Die Hoschköppe / 48. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 48. Kapitel

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Montag, 3. Oktober 1988


Als ich heute Morgen verträumt an der Bahnsteigkante auf die S-Bahn wartete, tauchte vor mir im Schotter des unappetitlichen Gleisbettes eine kahlschwänzige Ratte auf. Bei Lichte besehen schien es, als habe sie Ränder unter den eingefallenen Augen. Sie machte im Ganzen einen recht ungesunden und unterentwickelten Eindruck. Was ist das für ein armes Land, das nicht einmal seine Ratten zu ernähren vermag, dachte ich.
Am Nachmittag ergatterte ich in der großen Kaufhalle fünf Kilo Pflaumen, die ich zu Hause gleich wusch, entsteinte und einzuckerte. Im Anschluss daran unternahm ich weitere Fehlversuche, den Boden des Schnellkochtopfes zu säubern. Das tagelange Einweichen mit Fitwasser hatte nicht die gewünschte Wirkung gezeitigt. Ich setzte eine zweite Lösung an, diesmal mit einer größeren Dosis Backofenreiniger. Irgendwer würde nun wohl nachgeben, hoffte ich: entweder ich oder der Topf.
Kurz vor sechs war ich bei Jochen. Später fragte ich ihn, was er sich für den Freitagabend vorgenommen habe. Jochen machte mit der leeren Faust ein paar obszöne Bewegungen und deutete dabei mit dem Kopf in Richtung Thomas. Sein ganzes Gesicht war ein Grinsen. Das fand ich natürlich unerhört. Ich erzählte ihm, dass ich mir noch einmal das Band angehört hätte und das Gehörte für so abscheulich halte, dass es eine Niedertracht wäre, gutwilligen Leuten dies Gestammel zuzumuten. Aber das sich Jochen statt meiner vor die Leute setze, darauf wollte er sich kein zweites Mal und auf gar keinen Fall einlassen. Er habe noch von dem vorigen Reinfall genug, erklärte Jochen unmissverständlich, wo er sich auch vorbereitet und dann vor fast leeren Reihen gesessen hatte. Alles Bitten und Schmeicheln half nichts, ich werde wohl oder übel meinen eigenen Kram auch noch selber vortragen müssen. Vielleicht hilft mir ein guter Flachmann dabei.
Eine Menge leerer Zeit verging, in welcher wir abwechselnd auf die Uhr schauten. Jetzt mochte Thomas möglicherweise schon zu Hause sein. Auch ich hatte im Stillen gehofft, dass er auf seinem Weg von der Bahn nach Hause noch auf ein paar Minuten zu uns reinspringen würde. Jochen war schon mehrmals ans Fenster gegangen und hatte hinübergesehen, wo inzwischen tatsächlich das Licht angegangen und Bewegung ins Zimmer gekommen war. Er hatte seine Ungeduld nicht verbergen können, ich schon. Um drei viertel zehn ging ich nach Hause, wo ich noch bis Viertel vor elf im Bett las. Dann wartete ich. Aber es geschah nichts.



Sonntag, 2. Oktober 1988 - Dienstag, 4. Oktober 1988

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