Die Hoschköppe / 49. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 49. Kapitel

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Dienstag, 4. Oktober 1988


Nach der Parteiaktivtagung anlässlich der Eröffnung des Parteilehrjahres, die eigentlich am gestrigen Montag hätte stattfinden müssen, denn der Montag ist traditionell der Partei vorbehalten, war ich mit der S-Bahn wieder bis Warnemünde durchgefahren, um in der dortigen Sparkasse nach ein wenig Geld anzustehen und anschließend im Deli-Laden drei Tüten Teehaus Spezial zu je sieben Mark und eine Flasche Crem-Likör zu etwas über fünfundzwanzig Mark einzukaufen. Die Flasche war für Jochens Mutter bestimmt. Im Ex sah ich mich nach einer Jacke um. Auch da nichts. Gedanklich noch ganz mit den Einkäufen beschäftigt, konnte es geschehen, dass ich in der Mühlenstraße Eddi über den Weg lief, der gerade mit dem Fahrrad zur Post radelte. Wir unterhielten uns über den kommenden Freitag. Nachdem es mir gelungen war, mich von Eddi zu verabschieden, stieg ich an der Haltestelle Parkstraße in den Stadtbus. Eine Haltestelle weiter stieg auch Thomas zusammen mit zwei Freunden ein. Freudig erregt hatte ich ihn schon bei der Einfahrt in den Haltestellenbereich stehen gesehen. Auch Thomas hatte mich von draußen bemerkt und daraufhin sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, was wohl so viel sagen sollte wie: ausgerechnet der jetzt! Ich nahm an, ihm sei unser Zusammentreffen allein wegen seiner Freunde peinlich. Trotz seiner unschönen Reaktion freute ich mich über das Wiedersehen, wandte mich aber verständnisvoll ab und ließ Thomas ohne in Verlegenheit zu geraten einsteigen. An der Haltestelle Wilhelm-Hörning-Straße stieg ich mit ihnen zusammen aus. Es fiel mir außerordentlich schwer, an Thomas vorbeizugehen, ohne ihn zu beachten. Als ich dann zu Hause zum Lüften das Fenster öffnete, gingen die Drei gerade mit einem Eis in der Hand vorüber. Ich hatte gehofft, Thomas würde raufkommen. Aber sein Verlangen war leider nicht so groß wie meins. Die Enttäuschung darüber versetzte mich in die richtige Stimmung, um mich dem schwarzverkohlten Boden des Schnellkochtopfes zu widmen, dem, wie es schien, nur noch mit roher Gewalt beizukommen war. Das Schwarze löste sich auch tatsächlich nach und nach ab, der Topf hatte aber beträchtlich gelitten.
Drei viertel sechs fand ich mich bei Jochen ein. Thomas hatte sich bereits dort eingenistet. Ich überraschte ihn mit meiner Begrüßung in der Kochnische, wo er damit beschäftigt war, eine Schallplatte, die er aus Berlin mitgebracht hatte, mit Fitwasser abzuwaschen. So was hatte ich bisher noch nicht mit ansehen müssen und fühlte darum Mitleid mit der Platte. Ich fragte ihn, welcher harte Schicksalsschlag die Platte getroffen habe, dass sie so behandelt werden müsse. Thomas stöhnte, irgendein Vollidiot aus seiner Klasse habe da Limo rübergegossen und nun seien die Rillen zum Teil verklebt. Aber auch für Thomas brachte ich Mitgefühl auf und meinte zu ihm, er sei wohl erkältet.
„Scheiße, eh Alter, woran merkst du das?“, wunderte sich Thomas.
Neben der Platte hatte Thomas wieder eine Tüte voller Hausaufgaben mitgebracht: Geografie und Mathe. Aber vorher sollte gegessen werden. Thomas erzählte von der Klassenfahrt, von den hübschen Männern, die er im Berliner FEZ gesehen hatte, von einem offensichtlich schwulen Kellner, der ihn angeblich beobachtet habe, und von einer Schwulenkneipe, in die sie unabsichtlich hineingeschlittert seien, wie er behauptete. Dass es so was offiziell gebe!, staunte er. Offiziell geben würde es so was nicht, meinte ich, es werde lediglich geduldet, mit einem wachsamen Auge darauf. Wie die Kneipe heiße und wo sie zu finden sei, mochte er uns nicht verraten. Angeblich, damit wir nicht in die Versuchung kommen, dahin zu fahren. Jochen offenbarte ihm, dass wir das sowieso nicht nötig hätten, und fragte mich, warum ich so blöde tue. Ich würde ganz gerne mal wieder in so eine Kneipe reingehen wollen, widersprach ich ihm, wenn ich Gelegenheit dazu hätte, denn ich war in jungen Jahren häufig Gast in entsprechenden Leipziger Lokalitäten gewesen. Ich wusste aber, dass Jochen noch nie dafür zu begeistern gewesen war. Thomas meinte, man könne da ganz gut jemanden kennenlernen, das ginge ruck, zuck. Er sprach ja jetzt aus Erfahrung. So wie er gebaut sei, werde er da auch bestimmt auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen, stimmte Jochen ihm zu. Thomas ergriff das Ende des Fadens und spann ihn weiter: Dies habe er auch sofort ausprobiert! Womit dann, langsam aber sicher, wieder ein bislang noch brachliegendes Stück Acker für eine zügig aufgehende Distelsaat bereitet war. Es dauerte auch nicht lange, bis sich die ersten Sprosse gen Himmel streckten und ihre Knospen springen ließen. An der schlechten Stimmung, die dann aufkam, gab ich Jochen die alleinige Schuld, der mit seinen Sticheleien und unnötigen Fragen immer wieder in dieselbe Richtung bohrte. Thomas griff, ohne zu zögern, in seine große Kiste mit unsauberen Ausdrücken und schmiss damit hemmungslos um sich. Obwohl Jochen damit hätte rechnen müssen, nahm er das trotzdem übel. Er verließ vergnatzt und die Tür hinter sich zuknallend die Stube.
„Wenn der sich jetzt anzieht und abhaut, so wie du das immer tust, dann sieht der mich hier nicht wieder“, war Thomas‘ erstaunter Kommentar dazu, der aber nicht ernst zu nehmen war.
Ich hatte mir, noch während die beiden am Streiten waren und um nichts davon abzubekommen, das Programmheft der nächsten Theatervorstellung zur Hand genommen, um darin zu lesen. Zwei Komödien von Bulgakow sollte es geben. Dieses Programmheft wolle den Leser dazu animieren, schrieb der Verfasser darin, mehr von diesem Schriftsteller lesen zu wollen. Die abgedruckten Appetithäppchen bewirkten bei mir genau das Gegenteil. Als Jochen mit dem Schuheputzen fertig war, wir hatten ihn die Bürste schwingen hören, kam er wieder ins Zimmer. Die wenigen Augenblicke hatten genügt, an beiden Streithähnen die Federn zu glätten, sodass nun die fälligen Hausaufgaben erledigt werden konnten. Ich saß mehr oder weniger gelangweilt in meinem Sessel und dachte unter anderem auch an die Pflaumen zu Hause.
Eine Sache, die ihm vielleicht tatsächlich auf dem Herzen lag, wollte Thomas noch unbedingt loswerden. Sein Blick am Bus, erklärte er, sei keinesfalls so gemeint gewesen, wie ich ihn augenscheinlich aufgefasst hatte. Ich hätte mich keineswegs umdrehen müssen. Er habe doch mir beziehungsweise Joschi und mir, schon öfter versichert, dass er zu unserer Freundschaft stehe, egal unter welchen Umständen. Seine beiden Kumpel hätten ihn darauf hingewiesen, dass da sein Bekannter stehe, woraufhin er habe so tun müssen, als hätte er mich noch nicht gesehen. Da wäre ja dann noch Zeit genug gewesen, mich zu begrüßen, dachte ich. Als ich dann nach dem Aussteigen auch noch ohne guten Tag zu sagen an ihm vorbeigegangen sei, habe er sich erneut eine Ausrede einfallen lassen müssen. Nun versicherte ich ihm, ihn nicht habe schaden wollen und nicht geahnt, dass ganz Lichtenhagen schon über uns Bescheid wisse. Ein krampfhaftes Gefühl plötzlicher Leere hinter seiner Bauchdecke drängte Thomas, nachdem er sein Gewissen beruhigt hatte, prompt zur Backröhre des Elektroherdes, in der Jochen das Blech mit dem restlichen Zitronenkuchen aufbewahrte. Seinen Magen zu befriedigen nahm nicht mehr Zeit in Anspruch, als er für sein Gewissen benötigt hatte, denn im Nu war alles verdrückt.
Ich war dann um neun nach Hause gegangen. Zwar nur ungern, aber der Pflaumen wegen.

Montag, 3. Oktober 1988 - Mittwoch, 5. Oktober 1988

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