Die Hoschköppe / 51. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 51. Kapitel

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Donnerstag, 6. Oktober 1988


Während ich noch in Gehlsdorf im Büro saß, schrieb ich einen Zettel, den ich Jochen als Rache auf den Tisch legen wollte. Darauf stand Folgendes:

       Bin zur Sauna, anschließend zu Hause. Wir sehen uns dann morgen zum Frühstück. Eher nicht!

Damit hoffte ich Thomas zu ermutigen, mir später einen Liebesbesuch abzustatten. Aber alles kam wieder einmal ganz anders.
Wegen des morgigen Republikgeburtstages durften heute alle Angestellten der Betriebspoliklinik der Neptunwerft eine halbe Stunde früher Feierabend machen. Vielleicht weil die Leitung der Einrichtung nicht ausschließlich in bewährten Parteihänden liegt, wurde von jeher nicht darauf bestanden, dieses Ereignis auf eine andere Art und Weise zu würdigen. Wohingegen der einzelne Mitarbeiter bereits mittags nach Hause gehen kann, wenn dieser Geburtstag hat. Aber das ist sicher ein unzulässiger Vergleich. In Lichtenhagen angekommen, schlenderte ich sofort und auftragsgemäß in die große Kaufhalle, um am Deli-Stand essbare Wurstwaren zu erstehen. Das Vorhaben missglückte aber, weil die Ware noch nicht eingetroffen war. Wahrscheinlich waren die Fahrer auch eine halbe Stunde eher nach Hause gegangen. Um es an der Fleischtheke der Kaufhalle zu versuchen, wo es die andere Wurst gibt, bedurfte es eines Einkaufswagens. Der wiederum war nicht sofort verfügbar und die Schlange der Leute, die ebenso nach einem solchen gierten, außerordentlich lang. Um nicht die geschenkte Freizeit mit dem Warten auf einen Wagen zu verplempern, entschloss ich mich, in die kleine Halle zu gehen. Dort Kartoffeln, Brot, Brötchen, Limo, Milch und Margarine zu erwerben, machte keinerlei Schwierigkeiten. Ich brachte alles zu Jochen, der zum Glück noch nicht da war. Den Zettel hinterließ ich in der Stube. Er wird also doch in die Stadt gefahren sein, dachte ich, um sich einen Anzug zu kaufen. Er muss wohl einen haben, als Abteilungsleiter. In diesem Zusammenhang fiel mir ein, dass Jochen auch etwas über Eddi gesagt hatte, als er gestern Abend noch aufgekreuzt war. Eddi habe in seiner ihm eigenen Art vor seinen Kolleginnen von dem Neuzugang geschwärmt, wie toll er den Kerl finde. Jochen durfte dann in der Mittagskantine Zeuge sein, wie die sich prompt über Eddi das Maul zerrissen hatten. Das werde ihm noch eines Tages das Genick brechen, wenn er so weitermacht, hatte Jochen geunkt.
Auf dem Weg zu mir sah ich von weitem Jochen auf seinem Rad kommen. Er war also nicht in die Stadt gefahren. Ich passierte gerade die Wilhelm-Hörning-Straße, tat, als bemerke ich ihn nicht und bog rasch in den Weg nach links zwischen den Gärten ein, war aber noch nicht weit gekommen, da rief mich Jochens Stimme von hinten an. Was blieb mir anderes übrig, als zurückzugehen. Er finde es unerhört, plusterte sich Jochen auf, dass ich einfach weitergegangen sei, obwohl ich ihn gesehen hätte. Das fand ich auch und erstattete ihm einen kurzen Bericht über meine Kaufhallenergebnisse, teilte ihm dann ferner mit, dass ich nun die Absicht hätte, mich eine Weile zu Hause zu beschäftigen, um dann später noch einmal in die große Halle zu gehen. Jochen erzählte, dass er mit seiner Mutter telefoniert habe, und schlug vor, nachher gemeinsam noch einmal loszugehen. Weil ich sonst keinen Grund gehabt hätte, nach Hause zu gehen, zog ich mir dort nur eine andere Jacke an und ging zu ihm zurück.
Nach dem erfolgreichen Besuch der großen Kaufhalle erwarben wir vor dem flachen Gebäude von einem Kleingärtner einen wunderschönen Strauß Chrysanthemen, den wir am Sonnabend Jochens Mutter mitnehmen werden, sollten sich die Blütenblätter bis dahin am Stiel festhalten können. Auf dem Weg zum Boulevard fragte ich ihn, wie der Sonnabendvormittag am besten zu bewerkstelligen sei, wenn wir vorher noch in die Stadt reinfahren wollten. Mit den Blumen! Das werde schon gehen. Das mit der Stadt war es, was Jochen mir unbedingt hatte sagen wollen, als er mich zurückgerufen hatte. Ich wollte deswegen von ihm wissen, wozu ich eigentlich Wochenende habe, wenn ich am Sonnabend doch schon um halb sieben aus dem Bett krabbeln müsse, bloß weil er in die Stadt rein wolle, um dort von Laden zu Laden zu rennen, wobei nichts herauskommen werde. Ich werde wieder einen Haufen Geld ausgeben, wohingegen er sich nur umkucken und zu nichts entschließen werde.
Dann besuchten wir mit unserem Blumenstrauß den Buchladen. Es standen oder lagen aber nur die altbekannten Bände herum, etwas Neues fiel uns dazwischen nicht auf.
Ich hatte mich mit dem Abendbrotessen so beeilt, dass ich noch vor Thomas‘ Erscheinen mit meiner Saunatasche verschwunden war. Ohne allzu lange warten zu müssen, betrat ich die Sauna um drei viertel sieben. Es war ausgesprochen interessant. So interessant sogar, dass ich darauf verzichten musste, in die Schwimmhalle zu gehen. Ich saß zum Beispiel im Ruheraum auf dem Fußende einer Bank, deren quer laufende Latten sich in mein erhitztes Fleisch einprägten, und betrachtete in aller Ruhe den Bengel, der vor der Wand gegenüber im „Sessel“ saß. Wir waren fast allein im Raum, von keinem Misstrauen beobachtet. Über dem steifen Glied des Jungen, welches wohlgeformt und für sein Alter eine erstaunliche Dimension erreicht hatte und meinen fiebernden Blicken breitbeinig dargeboten wurde, waren gerade eben die ersten Haare gesprossen. Interessiert, keineswegs erstaunt oder ängstlich, vielmehr belauernd starrte der Junge auf mein Stehaufmännchen, das sich ob dieser Anteilnahme geschmeichelt fühlte, und verfolgte ganz genau, wie es sich in die Brust schmiss und höher und höher wippte, bis es kein Höher mehr gab. Doch dann schlug plötzlich die Tür vom Schwitzraum auf. Noch bevor jemand anderer dieses aufregende Spiel bemerken konnte, versteckte ich meinen kleinen Kameraden unter den zusammengekniffenen Schenkeln. Von nun an ließ der Knabe, der sich rasch mit einem Handtuch bedeckt hatte, mich nicht mehr aus den Augen und schwänzelte um mich herum, sobald sein Vater außer Sichtweite war.
Andreas R. hatte sich für ein paar Minuten zu mir gesetzt, seine Zeit war aber bereits abgelaufen, als ich das erste Mal abgeschwitzt hatte. Er versprach, morgen in den Arbeitskreis zu kommen und sich meine Gedichte anzuhören. Ich war gerührt: Es gibt also doch noch echte Freunde. Der dicke Klaus war mit einem Bekannten da. Jochen und ich lernten ihn während einer Geburtstagsfeier bei Klaus H. kennen. Die beiden besaßen sogar die Nettigkeit, mich in ihrem Auto bis Lichtenhagen mitzunehmen. Sein Bekannter, den ich anfangs gar nicht für schwul hielt, sprach während der Fahrt ganz begeistert von einem anderen Bengel, dessen Figur mir natürlich auch aufgefallen war und dessen prächtiger Riemen mir sofort ins Auge gestochen hatte. Der habe zu ihnen tschüss gesagt. Der dicke Klaus, der mir im Alter um schätzungsweise zehn Jahre voraus ist, meinte so im Allgemeinen, dass die Jungs heute schon sehr früh anfangen. Daraus schlussfolgere ich haarscharf, dass er selbst erst sehr spät angefangen hatte. Wenn ich mich nicht irre, war er anfangs sogar verheiratet.
Sie hatten mich an der Bushaltestelle bei der verbarrikadierten Einfahrt zur Wilhelm-Hörning-Straße abgesetzt, von wo aus ich zu Fuß zu mir nach Hause ging. Als Erstes schaltete ich die Kochplatte ein, auf der noch immer der Topf mit dem Pflaumenmus steht. Dann spülte ich die Saunatücher. Um zehn klingelte es zaghaft. Jochen fragte, ob er störe. Vielleicht dachte er, ich hätte jemanden aus der Sauna abgeschleppt.
„Ja“, antwortete ich, „du kannst aber trotzdem reinkommen.“
Zuerst sah er sich im Zimmer um, dann im Bad. In den Kleiderschrank kuckte er nicht. „Warum kommst du nicht mehr?“, fragte er.
„Ich wäre schon noch gekommen! Morgen früh zum Frühstück, wenn der Magen sich gemeldet hätte.“
„Dafür bin ich immer noch gut genug“, meinte Jochen verbittert. „Das machst du doch alles mit Absicht. Willst du dich jetzt langsam von mir zurückziehen? Deine Saunatasche hast du auch schon mitgenommen.“ Dabei lief er unentwegt von der Stube ins Bad und zurück, als befürchte er noch immer, einen heimlichen Besucher übersehen zu haben.
„Hätte ich die erst zu dir bringen sollen?“ Ich rührte im Alibi-Pflaumenmus herum und fragte, was er eigentlich wolle und bat, doch endlich mit dem Gerenne aufzuhören, das mache mich ganz nervös. Rennen könne er draußen. „Setz dich endlich hin, du Hoschkopp“, versuchte ich nun einzulenken, „und höre auf zu flennen.“
Er setzte sich nicht, sondern ging. Sein Aufenthalt währte nur wenige Minuten. Es war genau zweiundzwanzig Uhr sieben. Dabei wäre ich nachher sowieso zu ihm gegangen. Wenn Thomas nicht kommt.



Mittwoch, 5.Oktober 1988 - Freitag, 7. Oktober 1988

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