbrot essen, seine Mutter hatte sich doch damit so viel Mühe gegeben, bevor wir nach Hause fahren durften.
Ich ließ mir von Jochen ein paar leere Marmeladengläser aushändigen und ging ohne mich lange aufzuhalten weiter zu mir nach Hause. „Wenn Thomas auftauchen sollte, könnt ihr ja hinkommen, aber wenn du mit ihm allein bleiben willst …“, hatte ich zum Abschied gesagt. Ich stieg in den Ring und bestand eine weitere Runde mit den wehrsamen Pflaumen. Pflaumen, Pflaumen und immer wieder Pflaumen, ich kann sie bald nicht mehr sehen! Es wird noch soweit kommen, dass ich nachts davon träumen werde, wie sich langsam der Deckel eines gigantischen Kessels seitlich anhebt und unaufhaltsam Pflaumenmus hervorquillt, das zuerst die Feuerstelle, dann die steinzeitliche Höhle und zuletzt das ganze Tal überflutet. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Nebenbei baute ich wieder den Vergrößerungsapparat auf und setzte neue Lösungen an. Dann schrieb ich eine Weile. Als ich auf die Uhr sah, war es schon drei Minuten nach zehn. Ich stand vom Schreibtisch auf, sah zu den bescheuerten Pflaumen und begab mich zu Jochen, den ich nicht noch länger warten lassen wollte. Immer musste er es ausbaden, wenn ich auf Thomas sauer war. Wer auch sonst?
Als ich Jochens Korridor betrat und wegen der geschlossenen Zimmertür das Licht eingeschaltet hatte, überraschten mich etliche Schuhe, die sich kreuz und quer unter der Flurgarderobe ausbreiteten. Alles hing voller Jacken. Hinter der Stubentür schien es lustig herzugehen. Waren das Bekannte von uns oder vielleicht Kollegen von Jochen, die sich eingeladen hatten, dachte ich im ersten Augenblick. Im ersten Fall gäbe es keine Probleme. Im zweiten Fall aber würden die sich sicherlich fragen, wie ich zu dem Wohnungsschlüssel gekommen war, würde ich so mir nichts dir nichts den Raum betreten. Ich wollte Jochen nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Aber nein, da lagen auch die vertrauten gelben Schuhe von Thomas, auch seine Jacke erkannte ich jetzt unter den anderen heraus. Aber wen mochte er alles mitgebracht haben? Ich war mir noch immer unschlüssig, ob ich reingehen solle oder nicht. Das Beste wird es sein, überlegte ich, die Tasche im Bad abzustellen und genauso leise zu verschwinden, wie ich gekommen war, von allen unbemerkt. Ich stellte die Tasche mit dem Berg schmutziger Wäsche dann aber in die Nähe der Stubentür, weil ich ein paar Wortfetzen erlauschen wollte, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
„Hallo Thomas!“, sagte ich erschrocken. „Ich wollte gerade wieder gehen.“ Was Besseres war mir so schnell nicht eingefallen. Ich warf einen hastigen Blick in die Stube, wo ich Jochen sitzen sah, den Tisch voller Flaschen und Gläser, das runtergezogene Rollo fiel mir sofort auf, und nur einen Fremden. Thomas ließ mich unbeachtet an der Tür stehen, vielleicht etwas enttäuscht darüber, dass es weder Hund noch Katze war, was er gehört hatte, trat vor den Fernseher und fummelte daran herum. Ich tauchte in den Hintergrund des Korridors ein und überlegte noch immer, ob ich reingehen solle oder nicht. Die eiskalte Abfuhr durch Thomas hatte mich dorthin zurückgestoßen, mein Verlangen nach ihm würde aber jeden Moment siegen.
Ich hatte mir eben die Jacke ausgezogen, als ich Thomas laut und deutlich sagen hörte: „Ist die Pissnelke ins Klo gefallen?“ Wenn wir unter uns sind, mögen wir gern mal über so manche Beleidigung hinweghören, zumal Thomas sie nicht immer als eine solche verstanden haben will. Sein Sprachgebrauch unterscheidet sich halt von dem älterer Herren, was zwar nicht immer leicht zu ertragen ist, aber lange verübeln konnten wir es ihm nicht. Diesmal war er aber entschieden zu weit gegangen. Ihm gehört der Arsch so weit aufgerissen, dass drei Panzer gleichzeitig darin wenden können, dachte ich und nahm meine Jacke wieder vom Haken, öffnete leise die Tür zum Treppenhaus und verschwand darin. Auf der Treppe erst zog ich sie an und draußen schlug ich den Kragen hoch, denn es nieselte und mein Schirm war zurückgeblieben. Ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen, ob ich nicht vielleicht zurückgerufen werde, ohne den feuchten Niederschlag in meinem Gesicht zu spüren, ging ich wütend nach Hause, wo ich mir einen tüchtigen Schuss Gin in ein großes Glas goss, welches ich mit Johannisbeerwein auffüllte. Ich setzte mich zurück an den Schreibtisch und nahm das gelbe Heft aus Holland mit den Literaturhinweisen zur Hand, das mir Detlef K. gestern Abend mitgegeben hatte. Ich blätterte darin ziellos umher und dachte fortwährend nur: bleibe ich oder gehen ich wieder hin? Ich wusste absolut nicht, was ich machen sollte.
Dann kam Jochen. Ganz aufgeregt wollte er von mir wissen, was nun schon wieder los sei, warum ich wieder abgehauen sei. Das hätte noch ein ganz flotter Vierer werden können, scherzte er.
„Eben deswegen“, entgegnete ich. „Ich hatte vergessen, den Herd auszuschalten“, entschuldigte ich mich mit zitternder Stimme.
„Na, warum hast du denn nichts gesagt?“
„Ich hab doch zu Thomas gesagt, dass ich gleich wieder gehen will.“
„Das ist bei dem aber ganz anders angekommen.“ Es seien nur Thomas und Raymond da gewesen, meinte er auf meine Frage nach den vielen Jacken. Sie seien aber jetzt auch gegangen. Er habe zu ihnen gesagt, er müsse erst einmal zu mir, um nachzusehen, was los sei.
„Immer dasselbe bei uns beiden“, meinte ich, „einer passt auf den anderen auf.“ Jetzt war ich auch noch sauer auf Jochen, dass er gleich angerannt kommen musste. Sicher, er hatte es gut gemeint. „Ihr habt euch doch den ganzen Abend sehr gut auch ohne mich unterhalten, da wollte ich nicht stören. Und wenn ihr mich hättet dabei haben wollen, dann hätte man mich ja holen können.“ Ich kochte innerlich über.
„Hätte ich denn die beiden alleine lassen sollen?“
„Du hättest ja Thomas schicken können. Ach, und der Andere war Raymond?“, fragte ich irritiert. Ich hab ihn irgendwie anders in Erinnerung.
Dann erwähnte Jochen beiläufig, dass die beiden gar nicht bemerkt hätten, dass ich gekommen war, denn er selber habe das Licht unter der Tür wahrgenommen und Thomas erst darauf hingewiesen. Und Raymond habe so einiges aus dem Leben der beiden Freunde kucken lassen, was unserem kleinen Thomas überhaupt nicht gefallen habe, natürlich nicht ohne das er selbst immer wieder nachgehakt habe, betonte Jochen. Er war sichtlich stolz auf seine detektivische Penetranz, was ihn zu der mehr als riskanten Spekulation verleitete, dass von den beiden auch nicht einer schwul sei. Meinungen können sich eben genauso schnell ändern wie die angezeigte Richtung einer Windfahne.
Ich erklärte ihm dann, dank des inzwischen geleerten Glases schon etwas ruhiger, dass ich im Zweifel war, was ich tun solle. Erst das Thomas mich als „Pissnelke“ tituliert habe, sei der Ausschlag dafür gewesen, dass ich wieder abgehauen sei. Das habe Thomas auch schon befürchtet, meinte Jochen. Ich ging dann mit ihm zurück. Schon von Weitem sahen wir, dass Thomas noch mit Raymond vor dessen Haustür stand.
„Scheiße, wir hätten noch warten sollen“, ärgerte ich mich.
Obwohl Raymond uns hatte ganz gewiss kommen sehen, denn er schaute in unsere Richtung, und Thomas mit Sicherheit von unserem Anmarsch in Kenntnis gesetzt hatte, Thomas stand mit dem Rücken zu uns, verzichtete der darauf, sich umzudrehen. Ob sie gewartet hatten?
Wortlos machten wir unsere Betten.
„Mach bitte das Rollo hoch, bevor du das Licht ausmachst“, bat ich.
Jochen entsprach der Bitte, kam zu mir und fragte: „Bist du müde?“
„Ja.“
„Zu müde?“
„Jaaa!“ Ich lag aber noch lange wach und wälzte mich von einer Seite auf die andere.


Freitag, 7. Oktober 1988 - Sonntag, 9. Oktober 1988

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