Die Hoschköppe / 32. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 32. Kapitel

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Mittwoch, 14. September 1988


„Vergiss ihn! Was du fälschlicherweise für Liebe hältst, ist in Wirklichkeit nur Geilheit! Vergiss ihn einfach!“ wiederholte Jochen. Das waren gestern Abend seine letzten Worte vor dem Einschlafen. Wenn das so leicht wäre. Und würde er diese Bitte hundertfach wiederholen, ich kann es nicht.
Heute war ich kurz vor halb 3 zu Hause. Im Briefkasten schlummerte eine Einladung vom Fahrradladen: Ich könne, wenn ich etwas mehr als 31 Mark mitbrächte, mein Rad abholen. Schön, dachte ich, dann kann ich am Wochenende mit meinem eigenen Rad fahren, wenn es denn zu einer Tour kommen sollte. Damit es denen nicht unnötig lange im Wege steht, bin ich sofort hingegangen, es sind ja nur ein paar Schritte. Dass aber mittwochs geschlossen ist, hätten die ebenfalls auf die Karte schreiben sollen! Wieder zurück, entfernte ich den Bin-gleich-wieder-da-Zettel von meiner Tür und räumte zunächst das Bettzeug weg, denn wenn Thomas kommen sollte, hätte es nicht nur einen unaufgeräumten Eindruck gemacht, sondern Thomas würde sich dadurch vielleicht auf plumpe Art und Weise angemacht fühlen. Noch war er aber nicht da und bis er kommen würde, wollte ich schon mal mit der Beantwortung des Briefes meiner Schwester beginnen. Währenddessen rückten die Zeiger des roten Weckers dem Beginn seines Sportunterrichtes immer näher, bis sie endgültig darüber hinaus waren.
Um 16.30 Uhr ging ich zuerst in die kleine Kaufhalle und von dort zu Jochen. Wir wollten noch in die Buchhandlung und zur Dienstleistungsannahme. Meine hellgraue Sommerjacke hatte sich nach mehrjährigen treuen Diensten endlich einen neuen Reißverschluss verdient, nachdem der alte seinen kleinen Geist aufgegeben hatte. Die Kollegin hinterm Tresen, freundlich und zuvorkommend, legte uns mehrere Reißverschlüsse in der passenden Länge zur Auswahl vor. Sie waren alle in Metallausführung und in den Modefarben Schwarz, Weiß oder Grün. Wir besahen uns die Dinger abwartend. Ich mochte mich nicht so rasch festlegen. Die Bedienung meinte verständnisvoll, als sie ein gewisses zögerliches Verhalten ihrer Kundschaft bemerkte, ich könne ja auch selbst mal versuchen, einen passenden zu bekommen. Wenn ich damit Erfolg hätte, könne ich gerne und sofort wiederkommen. Ich könne aber auch ab und zu bei ihr nachfragen, sie bekämen laufend neue Ware.
Von dort gingen wir in die große Kaufhalle. Jochen hatte einer Kollegin versprochen, Sojamehl mitzubringen.
Während wir zu Abend aßen, klingelte es plötzlich. Ich zuckte zusammen. Ich wurde, verdammt noch mal, immer schreckhafter. Jochen ging aufmachen, ich in die Kochnische, des Tees wegen, der gerade fertig war. Ohne einen von uns zu begrüßen oder irgendein anderes Wort von sich zu geben, ging Thomas in die Stube, holte sich einen Schreibblock aus dem Schrank, man kennt sich ja aus, setzte sich an den Tisch und begann, einen Brief zu schreiben. Jochens Anrede lief an ihm hinab, wie ein warmer Pudding an einem angetauten Eisblock. Herkommen, um uns einen Brief zu schreiben, das hätte er nicht brauchen. Jochen fragte ihn: „Kannst du uns das nicht so sagen?“
Wir aßen weiter. Das Einzige, was Thomas aus seinem Mund ließ, war die kurze Frage danach, wie man ein bestimmtes Wort schreibe. Daraufhin riss er das Blatt vom Block ab, knüllte es zusammen und warf es hinter sich in den Sessel. Er begann erneut, zu schreiben. Als er damit fertig war, faltete er den Bogen zusammen, legte den Block wieder ordentlich in den Schrank zurück und ging. Wortlos, wie er gekommen war. Wir sahen uns beide verständnislos an. Warum müssen wir in den teuren Zirkus gehen, wenn der frei Hause zu uns in die Wohnung kommt?
„Kuck mal hier! Sicherheitshalber.“ Ich zeigte Jochen die Trinkflasche von Thomas‘ Fahrrad, die unübersehbar auf der Flurgarderobe stand.
„Ich habe sie da raufgestellt. Er hat sie wohl das letzte Mal vergessen“, sagte Jochen. Ich begann abzuräumen, während er den angefangenen Brief glatt strich und las.
„Der spinnt!“, sagte Jochen. „Hast du ihn heute schon gesehen?“
„Nein.“ Stand etwa in dem Brief etwas von der Verabredung? Jochen hatte mich schon einmal gefragt, ob Thomas heute bei mir gewesen wäre.
„Er muss vorhin irgendwo an uns vorbeigefahren oder gerade gekommen sein, als wir los wollten, und irgendetwas gehört haben. Hast du ihn gesehen?“ fragte Jochen.
„Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen. Und als wir gegangen sind, war von ihm doch gar nicht die Rede. Wir haben über mein Fahrrad gesprochen.“ Ich verstand die ganze Sache nicht so recht.
Jochen gab mir die zerknitterte Seite. Den vollständigen Brief hatte Thomas wohl in den Briefkasten gesteckt. Während ich die wenigen Zeilen las, die darauf standen und die für mich keinen Sinn ergaben, brachte Jochen den Mülleimer runter. Ich war so erregt, dass das Blatt in meiner Hand wie ein Lämmerschwanz zitterte.
Ich weiß zwar nicht, wer von Euch diese aufregenden Laute von sich
gab, Ihr solltet es aber besser seinlassen. So ‘ne billige Anmache
ist mir sowohl zu primitiv, als auch zu kindisch. Ihr scheint zu
vergessen, daß Ihr Jungs seit. Noch fahre ich vorbei
Jochen war wieder da: „Im Briefkasten ist nichts!“
Ich saß noch eine ganze Weile im Sessel mit dem Papier in der Hand.
„Mach dich nicht verrückt deswegen“, meinte Jochen ruhig.
„Mach ich aber.“ Dann kam mir die rettende Idee: „Weißt du, wie der Satz weitergehen sollte: … wo ich will. Ich kann vorbeifahren, wo ich will. Wir sind überhaupt nicht gemeint. Die beiden Typen von der Ecke sind es. Gestern erzählte er, die hätten wieder dort gestanden, als er vorbeikam. Na klar, so wird es sein. Die haben ihn von hinten angemacht und darüber war er so wütend.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Dann hörten wir durchs geöffnete Fenster eine zaghafte Fahrradklingel. Sie rief mich zwar aus meinem Sessel heraus, zeigte mich aber nicht. Dafür winkte ich Jochen heran und bedeutete ihm, dass Thomas unten stehe. Jochen kam, zog die Gardine zur Seite und fragte Thomas, was er wolle. Sie sprachen eine Weile miteinander. Ich bekam davon immerhin so viel mit, dass der Brief wirklich für die beiden Typen bestimmt gewesen sei. Die hatten es vorhin tatsächlich gewagt, ihn anzumachen. Noch habe er ihn aber nicht übergeben können, weil die beiden nicht mehr zu sehen seien. Dann eben morgen, in der Schule, meinte Thomas. Ich stellte die Fahrradflasche in Jochens Reichweite, der sie dann Thomas zuwarf. Plötzlich schnellte Jochen ins Zimmer zurück und hob stöhnend die Arme in die Höhe.
„Was ist denn nun los?“, fragte ich ihn.
„Frank geht gerade vorbei. Ausgerechnet.“
„Hat er hochgesehen?“
„Nein. Er ist auch nicht allein.“
Als sie vorüber waren, wandte sich Jochen wieder an Thomas und fragte ihn, ob er nicht reinkommen wolle. Ich verstand Jochen nicht, da hätte die Flasche ja ebenso gut stehen bleiben können. Dann bat Thomas, ich möge doch auch mal ans Fenster kommen. Mir schien es, als sei Thomas jetzt in bester Laune und überhaupt nichts geschehen. Thomas hielt mir drei Finger entgegen und fragte, ob ich mich nicht gewundert hätte. Mir war klar, dass er unsere Verabredung meinte.
„Ich habe mich nicht gewundert.“
„Nein?“, staunte Thomas.
Dann kamen wir noch einmal auf die beiden Typen zu sprechen. Ich fragte ihn, was die denn gesagt hätten. Ach, gesagt hätten sie gar nichts, meinte er. Einer habe nur hinter seinem Rücken ein lautes Schmatzen hören lassen. Er habe daraufhin angehalten und sich umgedreht. Der jüngere von beiden habe eine knallrote Birne bekommen.
„Ich habe mir für solch eine Gelegenheit schon etwas ausgedacht“, sagte ich.
„Was denn?“, wollte Thomas wissen.
„Das sage ich dir, wenn du kommst.“
„Sag es jetzt!“
„Ich werde ihn dann vor versammelter Mannschaft fragen, wann er denn mal wieder zu mir kommt. Der sagt nie wieder was.“
„Meinst du, das klappt?“
„Ich werde dann meinen ganzen Mut zusammennehmen.“
Thomas tat von Weitem wieder sehr zutraulich, es waren ja auch einige Meter Luftlinie zwischen uns. Ich solle Jochen sagen, er werde nachher noch Astronomiehausaufgaben bringen. Als wenn Jochen auf allen Gebieten gleich gut beschlagen wäre!, dachte ich. Thomas konnte sich gar nicht losreißen, obwohl er schon ein paar Mal mit Nachdruck darauf hingewiesen hatte, nun unbedingt fort zu müssen, denn um sieben habe er jemanden aus seiner Klasse zu erwarten. Es war nur wenige Minuten davor, als er endlich fuhr.
„Als wäre nichts gewesen“, sagte ich zu Jochen.
„Das macht er doch immer so“, bestätigte er.
„Eigentlich hatte ich mir für heute Abend vorgenommen, gleich nach dem Essen zu verschwinden und erst wiederzukommen, wenn Thomas wieder weg wäre. Das für den Fall, er wäre überhaupt gekommen. Oder solange zu warten, bis du mich abgeholt hättest.“
„Willst du nicht mal auf den Wall gehen, da gibt es bestimmt auch frisches Blut“, schlug mir Jochen vor.
„Solch ein Vorschlag aus deinem Mund?“ Hielt er mich für vampirisch? „Da treibt mich überhaupt nichts mehr hin. Ich glaube kaum, dass ich nach so langer Zeit überhaupt hinfinden würde. Auch mit Frank hat es mir keinen richtigen Spaß gemacht. Den kannst du gerne haben, ich gönne ihn dir.“
„Du möchtest nur Thomas, was?!“, stellte Jochen bitter fest.
Wir saßen und hörten Musik, nachher wurde der Fernseher angemachten. Bei Thomas war die ganze Zeit das Rollo runter gezogen. Jochen spekulierte: „Was meinst du wohl, was die da machen!“ Gegen halb 9 wollte ich nach Hause gehen.
„Wenn du nicht gehofft hättest, dass Thomas noch kommt, dann wärst du doch schon längst weg gewesen“, warf Jochen mir vor. „Jetzt kommt er bestimmt nicht mehr.“ Vielleicht hatte er recht.
„Willst du nicht aufmachen, es hat geklingelt?“, fragte ich, denn Jochen hatte es scheinbar überhört.
Thomas war nun doch noch gekommen. Schade, dachte ich, er hätte lieber später zu mir kommen sollen. Er brachte Werther‘s Echte mit, aber nicht, um sich damit wieder einkratzen. Astro wolle er morgen in der Schule machen. Zwei LPs mit Ronnys Pop-Show hatte er auch dabei.
„Wollt ihr etwa wieder diesen blöden Film sehen?“ bevormundete er uns wieder und legte eine der LPs auf. Die habe sein Vater mitgebracht. Zurzeit sei er mit seiner Mutter allein, die anderen seien alle ausgeflogen. Sein Vater sei dienstlich in Berlin. Darum also noch der späte Besuch. Wenn sein Vater zu Hause sei, müsse er früher drin sein. Thomas war immer noch guter Dinge und sehr ausgelassen, witzig und albern wie meist. Gerade das, finde ich, macht ihn so anziehend. Dumm ist er auch nicht. Für sein Alter vielleicht etwas klein. Handlich eben.
Thomas hielt uns eine Plattenhülle entgegen, deutete auf Boy George von Culture club und meinte: „Das ist der Schwule.“
„Dann sind wir jetzt ja vier hier im Raum“, zählte Jochen zusammen.
Thomas zeigte Jochen, der rechts neben mir auf der Couch saß, einen Vogel. Immer, wenn Thomas bei uns ist, habe ich das Bedürfnis, etwas von Jochen abzurücken. Der merkt es natürlich und nimmt es mir bestimmt übel. Ausgelassen turnte Thomas im ganzen Zimmer umher, bis er sich schließlich mit pochendem Herzen quer über meine Schenkel warf und seinen Kopf in Jochens Schoß bettete. Es war erregend, seinen schnellen Puls zu spüren. Etwas Elektrisierendes stieg in meinem Körper auf, die kaum spürbare Last auf meinen Schenkeln atmete einen leichten Schweißgeruch aus. Als dann aber die Platte zu Ende war, stand Thomas auf und drehte sie um. Er kehrte leider nicht in seine Ausgangsposition zurück, sondern setzte sich in einen Sessel. Er schien zu überlegen. Dann fragte er: „Habt ihr euch verändert?“
„Ich glaube nicht“, sagte ich.
Dann platzte Thomas mit einer grandiosen Idee heraus. Er machte uns einen aber wohl nicht ernst gemeinten Vorschlag: „Wir könnten ja jetzt einen flotten … Ich sag‘s lieber nicht.“
Was er meinte, ließ sich an drei Fingern abzählen. Ich tat, als wäre ich strikt dagegen, was ich in der Tat auch war. Ich konnte mir das leisten, weil Thomas sowieso nicht mitgemacht hätte, dachte ich jedenfalls. Jochen fasste meine Ablehnung natürlich ganz anders auf und meinte schnippisch, er könne ja gehen, wenn er dabei störe und er wisse schon wieder Bescheid. Dabei verzog er sein Gesicht zur Fratze und fuchtelte mit den Armen in der Stubenluft umher. Die gute Stimmung fiel in sich zusammen und kroch dicht über den Fußboden bis ins Bad. Dort lag sie nun auf dem Boden des roten Plasteeimers und sah aus wie eine totgeschossene Heidelbeere. Ich ging ihr ins Bad nach, um für eine Weile „frische“ Luft zu schnappen. Als ich wieder ins Zimmer zurückkam, lief der Fernseher. Thomas saß davor auf der Sessellehne. Er hatte inzwischen seinen Pullover angezogen.
„Wird nun der Abend abgebrochen, machen wir Schluss?“, fragte ich.
„Werde ich jetzt wieder rausgeschmissen?“, wollte Thomas wissen.
Ich setzte mich hinter Thomas auf die Rückenlehne und legte einen Arm um seinen Hals. Das sollte bedeuten, dass ich ihn nicht hinauszuwerfen beabsichtigte. Thomas bedankte sich dafür, indem er sich an mich lehnte. Ich spürte von Neuem seine Wärme auf mich übergehen. Jochen, der das mit ansah, kochte innerlich über, sagte aber nur zu ihm: „Du musst doch sowieso um zehn zu Hause sein, denke ich“, und ging ins Bad, um sich zu waschen. Thomas bog seinen Kopf nach hintenüber, sah mir in die Augen und schloss dann seine. Ich, dieser Einladung gerne nachkommend, presste meine Lippen auf Thomas‘ geöffneten kleinen Mund, meine Ohren aber hatte ich in Richtung Bad gedreht.
„Könntest du nicht später zu mir kommen?“, erkühnte ich mich zu fragen.
„Wann später?“
„Um zwölf, um eins.“
„Spinnst du, wenn meine Mutter das mitkriegt!“
Es war ja auch nur ein Versuch. Ich wollte wissen, wie er reagieren würde. Als Jochen aus dem Bad zurückkam, fand er uns beide noch genauso vor, wie er uns verlassen hatte. Er machte mir heftige Vorwürfe in der Art, er sehe doch, was los sei und das Feuer brenne wohl schon wieder. Dabei zog er sich aus und ging ins Bett. Ich dagegen zog mich an, verabschiedete mich und fragte Thomas, ob er gleich mitkäme oder noch bleibe. Thomas versuchte, Jochen zu beschwichtigen. Ein ganz seltener Fall. Ihm wäre er ja auch gar nicht böse, meinte Jochen.
Thomas und ich gingen gemeinsam in Richtung Zeitungskiosk. Es war zwar trocken, aber kühl. Wieder gingen alle naslang Leute vorüber. Als wir aus dem Haus kamen, hatten wir eine Sternschnuppe gesehen, die gerade quer durch den Himmel schoss und so plötzlich verlosch, wie sie aufgeflammt war. Jemand hatte da oben für uns ein Streichholz angezündet, das ihm der kalte Sternenwind wieder ausgeblasen hatte.
„Wenn man eine Sternschnuppe sieht, kann man sich was wünschen“, sagte ich zu Thomas. Aber das wusste er schon. Wahrscheinlich aus Astronomie.
„Und was hast du dir gewünscht?“, fragte er.
„Das darf man nicht verraten.“
„Ich kann’s mir schon denken.“
An der Ecke angelangt, standen wir unter der Uhr, deren großer Zeiger hörbar von Minute zu Minute sprang. Er fragte: „Und wie lange soll ich bleiben, wenn ich kommen würde? … Aber es geht ja doch nicht.“
„Meinetwegen bis morgen früh um vier.“ Hatte Thomas tatsächlich die Absicht? Das wäre ja …
„Und dann hänge ich morgen in der Schule wie ein Schluck Wasser und penn! Was wollten wir überhaupt so lange machen? … Was du mit Frank machst?“
„Dann passiert nicht viel“, sagte ich, weil ich ihm keine Angst machen wollte.
„Joschi würde sowieso wieder hinkommen.“
Die Befürchtung war nicht von der Hand zu weisen. Besser war es, das Thema zu wechseln. Ich erzählte darum, dass Jochen und ich morgen in die Sauna wollen. Sauna finde er eklig, meinte Thomas naserümpfend. Wir hatten uns gerade verabschiedet, aber noch keinen Schritt voneinander weg getan, als Jochen angerannt kam. Wer zum Feuermelder muss, weil sein Nachthemd in Brand geraten war, kann es nicht schneller tun. Wie heißt es doch in dem Lied so schön: Wer zum Feuermelder rennt, weil sein Nachthemd brennt, der hat Licht am Hacken. Ihm war aber alles andere, nur nicht zum Lachen, wie es schien, denn mit gepfefferten Worten wies er uns auf offener Straße zurecht, dass es sich gewaschen hatte. Leider kann ich bei solchen Szenen nicht immer ernst genug aussehen. Über mein Gesicht schleicht dann oft ein hämisches Grinsen, für das ich eigentlich gar nichts kann. So auch jetzt. Dass dies nicht gerade beruhigend auf Jochen wirkte, wird sich jeder denken können. Das habe er sich ja gleich gedacht, fuhr der uns lautstark an. Ich solle mir morgen um halb 5 meine Sachen abholen und Thomas, der solle sich ja nicht wieder sehen lassen. Als aller Dampf raus war, machte er kehrt und ging zurück. Alle Zu- und Ausreden hatten nicht geholfen. Ich schickte mich an, bedeppert nach Hause zu gehen, aber Thomas meinte, es sei besser, wenn ich jetzt zu Jochen ginge. Na gut, es war vielleicht wirklich besser. Wir gingen ihm beide nach. Jochen wartete vor der Haustür. Thomas brachte ihn aber mit nur wenigen Worten, die bestimmt nicht so gemeint waren, noch mehr auf die Palme. Ich bekam auch noch einmal eine gehörige Portion Fett ab. Woraufhin ich mich auf den Hacken umdrehte und ging. Das hatte ich nicht nötig, mich dort unter den geöffneten Fenstern abkanzeln zu lassen. Im Weggehen hörte ich noch Thomas sagen: „Er wollte gerade wieder zu dir kommen …“
Ich überquerte eben die Wilhelm-Hörning-Straße, da hörte ich jemanden angerannt kommen. Mir fuhr augenblicklich der Schreck in alle Glieder. Ich erinnerte mich sofort an meinen ersten Tag in dieser Stadt. Es geschah am 1. Oktober 1976, da war mir in Lütten Klein auch jemand hinterhergelaufen und hatte mich von hinten angequatscht, ob ich eine Zigarette übrig hätte. Ich hatte mich damals kaum umgedreht und mit den Worten, ich sei Nichtraucher, die Frage verneint, da war ich schon zu Boden geschlagen. Diesmal war ich froh, dass es Jochen war, der mir nachgelaufen kam. Er bat mich, mit zurückzukommen.
„Merkst du nicht, dass der uns fertigmachen will, dass er mich fertigmachen will?“, keuchte er.
Diesen Satz kannte ich schon auswendig. „Na gut“, sagte ich. „Komm mit rauf, ich hole nur meine Sachen.“
„Nein, ich warte hier.“
„Ist doch Quatsch, komm mit.“
Ich ging allein in meine Wohnung. Als ich wieder runter kam, war Jochen weg. Am Zeitungskiosk holte ich ihn dann ein. Wieder ganz aufgebracht erzählte er mir, dass Thomas noch immer hier herumschleiche. Er habe ihn gerade noch gesehen. Ich schaute mich suchend um, sah ihn aber nicht.


Dienstag, 13. September 1988 - Donnerstag, 15. September 1988

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