Die Hoschköppe / 52. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 52. Kapitel

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Freitag, 7. Oktober 1988, Tag der Republik


Weil der Republikgeburtstag diesmal auf einen Freitag fällt, beschert er uns ein verlängertes Wochenende. Zugegeben, da waren die geschenkten dreißig Minuten gestern nicht nötig gewesen.
Jochen räumte unser Bettzeug in den Bettkasten der Liege ein, während ich den Tisch deckte. Beim Frühstücken fragte Jochen dann, ob ich ein Parteiabzeichen besitze, denn er werde notgedrungen eines tragen müssen, zumindest, wenn er zur Parteileitung gehe. Das hatte ihm die Abteilungssekretärin angeraten, die selber zwar keine Genossin war, sich aber darum bemühte, eventuellen Ärger von ihrem künftigen Chef abzuwenden, denn sie kennt und versteht Jochen.
„Ja, irgendwo müssen welche liegen. Hast du denn keins erhalten, als du das Dokument überreicht bekamst? Ich meine, ich habe damals eins bekommen. Hat, glaube ich, eine Mark gekostet. Inzwischen mögen die Dinger ja teurer geworden sein. Möchtest du das Ding zum Anstecken oder zum Anschrauben haben?“
„Zum Anschrauben?“, fragte Jochen ungläubig.
„Ja. Hinten ist ein Gewindestift dran, den du durch ein Loch stecken kannst, und dann kommt da eine kleine Scheibe rauf. Na, du weißt schon.“
„Ich will das Ding doch nicht im Ohr tragen!“
„Würde sich aber nicht schlecht machen. Damit kämest du ganz groß raus. Ich habe noch nie eins dran gehabt und es hat sich bisher auch noch nie jemand daran gestoßen“, sagte ich.
„An Hemden und Pullover habe ich auch noch keine gesehen“, lästerte Jochen.
„Soll oder darf ich dir etwas vortragen?“, fragte ich leicht verlegen, wobei die Sache auf monotones Ablesen hinauslaufen würde.
„Meinetwegen. Wenn du die Sachen nun schon mal mitgebracht hast, dann lies nur ruhig, ich werde zuhören.“
Begeistert klang das nicht gerade. Ich legte mir die Mappe umständlich auf dem Tisch zurecht, und noch bevor ich einmal tief Luft holen konnte, hatte sich Jochen die Mappe gegriffen und begann, selbst zu lesen. Ich räumte erleichtert den Tisch ab und machte mich ans Abwaschen. Mir war gar nicht wohl dabei, denn Jochen blieb verdächtig ruhig beim Lesen. In den meisten Gedichten, die ich ausgewählt hatte, spielte Thomas eine große Rolle. Er war für mich die Inspiration und der Adressat. Jochen kam dagegen kaum vor.
„Wenn du die Gedichte da vorliest, dann wissen gleich alle Bescheid“, war seine erste Reaktion.
„Eddi meinte, als ich ihn in Warnemünde traf, ich solle sie einfach nur vorlesen, ohne zu versuchen, sie großartig zu betonen, die Worte sprächen für sich“, lenkte ich ab.
„Na, dann lies doch endlich“, forderte Jochen ungeduldig.
Ich las: nicht allzu laut beginnend, aber immer leiser werdend. Obwohl nur Jochen zuhörte, hatte ich Lampenfieber. Das Hemd wurde in den Achselhöhlen feucht, der Mund dagegen immer trockener. Wenn das am Abend auch so wird, dachte ich verzweifelt, na dann prost Mahlzeit. Hin und wieder ermahnte mich Jochen, lauter zu sprechen, er könne mich kaum noch hören. Dabei saß ich direkt neben ihm. Ich brachte die Generalprobe hinter mir, ohne mich zu verhaspeln oder Dinge abzulesen, die gar nicht geschrieben standen. Scheinbar hatte sich das tägliche Training doch gelohnt. Sonst bin ich im Vorlesen keine große Kanone. Ich erinnere mich schmerzhaft an meine Schulzeit und besonders an die grauenvollen Nachmittagsstunden, wenn draußen die Sonne lockte und ich drinnen über dem Lesebuch hockte und unter Aufsicht meiner um viele Jahre älteren Schwester mit Tränen der Verzweiflung in den Augen und auf den Wangen das Lesen üben musste. Meine Schwester gab immer erst dann auf und mich frei, wenn auch ihr die Tränen des Mitleids in den Augen standen.
Am frühen Nachmittag füllte ich vorsichtig das fertige Pflaumenmus in Gläser und beschrieb noch etliche Karteikärtchen mit Literaturhinweisen. Gegen zwei, ich wollte mich gerade zum Gehen fertigmachen, kam Jochen. Alleine. Ich hatte fest damit gerechnet, dass inzwischen Thomas zu ihm gegangen sei. Wenn sie dann beide eventuell zu mir kommen würden, wollte ich schon weg sein. Thomas gab mir einfach keine Gelegenheit, ihm aus dem Weg zu gehen, um ihn damit zu ärgern.
„Thomas kommt nicht mehr!“, sagte Jochen, als ich mein Erstaunen äußerte.
„Was heißt, kommt nicht mehr? Überhaupt nicht mehr? Hast du denn gewusst, dass er gestern Abend nicht kommen würde?“ fragte ich.
„Ja.“
„Dann hättest du doch mit in die Sauna können. Habt ihr euch wieder gezankt?“, fragte ich misstrauisch.
„Nein.“
Ja, nein: Daraus sollte einer schlau werden! Ich hatte aber keine Zeit mehr, mir lange Erklärungen anzuhören, denn ich musste schleunigst mit dem Rad nach Warnemünde zu einem ehemaligen Kollegen aufbrechen, wollte ich den nicht warten lassen. Der hatte am Mittwoch angerufen, oder war es gestern, ich könne mir Pflaumen abholen. Dass ich schon bis zum Halse in Pflaumenmus stecke, hatte ich ihm nicht sagen wollen. Die Früchte, die er mir dann vom Baum schüttelte, waren einfach herrlich und zuckersüß, mit denen aus der Kaufhalle überhaupt nicht zu vergleichen. Kurz nach drei war ich schon wieder zu Hause, wo Jochen mich erwartete. Wir tranken Tee und knabberten dazu Butterkekse von Leibnitz. Dann wurde, ob wir wollten oder nicht, die erste Ladung der neuen Pflaumenlieferung gewaschen, entsteint und im Topf aufgesetzt. Jochen legte sich noch einmal für ein Weilchen auf die Liege, während ich weiter meine Karteikarten beschrieb. Zum Abendbrotessen mussten wir dann die Wohnung wechseln. Käme ein schlechter Mensch auf die Idee, sich eine Maus mit leerem Magen zu greifen und sie zur Strafe dafür in meinen Kühlschrank einzusperren, dann müsste sie, nachdem sie tagelang im Dunklen besoffen wäre, elendiglich verhungern.
Sofort nach dem Essen fuhr ich zur ESG, wo andere und ich ihren großen Auftritt haben sollten, traf dort aber erst in allerletzter Minute ein, weil ich mich anscheinend in der Zeit, die ich mit dem öffentlichen Nahverkehr für den Weg bis zur Petrikirche am Alten Markt brauchen würde, verkalkuliert hatte. Im Flur kam mir Eddi mit einer entsprechenden Begrüßung entgegen. Ein verständliches Bangen hatte ihn und Klaus H. ergriffen, denn der Freund von Harald war auch noch nicht erschienen. Sie warteten mit dem Beginn noch eine Weile, er kam aber auch später nicht. Detlef S. eröffnete die Veranstaltung mit allgemein interessierenden Hinweisen und Bekanntmachungen, wie es im Arbeitskreis Usus war. Dann forderte er Eddi auf, sein erstes Stück vorzutragen, in dem Eddi ausformulierte, warum er Gedichte schreibt. Als Einleitung sozusagen. Ihm folgte Klaus H., der sich für den ersten Block entschieden hatte. Er habe es dann hinter sich. Den zweiten Block bestritt ich. Mein Lampenfieber hatte sich inzwischen ins Unermessliche gesteigert. Ich begann dann zwar zu lesen, wusste aber nicht, was ich las. Meine ganze Konzentration war darauf gerichtet, nicht schneller zu werden und nach jeder Strophe und dem Schluss eines jeden Gedichtes eine entsprechende Pause einzulegen. Dazu hatte ich mich so leger wie möglich in einen Sessel gleich neben der Stehlampe gesetzt und das rechte Bein über das linke geschlagen. Die Mappe mit den Gedichten drückte ich fest auf den Schenkel, damit nichts davon ins Flattern geraten konnte. Gegen den trockenen Mund stand eine große Menge schwarzen Tees griffbereit, allerdings ohne Schuss. Als ich nach langem Ringen mit mir, der Mappe und der Tasse endlich geendet hatte, war alles verhältnismäßig gut gegangen. Erstaunlich gut sogar. Es wurde weder gebuht noch geschnarcht. Spontan gejubelt hat allerdings auch niemand. Eddi beschloss mit seinem Block die Lesung, die vom zugegebenermaßen nicht verwöhnten Publikum ganz gut aufgenommen wurde, was die Akteure der Aufmerksamkeit und dem Beifall entnehmen durften. Ich atmete erleichtert auf. Marko, der links von mir saß, flüsterte mir ins Ohr: „Nun hast du sie alle aber ganz schön neugierig auf Thomas gemacht.“ Detlef K. kam auf mich zu, um für die schönen Erinnerungen zu danken, die ihm während der Gedichte in den Kopf gestiegen waren, und versichert, dass auch er noch oft an Thomas zurückdenke. Mir fuhr der Schreck in alle Glieder! In unserem Gespräch stellte sich aber heraus, dass er Thomas den Geilen meinte.
„Den soll meinetwegen auch jemand besingen“, befürwortete ich. „Den habe ich aber nicht gemeint“, befreite ich ihn kühl von seinem Irrtum. Thomas der Geile scheint auch wie ein bunter Hund bekannt zu sein! „Tut mir leid, mein Lieber, aber du ahnst offensichtlich nicht, wie viele Thomas‘ es gibt. Und ich bin froh, dass du meinen nicht kennst!“
Eigentlich hatte ich gleich nach Beendigung des offiziellen Teils die Kirchenräume verlassen und nach Hause fahren wollen, um die andern beiden, die es sich bestimmt gemütlich gemacht hatten, nicht zu lange alleine zu lassen, aber so leicht ließen mich die Freunde nicht davonkommen. Schon die Begrüßung war ihnen allzu knapp ausgefallen. Als wir in enger Runde beieinanderstanden, fragte Eddi den Gerd: „Hattest du gewusst, dass Friedemann Mottenkugeln zwischen den Beinen hat?“ Womit er offensichtlich auf das Gedicht „Der alte Faun“ anspielen wollte. „Und überhaupt“, meinte er, sich jetzt an mich wendend, „was sollte eigentlich diese Selbstzerfleischung?“
Hatte ich das wirklich getan, fragte ich mich entsetzt und sah mit halb zugekniffenen Augen an mich hinab, konnte aber keine blutigen Spuren einer solchen Freveltat erkennen.
Es wird so gegen zweiundzwanzig Uhr gewesen sein, als ich so leise wie möglich bei Jochen in den Korridor trat. Im Zimmer war es dunkel und ruhig. Jochen wird schon schlafen, dachte ich. Vorsichtig, ich wollte nirgends gegenrammeln, ging ich bis zum Fenster durch, um dort meinen Schirm zum Trocknen abzustellen. Plötzlich durchfuhr mich ein Schrecken, denn ich hatte in der rechten Kautschecke eine dunkle Gestalt wahrgenommen. Es war Jochen, der hier im Dunkeln saß. Ich schaltete das Licht ein und dachte, mein Gott, was ist nun schon wieder passiert. Thomas wird ihm doch nichts erzählt haben.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Setz dich hin!“, begann Jochen und das hörte sich schon mal nicht gut an. „Ich habe eine ganz schlimme Begegnung gehabt.“
Mit Thomas kann es also nichts zu tun haben, dachte ich erleichtert. Es musste wohl was anderes gewesen sein.
Kurz nach acht, vielleicht Viertel neun, begann Jochen zu erzählen, habe er mit einem Mal so eine Unruhe verspürt. Er habe sich daraufhin angezogen und nach draußen begeben, wo er durch den Durchgang gegangen sei, hinten herum bis unter Thomas‘ Fenster vorbei, es sei dunkel gewesen, dann durch die Siedlung, an meiner Wohnung vorbei, außen an den Wohnheimen lang, dann dort durch den Durchgang und wieder zu sich nach Hause. Er solle nun endlich zu Potte kommen, drängte ich, statt mir jeden einzelnen Schritt auszumalen. Dann habe er, setzte Jochen seinen Bericht fort, noch von der anderen Straßenseite aus, Thomas von links kommen sehen, der gerade in Höhe von Raymonds Haustür war. Ob er aber dort rausgekommen sei, war nicht zu erkennen gewesen. Jochen habe sich nicht bemerkbar machen, sondern abwarten wollen, wohin Thomas wohl gehen werde. Der war dann erwartungsgemäß in Jochens Haustür verschwunden. Jochen habe nun seine Schritte beschleunigt und sei, in der Annahme, Thomas wolle zu ihm, hinterher gegangen. Das müsse so gegen neun gewesen sein, als sich beide auf der Treppe begegnet waren. Jochen wollte gerade hochsteigen, als ihm Thomas entgegenkam. Jochen habe ihn freudig begrüßt, woraufhin Thomas lediglich zu sagen wusste, dass er gerade aus der Stadt käme. Jochen habe die Tür aufgeschlossen und ihn gefragt, ob er mit reinkommen möchte. Thomas habe wie versteinert dagestanden und sich überhaupt nicht gerührt, ihn nur blöd angesehen. Da Thomas keinerlei Anstalten getroffen habe, näher zu treten, hatte Jochen gemeint, na dann eben nicht, und die Tür hinter sich zugezogen.
Dieses vergleichsweise harmlose, wenn auch mysteriöse Schlüsselerlebnis hatte es verursacht, dass er noch immer im Dunkeln auf der Couch saß? Was mochte ihm während dieser Stunde alles durch den Kopf gegangen sein? Wo war Thomas hergekommen und was hatte er hier gewollt?, waren nur zwei der möglichen Fragen. Am Nachmittag hatte Jochen noch gemeint, Thomas sei wohl gestern mit Kirstin zusammen gewesen, denn die hatte kommen wollen, wie Thomas erzählt hatte. Da habe es wohl wieder ganz gut geklappt mit den beiden, war seine Vermutung gewesen. Jochens Worte waren mir wie ein Messer durch die Brust gefahren. Nun befürchtete er: „Thomas ist bestimmt auf dem Wall gewesen. … und wenn es nur für eine viertel Stunde gewesen ist! Oder war er in der ESG?“
„Also da hätte ich ihn ja sehen müssen!“ Ich nutzte die Gelegenheit, Jochen erneut vorzuwerfen, er sei selber schuld, wenn Thomas auf den Wall gehe.
„Jaaa“, stöhnte Jochen, „ich bin an allem schuld, ich mache alles falsch. Thomas braucht doch nicht auf den Wall zu gehen, wenn ihm hier jeden Tag ein Angebot gemacht wird.“
Dann setzte ich seinem Kummer noch ein Sahnehäubchen auf: „Mit dir will er nicht und mit mir lässt du ihn nicht.“
Danach gingen wir ins Bett. Jeder in seines, denn jeder hatte mit sich zu tun.


Donnerstag, 6. Oktober 1988
- Sonnabend, 8. Oktober 1988

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