Die Hoschköppe / 31. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 31. Kapitel

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Dienstag, 13. September 1988


Heute ist ein besonderer Tag für Klaus H.: Er hat Geburtstag. Feiern wird er ihn bestimmt erst am Wochenende. Seit wir ihn kennen, sind auch Jochen und ich jedes Jahr hingefahren. Diesmal werden wir es wohl nicht tun.
Weil sich die S-Bahn verspätet hatte, traf ich heute erst 23 Minuten nach 4 zu Hause ein. Ich hatte gehofft, dass Thomas schon warten würde. Im Briefkasten lag der erwartete Brief meiner Schwester, mir fehlte aber der Mut, den Umschlag gleich aufzureißen und hineinzusehen, darum legte ich ihn erst einmal beiseite, als ich oben war. Dann öffnete ich das Fenster, um der frischen Luft Zutritt zu verschaffen. Seit Tagen stank es hier erbärmlich, wenn auch nur nach Farbe. Ich zog mir wieder den weißen Kittel über, den ich mir schon vor Jahren in der Dienststelle extra für solche Zwecke angeeignet hatte, und machte eine neue Büchse weißer Lackfarbe auf, um darin den Bodensatz aufzurühren. Erstaunlicherweise hatte sich aber noch nichts am Boden abgesetzt, die Farbe musste wirklich frisch sein. Oder man hatte das, was sich hätte absetzen können, auch noch eingespart. Als ich meinen Pinsel eingestrichen hatte, kam Thomas und fragte, ob Joschi bei mir sei.
„Nein“, antwortete ich. „Wolltest du zu ihm oder zu mir?“
Ich erzählte ihm, dass Jochen zu seiner Mutter nach Evershagen gefahren sei und nicht vor 18.30 Uhr zurück sein wollte. Thomas meinte, er sei schon mehrmals an dessen Tür gewesen, wegen der für morgen noch zu erledigenden Hausaufgaben. Die beiden grinsenden Typen hätten da auch wieder rumgelungert und ihn nicht aus den Augen gelassen. Darauf ging ich nicht ein, fragte ihn aber, ob wir nun den Film entwickeln wollen oder nicht. Ich solle nur ruhig damit weitermachen, womit ich gerade angefangen hätte, sagte Thomas. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ich noch gar nichts angefangen hatte. Thomas stürzte sich in den noch freien Sessel, während ich nun doch damit begann, die Tür zum dritten Mal zu streichen. Das war schnell erledigt. Besser sah sie aber noch immer nicht aus. Zwischendurch fragte Thomas, ob Frank schon wieder da gewesen sei. Heute sei er noch nicht hier gewesen, verneinte ich und versuchte dann, Thomas den Unterschied zwischen ihm und Frank klarzumachen. Ihn, Thomas, liebe ich, an Frank dagegen interessiere mich allenfalls der Schwanz. Ich hoffte, dass Thomas darin einen Unterschied erkennen würde.
„Hast du noch nicht gemerkt, dass es schwächer geworden ist?“, fragte Thomas. „Ich weiß aber auch nicht, woran es liegt.“
„Das habe ich schon lange bemerkt.“
„Ja, und woran liegt es nun?“, wollte er wissen.
„Wenn es einmal so ist, muss man nicht unbedingt den Grund dafür suchen.“
„Aber vielleicht kann man es ändern, wenn man den Grund kennt.“
„Man soll es nicht zwingen. Bei mir wird es jedenfalls immer stärker. Ich würde dich liebend gern in die Arme nehmen, das weißt du genau“, versicherte ich.
„Und warum tust du es nicht?“
„Wenn wir bei Jochen sind, tue ich es seinetwegen nicht, und wenn wir schon mal alleine sind, dann bist du es doch, der sich immer zurückzieht.“
„Und wie soll es nun weitergehen?“, fragte Thomas.
„Wahrscheinlich bergab.“
„Wahrscheinlich!“
„Ich bleibe jedenfalls oben stehen“, betonte ich.
„Und mich stößt du runter?“
„Nein, das tue ich nicht. Auf keinen Fall, das weißt du.“
„Dann möchte ich auch oben bleiben.“
Wir sahen uns einen Augenblick schweigend an. Thomas saß noch immer quer im Sessel, ich etwas abseits. Ich hegte die vage Hoffnung, dass er irgendwelche Anstrengungen unternehmen würde. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit gewesen zu beweisen, dass er es ernst meint, mit dem Picknick oben auf dem Berg.
„Na, dann werde ich mal gehen, ich muss noch Hausaufgaben machen.“
„Wenn du gehen musst?! Hausaufgaben sind auch wichtig.“
„Sagst du nicht: Willst du nicht gehen? Das hast du schon mal gesagt.“
„Nein.“
„Bist du mir böse, wenn ich jetzt gehe?“
„Ja.“
„Wie böse?“
„Gib mir eine Skala vor!“
„Eins bis drei. So böse, dass alles aus ist, bis so böse, dass du es noch verzeihen könntest.“
„Natürlich würde ich es dir verzeihen.“ Ich sah ihn wieder eine Weile schweigend an.
„Was überlegst du?“, fragte Thomas.
„Ach, gar nichts. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll.“
„Das weißt du nicht?“
„Nein. Ich möchte keinen Fehler machen. Ich möchte einfach nicht, dass ich dich anwidere.“
„Das tust du nicht.“ Er lächelte.
Ich ging zu ihm, immer noch unsicher über seine Reaktion, und gab ihm einen verschämten Kuss.
Er wehrte sich nicht, bat aber: „Mach bitte das Fenster zu und zieh die Gardine vor. Wenn das die Leute sehen.“
„Das kann kein Mensch sehen. Nur die, die im Himmel sind.“ Ich tat ihm aber den Gefallen. Dann trat ich wieder zu ihm und zwischen zwei Küssen sagte ich: „Ich habe mich gestern so über den heimlichen Kuss gefreut.“
„Heimlich, gestern?“, fragte Thomas und griente dabei übers ganze Gesicht. „Was kuckst du so?“, fragte er.
„Was hast du mit deinen Fingern gemacht? Die sehen ja aus, als hättest du schon Ewigkeiten in einer Schlosserei gearbeitet.“
„Ich habe Raymond die Haare gefärbt.“
„Raymond? Zieht man sich nicht dabei Handschuhe an?“
Nach einer Weile stand Thomas auf, ging zum Spiegel im Korridor und besah sich den Pickel, der an seiner Nasenwurzel zum Vorschein getreten war und zu blühen begonnen hatte. Ich ging ihm nach und meinte, er sehe trotzdem noch schön genug aus. Wir standen noch eine Zeit lang vor dem Spiegel beieinander.
„Was suchst du denn?“, fragte ich ihn, denn er kramte zwischen den Schlüsseln herum, die in einer flachen geflochtenen Schale auf der Flurgarderobe liegen.
„Ich suche deinen Wohnungsschlüssel.“
„Und was möchtest du damit?“
„Heimlich an deinen Likör.“
„Dafür kann ich ihn dir leider nicht geben, das wäre zu gefährlich. Ja, wenn du vorgehabt hättest, mich nachts im Bett zu überraschen, dafür würdest du ihn sofort bekommen.“
„Fahren wir am Wochenende wieder irgendwohin?“, wollte Thomas wissen.
„Wenn das Wetter mitspielt.“
„Jetzt muss ich aber wirklich gehen und noch wenigstens bis halb 7 Hausaufgaben machen. Wenn ich länger bleibe, kommst du bloß wieder auf den Geschmack.“
„Du sollst es auch wollen. Ohne dem geht es sowieso nicht“, sagte ich, nun schon wieder etwas irritiert.
„Ich will es ja auch, glaub es mir! … bis halb 7, wenn du mich da überhaupt sehen magst?“
„Ich möchte dich immer sehen!“
Ich gab ihm zu verstehen, dass ich morgen bestimmt schon um halb 3 zu Hause sein werde und mich freuen würde, wenn er kommen könne. Das ginge dann aber nur ganz kurz, überlegte Thomas laut, denn er werde von 3.30 bis 4.15 Uhr Sport haben. Und wegen des Telefonierens wies ich ihn darauf hin, dass ich nur bis 12.15 Uhr zu erreichen sei. Da habe er sowieso noch Schule, meinte Thomas. Ich hatte ihm erzählt, dass ich schon anderthalb Wochen einen Zettel mit mir herumtrage, auf den ich ihm meine Telefonnummer im Betrieb aufgeschrieben hätte. Es war eigentlich schon der zweite Zettel, nachdem der erste unbrauchbar geworden war. Eigentlich sollte er ihn schon während der Radtour erhalten. Ich hatte den Zettel hinter meinen Rücken gehalten, damit Jochen ihn nicht sehen konnte. Thomas, der als Dritter in der Schlange fuhr, war aber nicht ein bisschen neugierig darauf gewesen. Nun hatte ich ihm den Zettel in die Tasche gesteckt und gemeint, dass ich mich freuen würde, riefe er mal nachmittags an, dann könne ich seine Stimme hören. Er wolle es gerne tun, versprach Thomas.
Durchs Fenster sah ich ihn mit dem Rad wegfahren. Es war kurz vor halb 6. Jetzt erst nahm ich den Brief meiner Schwester wieder zur Hand und öffnete ihn. Voller Ungewissheit las ich zuerst die Anrede und den Schlusssatz. Alles gut, dachte ich und begann den Brief zu lesen.

                                                                                                                    Neustrelitz, d. 10.9.88
Mein lieber Friedemann!
Am letzten Sonnabend habe ich Deinen Brief bekommen u. heute ist schon wieder Sonnabend u. sicher wartest Du schon auf meine Zeilen. Sei mir nicht böse, aber Sonnabend war ich d.h. wir bei C. zur Einschulung. Früh mit Edwin zur Schule, Edwin hat dann bei Volkmar Mittag gegessen, damit er sich auch mal mit Gudruns Eltern unterhalten konnte u. zum Kaffee bin ich dann mit Mutti hin gewesen, also alles in 2 Schichten, um jeden gerecht zu werden. Montag u. Dienstag hatte ich die Kleine von Susanne hier, sie waren zur Hochzeit, Susanne u. Wolfram. Als ich dann am Mittwoch endlich schreiben wollte, weil ich schon keine Ruhe mehr hatte, hat mich am Nachmittag eine Biene in die rechte Hand gestochen u. damit habe ich bis heute zu tun. Ich bin doch gegen Bienengift allergisch, wie Du vielleicht aus Deiner Ferienzeit bei uns noch weißt, da hatte es mich auch schon mal erwischt. Ich war richtig krank. Am ganzen Körper rote Stellen mit Juckreiz, im Mund u. am Hals + Gesicht geschwollen u. eine Hand so dick, daß ich dachte, die Haut geht auseinander, so bis zum Ellenbogen. Ich konnte nichts machen u. festhalten, also noch weniger schreiben. Heute geht es mit kleinen Schwierigkeiten, aber ich versuche es. Also, ich denke, Du entschuldigst mich. So, mein lieber Friedemann, nun erst mal zu Deinem Brief. Bitte glaube mir, ich war sehr traurig, daß Du solchen Kummer hast u. kann verstehen, wie Du Dich fühlst. Ich hoffe nur, daß sich schon inzwischen etwas getan hat u. Du Dich nicht mehr so quälst. Friedemann, warum hast Du solange gewartet, um Dich mir anzuvertrauen? Ich bin doch Deine Schwester u. Du mein einziger Bruder. Ich habe schon lange gefühlt, daß da etwas zwischen uns steht, worüber Du nicht reden konntest od. noch nicht wolltest u. habe gedacht, er braucht Zeit. Aber glaube mir, es erleichtert, sich jemanden anzuvertrauen u. ist es denn so schlimm? Ich habe es schon lange geahnt u. ich glaube, auch Edwin, aber deswegen bist Du doch nicht schlecht, wie Du schreibst. Jeder muß so leben u. glücklich sein, wie er es vermag u. keiner weiß, wie es richtig od. falsch ist. Oft habe ich versucht, Dir durch kleine Andeutungen zu zeigen, daß ich etwas ahne, aber mich auch nicht getraut, das Kind beim Namen zu nennen, um Dir nicht wehzutun, ich hätte mich ja irren können u. etwas kaputt gemacht, was mir sehr viel bedeutet, nämlich mein Verhältnis zu Dir. Also Friedemann, sicher kann ich Dir nicht helfen, aber verstehen u. auf keinen Fall böse sein, warum auch. Sag, ist Jochen der junge Mann mit dem Trabi damals? Ich glaube es! Und Thomas? Ist das eine neue, stärkere Bindung, die Dir begegnet ist u. Du deshalb zwischen zwei Stühlen stehst. Das habe ich nicht ganz verstanden. Hoffentlich findest Du den richtigen Weg, aber einem wirst Du wehtun müssen. Ja, Friedemann, ich möchte Dir so gern helfen, aber wie? Acht Jahre Gemeinsamkeit kann man eben nicht so leichten Herzens abtun. Auf jeden Fall brauchst Du Dir keine Vorwürfe machen, daß Du Dich mir anvertraut hast. Dein Brief ist auch in keine anderen Hände gekommen, als in die, für die er bestimmt war. Nun hoffe ich, daß es in Dir schon etwas anders aussieht, als zu dem Zeitpunkt, als Du die Zeilen geschrieben hast.
Bei uns geht auch alles so weiter. Mit Mutti sieht es noch genau so aus. Gestern waren wir wieder im Garten, aber sie sitzt nur rum u. zeigt für nichts Interesse. Von der Fürsorge habe ich noch immer keinen offiziellen Bescheid. Also bleibt mir noch eine Frist. Den Gedanken habe ich immer, ob früh od. nachts, er verfolgt mich überall, wie man so sagt. Edwin hat Probleme mit seinen Zähnen. 2 mußten schon raus u. immer am Wochenen-de. Im Moment liegt er u. schläft. Heute Vormittag hat er wieder einen ziehen lassen müssen. 4 Std. vorher braucht er dann eine Spritze, damit sein dünnes Blut gerinnt u. die Nachblutung steht u. bald eine Woche danach muß er fast täglich ins Labor, um wieder auf seine 25 % zu kommen. So ist bei uns immer etwas los. Ist sein Blut zu dick, hat er Herzschmerzen, weil es nicht richtig durchgeht u. mehr Kraft verbraucht. Eine Freude hat er wieder, wir haben wieder 2 Häsinnen im Stall u. beide sind tragend. Hoffentlich hat er Glück damit. So, mein Lieber, ich werde nun für mich und Mutti Mittag machen, Edwin bekommt nur Suppe, wenn er wach wird. Hoffentlich kommt heute mal kein Besuch, das wäre nicht so günstig. Also, bleib gesund, laß recht bald von Dir hören od. sehen u. versuch, nicht alles zu schwer zu nehmen, das macht kaputt, ich kenne das.
Viele liebe Grüße von Deiner Schwester Edeltraud u. ich denke, auch von Mutti, sie hat zwar nichts gesagt u. Edwin schläft.
Mach‘s gut, mein Kleiner

Hab ich nicht eine tolle Schwester? Ich werde ihren Brief wohl noch öfter lesen. Ob Mutti und Papa genauso reagiert hätten, wenn ich auch ihnen aber schon vor zwanzig Jahren reinen Wein eingeschenkt hätte? Heute tut es mir leid, dass ich es niemals versucht hatte.

Mit erleichtertem Herzen nahm ich den schwarzen Beutel vom Haken und tat das Leinsamenbrot, von dem Thomas die Hälfte abbekommen sollte, den Brief meiner Schwester, die Kladde eines neuen Gedichtes und den Regenschirm hinein. Dann ging ich nach Jochens Wohnung. Als Jochen 10 nach halb 7 kam und Thomas mitbrachte, hatte ich bereits das Abendbrot vorbereitet und sogar schon die Schnitten für morgen zur Arbeit fertig. Ich legte noch ein Gedeck für Thomas auf. Der hatte schon beim Reinkommen freudig ausgerufen: „Friedel hat mir ein Brot mitgebracht.“ Jetzt fragte er danach, wie viel es koste. Nichts, erwiderte ich. Thomas steckte vorsichtig seine Hand in meine rechte Hosentasche, um mir eine Mark darin zu hinterlassen.
„Ich könnte ja jetzt …“, sagte er schelmisch dabei.
„Dann tue es doch!“ hoffte ich. Leider vergebens.
Thomas saß schon am Tisch, als Jochen mir zur Begrüßung einen Kuss gab. „Nun mal los, einen Richtigen oder hast du das auch schon verlernt!“, beschwerte sich Jochen. Dann ging er in die Kochnische.
Ich muss zugeben, dass mir der Austausch von intimen Zärtlichkeiten im Beisein Dritter peinlich ist oder zumindest schwerfällt. Selbst vor harmlosen Umarmungen beim Begrüßen von Verwandten oder Freunden drücke ich mich. Zumal uns Thomas dabei ganz schön schief angesehen hatte.
Ich sagte zu Thomas: „Er meint, ich hätte was anderes schon verlernt.“
„Deinetwegen!“, rief Jochen aus der Küche heraus und meinte Thomas.
Wir saßen alle drei am Tisch, ich hatte uns Tee eingegossen, als Jochen zu erzählen begann: von seiner Schwester, wo sich sein Bruder gerade befand und was der alles bei seiner Äquatortaufe über sich hatte ergehen lassen müssen. Thomas saß Jochen gegenüber und rollte gereizt mit den Augen. Jochen solle nun endlich mit den Familiengeschichten aufhören, schnarchte er ihn an. Jochen glaubte, nicht richtig gehört zu haben ob dieser Dreistigkeit. Er sah ihn fragend an und meinte mit Recht, er könne doch wohl in seiner Wohnung erzählen, was er wolle, und direkt an Thomas‘ Adresse gerichtet, er sei hier schließlich nur Gast.
Damit war dann der Abend wieder gelaufen! Jochen setzte eine bittere Mine auf und Thomas bockte. Ihm sei jetzt schlecht geworden, verkündete der Kleine, und er könne nun nichts mehr essen. Nicht einmal den Tee hatte er angerührt. Auch Jochen kaute ziemlich hohl auf seinem Brot herum. Nur ich hatte guten Appetit. Als der Tisch abgeräumt war, nahm Jochen die Schulsachen aus der Tüte, die Thomas mitgebracht hatte, und wollte mit den Hausaufgaben beginnen. Auf alle Fragen und Bitten diesbezüglich sprang Thomas nicht an. Der sah nur trotzig vor sich hin. Jochen suchte sich daraufhin die Aufgaben selber heraus und begann mit deren Lösung. In der Tüte waren Mathesachen, die von Physik und Geografie. Jedes Wort, welches Jochen, über die Aufgaben gebeugt, sagte, wiederholte Thomas dann im Flüsterton. Ab und an grinste er zu mir herüber. Wie lange noch mochte Jochen seine Ruhe bewahren, dachte ich und hoffte, Thomas werde gleich wieder mit sich reden lassen. Er tat es aber nicht. Ich spürte förmlich, wie es in Jochen arbeitete. Plötzlich raffte der alle Sachen zusammen und steckte sie zurück in den Plastebeutel, denn endlich hatte er die Nase voll, ging hinaus in den Korridor und putzte seine Schuhe. Thomas suchte den Schreibblock wieder heraus und begann, einen Brief zu schreiben. Damit fertig, zog er sich an und verschwand wortlos. Ich drehte die Schallplatte um, ließ mich auf der Liege, auf deren Fußende ich mich gesetzt hatte, nach hintenüber fallen und versuchte, mich mit geschlossenen Augen nur auf die Musik zu konzentrieren, an nichts weiter zu denken. Jochen las derweil den Brief.
„Möchtest du den Brief nicht lesen?“, fragte er.
„Das ist bestimmt ein Abschiedsbrief!“
„Ja, so ungefähr.“
Ich las.
Ich glaube, es wird in Zukunft besser sein, wenn Ihr eine
Zeit allein bleibt. Ich für meinen Teil wußte, warum ich das
mache. Meine Hausaufgaben werde ich dann ja wohl auch alleine
machen müssen, ich bin zwar nicht ganz so inteligent3 wie du
und Ihr beide überhaupt, aber dann sitze ich eben 2 Stunden zu Hause
allein, als 1/2 h hier mit Dir (Euch). Ich habe noch eine Bitte, schmeißt
die Bilder von dem Film doch wenigstens weg, damit die Leute auf
der Straße nicht mit Fingern auf mich oder Euch zeigen.
Ich hätte es gleich wissen müssen, dieses Spiel ist verloren.
Gewinner zu sein, oder zu mindest in der Runde zu bleiben kam
von Anfang an nicht in Frage. Daß ich nicht das bin und auch
nicht sein kann, was Eure Erfüllung wär, liegt ja offen.
Vertrauen ist Luxus und es gibt Leute, die sich diesen Luxus nicht
leisten können. Das mit Physik wird dann morgen der Reinfall,
die erste 5. Aber das macht nichts, es ist ja meine Zensur.
Wenn Du glaubst, der Pohl haut hier nur auf die Kacke, irrst
Du, ich werde mich auf dem schnellsten Weg nach Hause bewegen
und mich, bin ich dann oben angelangt, in mein Kissen
drücken. Hausaufgaben mache ich keine mehr.
Es gibt zwar immer ein ja, aber es
gibt auch 10 nein, die dagegenstehen.
   Ein nein sind meine Gefühle.
 Viel Spaß dann auch noch am heutigen
 Abend und natürlich, nicht zu vergessen,
mit Frank.
Alles andere fällt aus wegen ist
  nicht.

Auf die Rückseite hatte er unter die begonnene Matheaufgabe 2e) geschrieben:

  Wieso leckt Ihr mich nich

Dieser Satz war aber wohl nicht zu Ende geschrieben. Aus Angst, wir könnten es wahr machen?
„Spinnt der? Was will er eigentlich?“ Jochen war ziemlich aufgebracht.
„Ich denke, er hat uns den Kuss übel genommen“, sagte ich.
Jochen meinte aber: „Na, ich denke, ihm wird wohl nicht gepasst habe, hier nur Gast zu sein.“
„Ja, das kann es natürlich auch gewesen sein“, stimmte ich dem zu.
Jochen stand am Fenster und sah durchs Dunkel hinüber zu Thomas. Als dort das Licht anging, zog er das Rollo einmal bis zur Hälfte herunter und ließ es gleich wieder hochschnurren. „Pass auf, er ist bald wieder hier“, sagte er.
„Dann gehe ich aber vorher!“
Dazu kam ich gar nicht mehr, denn Thomas klingelte bereits. Wie er das in so kurzer Zeit schaffen konnte, ist mir ein Rätsel. Eine Erklärung wäre, er ist tatsächlich der Teufel persönlich. Ich saß jetzt im Sessel und ahnte darum nichts Gutes, Thomas stand an der Ecke der Anbauwand.
Jochen war, Versöhnung suchend und halb entschuldigend, auf ihn zugegangen und sagte: „Hör zu, ich möchte keine Schwierigkeiten mit deinen Lehrern bekommen.“
Thomas nahm das Friedensangebot nicht an, aus welchen Gründen auch immer: Er schwieg. Dieses Theater kotzte mich an. Wenn er nicht in Frieden gekommen war, dann hätte er ebenso gut drüben bleiben können. Ich schob mich durch die dicke Luft in Richtung Korridor und ging in die Toilette. Da drinnen bekuckte ich mir die Wände und zählte langsam bis fünfzig. Als ich nach geraumer Zeit in die Stube zurückging, hatte sich dort am brenzligen Status quo nicht das Mindeste geändert.
„Möchtest du dich nicht hinsetzen?“, fragte ich Thomas vorsichtig. Keine Reaktion. „Wenn du nicht mit uns reden willst, hättest du nicht rüberkommen brauchen!“
Thomas ging zum Fenster, zog das Rollo halb herunter und ließ es wieder hochschnurren, ganz genau so, wie es Jochen vorhin getan hatte, was wohl so viel heißen sollte, dass wir ihn schließlich gerufen hätten. Dann ordnete er die Gardine und ging zurück an seine Schrankecke. Jochen fragte ihn, ob wir von nun an nur noch in der Zeichensprache miteinander verkehren wollten. Ich verließ abermals die Stube, machte aber diesmal hinter mir die Tür zu, zog mich an und haute ab. Der Teufel spielt mit uns, dachte ich unterwegs. Es dauerte nicht lange, da kam mir Jochen nach.
„Damit du nicht denkst, er wäre noch geblieben. Als er hörte, dass du gehst, hat er wortlos sein Brot genommen und ist auch gegangen“, sagte Jochen und legte den Schlafsack, den er unter dem Arm hielt, auf die Liege. Den hatte sich Kati ausgeborgt.
„Also deswegen ist er noch einmal rüber gekommen“, sagte ich enttäuscht.
„Du hast wieder nichts dazu gesagt“, warf Jochen mir vor. „Weißt du, dass du mich beleidigst, wenn du nichts sagst? Du weißt es!“
„Du musst mich auch verstehen. Mich trifft es doch am härtesten.“ Weiter wusste ich nichts zu sagen, meine Gedanken kreisten aber um Thomas, diesem Holzklotz. Wie sollte ich es anstellen, ihn nicht zu verlieren?
Nach einer Weile fragte Jochen: „Warum lachst du?“
„Du hast doch bestimmt gedacht, dass er hier ist.“
„Dann hätte ich ihn aber hochkantig rausgeschmissen. Und dich auch. Du kämest dann sofort zu mir.“
„Das hättest du nicht noch einmal wagen sollen!“
„Hätte ich aber!“
Wir sahen beide auf den Boden und schwiegen.
„Wärest du heute länger geblieben, wenn Thomas nicht gekommen wäre?“, fragte er.
„Das hatte ich mir vorgenommen. Ich hatte den Brief von meiner Schwester mit, den du lesen solltest.“
„Den kannst du mir ja auch jetzt noch zeigen.“
„Das kann ich.“
Jochen faltete die Seiten auseinander und las. Ich sah ihm dabei zu. Als er fertig war, holte er sein Taschentuch heraus und wischte das Feuchte unter seinen Augen weg.
„Warum weinst du?“
„Ich hatte gehofft, sie würde dir die Leviten lesen.“
„Wie kann sie das?“
Dann ging Jochen nach Hause. Traurig winkte er zum Fenster hinauf. Mich hatte er mit schlechtem Gewissen zurückgelassen. Warum hatte er danach gefragt, was er seiner Mutter sagen solle, wenn sie uns wieder zum Essen einlädt und ob ich mitkomme zu ihrem Geburtstag? Natürlich solle er zusagen und ganz sicher werde ich mit zum Geburtstag gehen. Ich griff meine Sachen, verfluchte das ewige Hin und Her und ging wieder zu ihm. Jochen war schon im Schlafanzug, auch sein Bett hatte er schon gemacht. Das Rollo war vollständig heruntergezogen, damit er der Versuchung, hinüberzusehen, besser widerstehen konnte. Auch ich machte mein Bett, kroch dann aber lieber zu Jochen rein.
„Du weißt immer, wo es am wärmsten ist“, sagte Jochen und umschlang ihn.



Montag, 12. September 1988 - Mittwoch, 14. September 1988

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