Die Hoschköppe / 50. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 50. Kapitel

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Mittwoch, 5. Oktober 1988


Habe meine Sommerjacke zum Dienstleistungsschneider geschafft, obwohl ich dafür keinen helleren Reißverschluss bekommen konnte, als den dunkelgrauen, den Jochen besorgt hatte. Ich mag nicht mehr mit der schwarzen Jacke rumlaufen, die ich als deren Ersatz und für alle Tage ausgegraben hatte, nachdem sich Eddi gestern nicht verkneifen konnte, auf deren vermutlich sehr hohes Alter anzuspielen. Ich hatte sie früher (vor dem Krieg) immer ganz gern getragen. Im Werkzeugladen habe ich mir anschließend Fahnenhalterungen angesehen. Dieser vergleichsweise einfache Artikel scheint zu den wenigen zu gehören, bei denen man als bescheidener Kunde zwischen mehreren Ausführungen wählen kann. Ich konnte mich aber nicht zu einem Kauf entschließen, da ich nicht auf die Möglichkeit eine Wahl vorbereitet war und es außerdem versäumt hatte, die Örtlichkeit zu vermessen, an der dieses Hilfsmittel angebracht werden sollte. Wenn schon nicht bis zum siebenten, so will ich dieses Versäumnis wenigstens bis zum ersten Mai des kommenden Jahres nachgeholt haben.
Da ich bei Jochen nicht tatenlos die Zeit absitzen wollte und weil ich Thomas böse war, ging ich heute erst zu drei viertel sieben zu ihm. Dort stand ich noch im Korridor beim Ausziehen, als Thomas, der mich wohl gehört hatte, laut und vernehmlich rief: „Der Hoschkopp kommt bestimmt so spät, weil er denkt, dass ich schon lange hier sitze. Ich bin aber auch gerade erst gekommen.“ Als ich ihn mit einem Küsschen begrüßen wollte, wendete sich Thomas ab.
„Das habe ich gestern mit Joschi auch schon so gemacht“, erklärte Thomas seine Distanziertheit, „und du kannst nun davon halten, was du willst.“
Gut, dachte ich, dann nehme ich an, es ist wegen der Erkältung. Oder? Ich setzte mich hinter den Vorhang in die gemütliche Kochnische und verzehrte die Schnitten, die mir Jochen bereitgestellt hatte.
„Ist das ein Hoschkopp! Setzt sich in die Küche, wo er hier so gut wie zu Hause ist“, kommentierte Thomas irritiert.
Ich hatte mit meinem Rückzieher nichts weiter bezweckt, als ihnen, während sie Chemie machten, denn heute war Chemie dran, nichts vorkauen und nicht unnötig Platz beanspruchen zu wollen, den sie für ihre Papiere doch so dringend zu benötigen schienen. Thomas hopste auf die Liege und teilte den Vorhang, hinter dem ich saß, in der Mitte auseinander. „Sowie ich fertig bin, komme ich“, versprach ich. Und dies geschah eher, als die beiden ihre Chemie zu Ende gebracht hatten.
„Als wir uns vorhin in der Kaufhalle begegneten, hast du da auch meinen Bruder gesehen?“, fragte Thomas dann Jochen.
„Nein, ist mir nicht aufgefallen.“
Thomas gab zu verstehen, dass es ihm peinlich gewesen wäre, hätte Jochen ihn im Beisein seines Bruders angesprochen. Gestern hörte sich das noch ganz anders an. Er redet einen Tag so und am anderen das Gegenteil!, dachte ich. Aus ihm kann einmal was ganz Großes werden. Oder waren in der Kaufhalle die Umstände außergewöhnlich? Nun verlangte Jochen von mir Rechenschaft darüber, weshalb ich erst so spät gekommen sei, und fragte obendrein, ob ich nicht dafür um Entschuldigung bitten möchte.
„Ich hatte zu tun!“, antwortete ich schnippisch. „Und warum soll ich um Entschuldigung bitten, bin ich nicht mein eigener Herr?“ Ich war sauer. Dachte Jochen, ich koche das Pflaumenmus nachts? Oder hatte er Thomas bei mir vermutet?
Chemie war bereits beiseite geräumt und im Fernseher lief die Hitparade, als sich Thomas, an mich gewandt, zu sagen veranlasst sah: „Ich habe das Gefühl, dass du mich am liebsten rausschmeißen würdest.“
Aber nur vielleicht, dachte ich. Er weiß doch ganz genau, was ich mit ihm machen will.
Weil ich unangenehme Kühle ausstrahlte, ging er auf physische Distanz, indem er sich zu Jochen auf die Couch setzte, wo er mit ihm, mitunter Schulter an Schulter, sehr innig tat. Als er daran die Lust verlor, legte er sich nieder, worauf ihm Jochen, sich nicht zu schade dafür, die Füße zu kraulen begann. Ich saß allein mit meinem Herzklopfen im Sessel und versuchte, ganz langsam durchzuatmen, was ich bis kurz vor drei viertel neun durchhielt, dann musste ich nach Hause flüchten.
Um einundzwanzig Uhr fünfundvierzig erschien Jochen bei mir. Das sei kein Kontrollbesuch, betonte er ausdrücklich. Ihn habe vielmehr tiefe Sorge um mich zu mir getrieben, denn ich sei einfach so und ohne ein erklärendes Wort davongegangen. Auch gestern schon, meinte er. Ich brauche keine Angst zu haben, zwischen ihm und Thomas liefe absolut nichts! Das hörte sich zwar alles ehrlich an, was Jochen daherbetete, ich konnte aber trotzdem den Eindruck nicht loswerden, dass auch er sich auf den Freitagabend vorbereitet. Fünfzehn Minuten hatten völlig ausgereicht, ihn von seinen Sorgen zu befreien. Wenn er vorhin das Haus zusammen mit Thomas verlassen hat, ging es mir durch den Kopf, dann besteht wohl kaum ein Fünkchen Hoffnung, um elf noch einmal Besuch empfangen zu dürfen.


Dienstag, 4. Oktober 1988 - Donnerstag, 6. Oktober 1988

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