Die Hoschköppe / 30. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 30. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Montag, 12. September 1988


Ein arbeitsreiches und dennoch schönes Wochenende liegt hinter uns.
In der Gewerkschaftsversammlung am Freitag wurde jedes Kollektivmitglied vom Vertrauensmann danach gefragt, was es im Rahmen der Septemberinitiative zur Verschönerung seiner näheren Wohnumgebung geleistet hätte. Als ich an der Reihe war, musste ich leider gestehen, dass mir bis dahin ganz entgangen war, eine jahreszeitbedingte Initiative unterstützen zu sollen. Am heutigen Montag konnte ich ihm nun feierlich melden, dass ich mein Fenster gestrichen habe. Ich betonte, es ordentlich gemacht und deshalb vier Stunden dafür gebraucht zu haben. Also ganz anders als ein professioneller Anstreicher.
Als ich am Freitag von der Arbeit nach Hause kam, warteten gleich zwei Nachrichten auf mich. Beide waren in Form eines Zettels und von Jochen. Der ersten davon befand sich im Briefkasten. Darauf stand:

         16.15 Komme wenigstens Du zum Kaffee. Jochen

Ich hatte nur deswegen in meinen Briefkasten gesehen, weil ich dieser Tage mit Bangen einen Brief meiner Schwester erwarte. Die Tageszeitung war bereits vor zwei Jahren abbestellt. Mir taten die Bäume leid. Der zweite Zettel, mit der gleichen Aufschrift, lag auf der Flurgarderobe. Jochen hatte ganz sichergehen wollen. Ich schloss daraus, dass er enttäuscht und sauer sei, und war der dringenden Einladung folgend gleich zu ihm gegangen, obwohl ich eigentlich sofort mit der Baufreimachung des Fensters beginnen wollte. Man sollte sich eben nichts vornehmen. Scheiß Planwirtschaft!
Jochen hatte schon aus lauter Verzweiflung und Hunger seine Kuchenration verputzt, denn er hatte kein Mittag gegessen, da seit Kurzem der Freitag sein Studientag war. Nun teilten wir uns die Portion, die Thomas zugedacht war. Es war so, wie ich es mir gedacht hatte: Er war sauer auf Thomas.
„Dieser Schuft!“, meinte Jochen.
Automatisch nahm ich Partei für Thomas. Das nahm Jochen natürlich wieder übel. Dabei wollte ich ihn nur beruhigen. Er solle sich nicht den Kopf heiß reden, bevor er nicht wisse, was Thomas vom Kommen abgehalten habe.
Nach dem Kuchen sind wir zu mir gegangen. „Ich werde das ohne Weiteres allein schaffen“, sagte ich zu Jochen, als ich merkte, dass er mitwollte.
„Du hilfst mir ja auch immer“, entgegnete Jochen entschieden.
Wir schoben die schweren Sessel und den Tisch in Richtung Norden, rollten das dadurch freigewordene Stück des mongolischen Persers zusammen, rückten den Fernseher samt Fernsehtisch und die Blumenbank in die Mitte des Zimmers und entledigten das Fenster von allen Kakteen. In dieses Durcheinander hinein überraschte uns Frank mit seinem Besuch, der, aus Ermangelung eines anderen Platzes, das noch einzige freie Eckchen auf der Liege einnahm. Sich äußerst überflüssig vorkommend, und das war er in diesem Moment ja tatsächlich, blätterte er verlegen in einem Bildband. Das haut wieder hin, wie die Faust aufs Auge, dachte ich, wenn Frank schon mal zu mir kommt, dann ist ausgerechnet Jochen hier. Aber wahrscheinlich war er nur zu mir gekommen, weil er Jochen nicht zu Hause angetroffen hatte.
Und wenn es kommt, dann kommt immer alles auf einmal! Ich sah nämlich Thomas, der zu mir herauf lächelte.
„Geh mal bitte zur Tür!“, sagte ich deshalb rasch zu Jochen. Der sollte ihn dort in Empfang nehmen und möglichst mit ihm zu sich nach Hause gehen. So hoffte ich jedenfalls, denn ich legte keinen Wert darauf, dass sich Frank und Thomas hier begegnen und vielleicht auch noch kennenlernen sollten. Thomas hatte aber bereits die fremden Schuhe im Korridor entdeckt und musste nun unbedingt auch noch den dazugehörigen Rest in Augenschein nehmen. Natürlich war er nicht davon begeistert, bei uns, oder bei mir, einen anderen Kerl - oder besser gesagt, einen anderen jungen Mann - vorzufinden, das war ihm sofort anzumerken. Er war sogar recht ungehalten darüber. Er flüsterte mir zu, dass das noch ausgewertet werden würde. Ich meinte daraufhin, natürlich so, dass es niemand sonst hören konnte: „Wenn ich dich nicht haben darf, dann eben einen anderen!“ Thomas sah mich mit seinen treuen Augen erschrocken an. Ich hatte diesen Satz zwar schon öfter gebraucht, dass ich ihn aber eventuell ernst gemeint haben könnte, schien Thomas wohl bisher nicht geglaubt oder in Betracht gezogen zu haben.
Frank war dann bald unverrichteter Dinge abgehauen, es war ja auch zu ungemütlich. Er möge ruhig mal wieder reinschauen, hatte ich ihm mit auf den Weg gegeben. Als er aber noch da war, waren Jochen und Thomas runter in den Keller gegangen, um eine Rolle Altpapier raufzuholen. Später hatte mir dann Jochen erzählt, Thomas habe sich furchtbar darüber aufgeregt, dass Frank da sei, er habe gefragt, was der von mir wolle, und gemeint, dem würde er was erzählen usw. Was sollte Thomas Frank schon großartig erzählen wollen?
Nachdem an der Fensterwand eine Bahn des grauen Papiers ausgelegt worden war, um die liegen gebliebene rote Auslegware vor der weißen Farbe zu bewahren, hatten Jochen und ich damit begonnen, die alten Dichtungsstreifen abzureißen. Thomas erzählte derweil, warum er am Nachmittag nicht hatte kommen können. Es war eine unvorhergesehene Astronomiestunde in der Sternwarte dazwischengekommen. Ich hielt mich aus der sich daraus entwickelnden Diskussion heraus und focht lieber mit den widerspenstigen Schaumstoffstreifen. Mit anhören musste ich mir allerdings ihre Streitereien. Thomas sparte bei dieser Gelegenheit auch nicht mit Anspielungen und Vorwürfen, mich und Frank betreffend. Er trieb es solange, bis mir der Kragen platzte, was sehr ungewöhnlich ist, und schrie, wütend auf alle beide: „Möchtet ihr jetzt nicht beide gehen!“
Thomas zog getroffen den Schwanz ein und ging. Er ging, ohne hinter sich die Tür mit lautem Getöse zuzuschmeißen, wie es sonst in derartigen Situationen der Fall war! Ich sah ihm aus dem Fenster nach. Er hatte seinen Blick stur auf den Gehsteig unter seinen Füßen gerichtet, nicht ein einziges Mal sah er sich um. Er tat mir schon wieder leid. Während Jochen noch immer mit den Dichtungsstreifen und dem Abschaben der stellenweise losen Farbe beschäftigt war, begann ich bereits mit dem Streichen.
Es hatte ihn aber nicht lange zu Hause festgehalten. Vielleicht war ihm auch inzwischen bewusst geworden, dass er sich wieder einmal in seinem Wortschatz vergriffen hatte. Oder ließ er sich nicht so leicht von seinem Kurs abbringen? Thomas war jedenfalls bald wieder zurückgekommen. Diesmal war mehr die Rede von Fahrradschläuchen und der Tour, die wir am Wochenende gemeinsam zu unternehmen gedachten. Einen Brief hatte er uns auch wieder mitgebracht.
                         An das Lebensduo JF.
Da ich mich nicht in der Lage sehe, Ihnen folgendes mitzuteilen, bitte
ich doch gnädigst darum, mir Ihr Verständnis entgegen zu bringen,
welches ich längst verlor. Erfreuend meinerseits, belastenderweis für Sie
müssen Sie zur Kenntnis nehmen, meine Fahradreperaturen heute abge-
schlossen und erste Fahrversuche unternommen zu haben.
Sie sahen sich ja außer Stande am Donnerstag von jemem Notitz zu
nehmen, um einer möglichen Tour auszuweichen, welche ich vorhatte
mit Ihnen zu unternehmen. Ihnen bot sich jedoch nach baldigen
nebensächlichen Äußerungen ein unwiderstehlicher Theaterbesuch
an, um dessen Besuch Sie sich nicht haben bringen lassen.
Insofern, und das ist freilich fern genug des üblichen, bleibt mir nur,
ein elegantes Lächeln aufzusetzen, gerade so, als würde mich ein warmer
Hauch der Lust und was nicht reicht, auch ein Hauch der Gleich-
gültigkeit, streifen. Es steht Ihnen in Zukunft frei, aber das tat es ja
schon seit je her, mich Wenigkeit und unsagende Person in Ihre
Unternehmen einzuplanen und einzuweisen. Da dem und allem
übrigen nichts hinzuzufügen wäre, halte ich mein Geschriebenes für
beendet und nicht nur das Geschriebene.
Ich vergaß ja, daß man mit Euch Arschlöchern
deutsch reden muß, um verstanden zu
werden. Und das werde ich jetzt tun.
Ich glaube, es ist für mich und für
Euch Pisser besser, unsere geplante
Radtour am Wochenende zu vergessen,
sonst kommen wir wieder auf Themen,
die es nicht wert sind, diskutiert zu
werden. Nun kenn ich ja Joschis
Art, sich verständlich zu machen und
mit dem leider auch unbeliebt.
Eins habe ich nun schon riskiert, in diesem Land aufzuwachsen,
bis ich alt und dumm bin, nicht mehr mitkriege, und vor mich
dahinsieche. Ich brauch ja wohl nicht zu sagen wegen wem
ich das gemacht habe. Meine Zukunft lag teilweise
in Euren Händen und nun in denen dieses Landes.
Woanders hätt ich vielleicht was werden können, der Traum ist
dann wohl ausgeträumt. Wenn ich so überlege - wegen 2 Männern -
Wahnsinn wäre wohl untertrieben. Dabei habe ich noch nicht mal
was von Euch gehabt, was diese Entscheidung rechtfertigen würde.
Was denn, wenn ich mal nicht mehr mit Euch zusammen bin -
tote Hose - Leben versaut - Zukunft im Eimer. Aber was interessiert
Euch denn fremdes Elend, Ihr habt Euch und ich hab mich
und vielleicht verliere ich mich ja selbst einmal. Es wird Momente
geben, wo ich mich selbst aufgebe. Ihr lernt neue Jungs kennen,
und werdet Tommi vergessen.

Ich werde also meine Radtour allein
machen. Unterwegs werde ich dann
mal absteigen, mich in Gras setzen
und für Euch beten.
Gott wird Euch erhören und Euch
Seinen Segen geben.
Ich schließe mich dem da oben an.
A M E N.

Da wir gestern kein Astronomie hatten, und wir heute in die Stern-
warte gehen, werde ich erst um 17.00 bei Dir sein, sage Friedel
bescheid, er soll sein Fahrrad mit zu Dir bringen. Oder willst Du
mit mir alleine wegfahren, dann mußt Du mir das gleich sagen.
Rummsitzen werde ich bei Dir nicht. Du weißt ja - „das
meint er nicht so“ - der Thomas
                                 Kritik kann nur helfen!
Der letzte Absatz war zwar durchgestrichen, aber dennoch gut lesbar.
Ich hatte inzwischen den Außenanstrich beendet und machte Feierabend. Wir gingen zu Jochen, Abendbrot essen. In seinem Kellerverschlag suchten und fanden er und Thomas sogar noch einen brauchbaren Schlauch für Thomas‘ Hinterrad, den sich der unbeholfene Junge mit den zarten Fingern von seinem Vater aufziehen lassen wollte. Nach dem Essen ging Thomas dann mit dem schwarzen Schlauch nach Hause. Unser Fernsehabend war nur kurz, denn Jochen und ich krochen beizeiten ins Bett, um uns für den nächsten Morgen das Frühstücksei zu erarbeiten.
Am Sonnabend hatte ich den ganzen Vormittag mit Fensterstreichen zugebracht. Das heißt, nicht ganz, um zehn war ich damit fertig. Und wenn der Pinsel schon mal dreckig ist, hatte ich mir gedacht, dann kann ich ebenso gut die Stubentür und den Rahmen der Wohnungstür auch gleich mitmachen. Beides sah nicht mehr gut aus. Nur abwaschen würde keine Punkte bringen.
Nach dem Mittagessen, aber früher als sonst, kam Thomas mit seinem Rad. Jochen und ich beeilten uns, auch fertig zu werden. Für unterwegs wurden rasch noch ein paar Kleinigkeiten eingepackt und dann ging’s los, raus über die Dörfer, nach deren Namen keiner fragen sollte. Es sind kleine Nester ohne jeglichen Schick. Das Wetter war prächtig, ein richtiger Spätsommertag, wie er im Buche steht. Dem entsprach auch unsere Laune. Die vorsorglich mitgenommenen Pullover und Regensachen blieben ungebraucht. Wenn uns der Sinn danach stand, legten wir eine Rast ein. Wir saßen der Zecken ungeachtet im Gras, in einer Wanderhütte oder irgendwo in Strandnähe auf einer Bank, aßen Birnen, die Thomas mitgebracht hatte, Äpfel oder Schokolade. Auch zu Trinken war genügend dabei. Auf die Küste stießen wir in der Nähe von Nienhagen. Dort saß Kusserow mit seinem Freund in einem schlecht gepflegten hölzernen Pavillon oberhalb der Steilküste. Dann weiter bis Börgerende. Danach gerieten wir unversehens irgendwo in ein Dorffest. Auf einer grünen Wiese war eine Bühne aufgebaut, auf der eine polnische Folkloregruppe tanzte und sang. Ich hielt sie jedenfalls für Polen. Mehrere mit Zeltplanen bespannte Buden, vor denen sich die zusammengeströmten Leute drängten, gab es auch. Sogar Bauchladenhändler priesen ihre Ware an. Den Nummernschildern ihrer Autos nach kamen sie von weiter her. Aus einer Bude qualmte es sehr appetitlich nach Räucherfisch. Jochen, der selber keinen Fisch isst, mit ganz kleinen Ausnahmen vielleicht, drängte mich, davon welchen mitzunehmen. Wie aber hätte ich dies fetttriefende Paket, und noch dazu bei dieser Hitze, transportieren sollen? Die Leute kauften und kauften. Die nicht kauften oder anstanden, saßen im oder vor dem Bierzelt oder in der Nähe der Bühne. Es waren auch viele Pferde zu sehen. Ohne das Jochen oder ich darauf zu sprechen gekommen war, beschrieb Thomas sein Pferd, das er angeblich bei seiner Oma in Tessin stehen habe. Er hatte schon öfter davon erzählt. Jochen hatte ihm das nie abgenommen. Ich schon, wobei, richtig vorstellen kann ich es mir eigentlich auch nicht.
„Bisschen größer als das da“, Thomas deutete auf ein braunes, gut gepflegtes Tier, das gerade vorübergeführt wurde. „Aber ganz schwarz, mit einem weißen Fleck auf der Stirn und hier hinten auch“, diesmal zeigte er auf seine Hacken. Viel besser schien er sich mit Pferden nicht auszukennen. Jochen meinte, er spinne uns wieder etwas vor. Mir war das egal, ich mochte ihn trotzdem. Auch wenn er sich wieder seine Mädchenhose angehübscht hatte. Das Dorf selber verfügt über eine Eisdiele, die unmittelbar an der Kreuzung gelegen ist, wo wir auf rustikalen Bänken Platz fanden und einen Eisbecher genossen. Von dort fuhren wir dann nach Lichtenhagen zurück. Es war ein sehr schöner Nachmittag, ganz ohne Zank und Eifersüchteleien. Na ja, Eifersüchteleien vielleicht ein ganz klitzekleines Bisschen.
Wie lange war Thomas nach dem Abendbrot eigentlich geblieben, hatte er überhaupt mit uns gegessen?
Am Sonntagvormittag, so hatte Thomas uns erzählt, müsse er zusammen mit seiner Klasse in die Stadt reinfahren. Auf dem Karl-Marx-Platz sollte eine Großkundgebung stattfinden, an der sie teilzunehmen hätten. Ich bat ihn, sich dort gut umzusehen und aufzupassen und mir nachmittags alles genau zu erzählen, damit auch ich etwas zu berichten hätte, für den Fall, mein APO-Sekretär sollte mich danach fragen, denn auch ich hatte den Auftrag, dort zu erscheinen.
Thomas tat mir abermals leid, denn es regnete den ganzen Vormittag. Während er auf dem ungemütlichen Platz stand und seine fragile Gesundheit aufs Spiel setzte, wenn er nicht auch schwänzte, bemühte ich mich, meine Bude aufzuräumen. Auch das dauerte seine Zeit. Ich war froh festzustellen, dass beim Malern kein Schaden entstanden war. Damit war durchaus nicht von vornherein zu rechnen gewesen. Mit Farbe umzugehen, barg immer ein gewisses Restrisiko in sich, zumal wenn der Pinselhalter Friedel hieß. Kurz vor elf sah ich zufällig aus dem Fenster, es regnete noch immer still vor sich hin. Unten stand Thomas mit seinem Fahrrad im nassen Rasen. Vor wenigen Minuten hatte ich zwei Mädchen in FDJ-Blusen, anscheinend von der S-Bahn kommend, vorübergehen sehen und dabei gedacht, dass auch Thomas wohl bald wieder zu Hause sein werde. Ich öffnete das Fenster und warf ihm den Kellerschlüssel runter, damit er sein Fahrrad ins Trockene schieben konnte. Ein paar Augenblicke später war er oben. Er hatte ganz kalte Hände und sein Haar war vollkommen durchnässt.
„Ich wollte nur mal sehen, ob Frank hier ist“, sagte er.
„Heute war er noch nicht hier“, antwortete ich ärgerlich und dachte, noch einer, der mich kontrolliert.
„Ich komme gerade von Joschi“, erzählte Thomas. „Ich wollte dich nur mal sehen. Wie lange hast du noch zu tun?“
„Na, eine Weile wird es wohl noch dauern“, meinte ich. „Wenn du jetzt sofort wieder gehst, dann werde ich mit Sicherheit früher fertig.“
Leider nahm Thomas meinen Scherz allzu wörtlich und verabschiedete sich auf der Stelle bis auf den Nachmittag. Er war kaum zehn Minuten da. Wegen des Schlüssels brachte ich ihn runter. Wenn er geblieben wäre, hätte ich alles stehen- und liegen lassen, dachte ich zu spät.
Zum Mittag gab es den Rest der Kartoffelsuppe von Sonnabend. Wovon Jochen besonders schwärmt, wenn sie aufgewärmt. Kartoffelsuppe: auch ein Albtraum aus meinen Kinderjahren.
Als Thomas kam, erschien leider nicht automatisch auch die Sonne, wie man hätte meinen können. Es war einer dieser grauen Tage, an denen sich keine einzelnen Wolken am Himmel abzeichnen, sondern sich eine gleichförmige bleierne Masse auf das Land herabsenkt, aus der heraus es regnet und regnet, den lieben langen Tag lang. Wieder hatte er uns beim Abwaschen überrascht. Er hatte sich zwei leere Kassetten mitgebracht, auf die er einige Titel aus Jochens klassischem Bestand überspielen wollte. Er hatte sich bereits zu diesem Zweck einige Platten ausgeliehen, das Überspielen habe aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht geklappt. Jochen hatte sich aufs Fußende der Liege gesetzt, um den Plattenspieler zu bedienen, Thomas saß vor dem Kassettendeck auf dem Fußboden und entschied über die zu übernehmenden Stücke. Ich hatte also die breite Couch für mich ganz allein.
„Wenn ihr jetzt überspielen wollt, dann kann ich ja nach Hause gehen und auch was tun“, sagte ich trotzdem. „Wenn der Tee serviert ist, bin ich wieder zurück.“
Da mich niemand aufhielt, ging ich. Vor der Haustür spannte ich meinen Schirm auf, der noch nass war, und stiefelte unlustig zu meiner Behausung, um jede Pfütze einen Bogen machend. Dort tippte ich einige Gedichte mit der Maschine ab, die erst in Kladde vorlagen. Die letzten Tage und Wochen hatten mich zu einer ganzen Reihe von neuen Versen angeregt. Mit der Zeit hatte ich einige Fähigkeiten auf der Maschine erworben. Ich wusste beispielsweise schon, wo welcher Buchstabe zu finden war. Es ging aber trotzdem nur recht mühsam voran, denn die ganze Fingerfertigkeit auf diesem Instrument lag leider nur im rechten Zeigefinger. Deswegen war ich auch noch nicht allzu weit gekommen, als die Uhr auf halb 4 vorgerückt war. Ich beließ es erst einmal dabei und ging zurück zu den beiden anderen, um sie nicht warten zu lassen.
Der Schirm hatte sich zwar inzwischen erübrigt, es war heller geworden, nahm ihn aber vorsichtshalber doch mit. Ich war gerade im Begriff, bei Jochen die Treppe zu erklimmen, als Frank sie herunterkam.
„Tach, warst du bei Jochen?“, wunderte ich mich. Frank schien in letzter Zeit recht heftigen Drang zu verspüren.
„Ich wollte, aber der ist nicht da“, sagte Frank.
„Ist ja komisch, ich wollte gerade mit ihm Tee trinken. Er hatte mir gar nicht gesagt, dass er weg will.“
Ich steckte den Schlüsselbund zurück in die Jackentasche. Mein erster Gedanke war, dass die beiden nicht aufmachen konnten. Aber nein, das war es hoffentlich nicht. Jochen hatte bestimmt durch den Spion gesehen und ihn wegen Thomas nicht rein lassen wollen.
„Und wohin wolltest du jetzt?“, fragte ich.
„Jetzt wollte ich zu dir gehen.“
„Na gut“, sagte ich, „dann trinken wir eben bei mir Tee.“ War mir auch recht.
In Ergänzung zum Schwarzen Tee goss ich uns einen blassgrünen Kiwilikör ein, der auch schon mal besser geschmeckt hatte. Wir saßen etwas gequetscht auf der Liege und ziemlich dicht an der Schrankwand, weil sich die frisch gestrichene Stubentür auf dem ausgeklappten Sofa breitmachte, wo sie auch jetzt noch liegt. Wegen der zu befürchtenden Rotznasen hatte ich sie dort schlafen gelegt. Anfangs unterhielten wir uns nur über belanglose Dinge. Dass Frank da schon einen Steifen in der Hose hatte, glaube ich nicht. Es wird so gegen halb 5 gewesen sein, als es plötzlich klingelte. Ich ging zur Tür, um nachzusehen. Dort war aber niemand. Als ich wieder ins Zimmer kam, trat Frank gerade vom Fenster zurück.
„Ist jemand unten?“, fragte ich.
„Ja, der Typ von gestern.“
Thomas war wieder mit dem Rad gekommen und fragte laut genug, sodass es auch Frank hören konnte, ob Joschi da sei. Ich verneinte das und bat Frank, mich einen Moment zu entschuldigen und ging zu Thomas hinunter, der im Hausflur wartete.
„Hauch mich mal an … Du bist ja besoffen“, waren seine Begrüßungsworte. „Was macht denn der Kerl bei dir? Warum lässt du uns solange warten?“
„Ihr habt ja wohl gesehen“, rechtfertigte ich mich, „dass ich mich vor Jochens Tür in einer äußerst blöden Situation befunden habe. Jetzt kann und will ich Frank nicht so ohne Weiteres rausschmeißen. Er hat übrigens nach dir gefragt“, teilte ich Thomas mit.
„Ja? Und welchen Unsinn hast du ihm über mich erzählt?“
„Dass wir dich auf eine ganz lustige Art kennengelernt haben und das du öfter mal vorbeikommst, immer, wenn du Langeweile hast. Und, dass du nicht so bist.“
„Danke“, sagte Thomas, und das klang wirklich aufrichtig, und gab mir einen Kuss.
„Ach, hier unten im Flur! Und wenn wir oben beide allein sind?“ Manchmal überraschte er mich wirklich. Ich versprach, in ungefähr einer halben Stunde bei ihnen zu sein.
Als ich zu Frank vorsichtshalber gesagt hatte: „Der ist nicht so“, wollte ich damit nur allen Eventualitäten vorbeugen.
„Wie, nicht so?“ hatte Frank nachgefragt.
„Na, der macht es nicht mit Männern“, erklärte ich. Auch Frank hatte immer auf die ominöse Tatsache wertgelegt, dass er nicht so sei. Er musste es ja schließlich wissen.
Als ich wieder oben war, erinnerte mich Frank daran, dass er noch gar nicht alle Bilder gesehen habe.
„Was denn für Bilder?“, stellte ich mich dumm.
„Die in der Tüte“, wollte Frank mir auf die Sprünge helfen.
Dass er die Pornos meinte, war mir natürlich klar gewesen. Ich zog eine Schublade auf, in der zwischen meinen Socken die besagte Tüte lag, und gab sie Frank, dann machte ich mich daran, den Tisch abzuräumen. Als ich damit fertig war, stand Frank plötzlich von der Liege auf und sagte, als wäre das nichts Besonderes: „Na, dann wollen wir ihn mal raus lassen.“
Ich dachte spontan an ein wildes Tier, das lange vergeblich auf das Öffnen seiner Käfigtür gelauert hat. Gleich würde es mich anspringen! Ich hatte den Satz: „Ist es ihm schon zu eng geworden?“, noch gar nicht beendet, da hatte Frank schon die Hose fallen gelassen. Sein schweres Ding war prall gefüllt und ragte bis in die Mitte des Zimmers. Er setzte sich zurück auf die Liege und nahm wieder den Stapel Bilder zur Hand. Ich setzte mich daneben und nahm auch was zur Hand, und zwar das Nächstbeste, das sich mir darbot. Und so kam es, dass Frank wieder nicht alle Bilder schaffte!
Kurz nach 5 war ich dann bei Jochen und Thomas. Auf dem Tisch stand noch der Teller mit dem kläglichen Rest der Quarkkäulchen, die die beiden inzwischen fabriziert und zum größten Teil auch schon verputzt hatten. Ich probierte davon. Diese Dinger sind besonders gefährlich, wenn sie frisch auf den Tisch kommen: Man kann nicht wieder aufhören. Nun scheint also die Zeit der Quarkkäulchen angebrochen zu sein, ahnte ich. Üblicherweise wird das Jahr in die bekannten vier Jahreszeiten eingeteilt. Ich könnte es aber ebenso gut in Quarkkäulchen- und in Zitronenkuchenperioden einteilen, die sich in unterschiedlichen Längen abwechseln. Thomas und Jochen machten den Eindruck, als seien sie wunderbar miteinander ausgekommen. Thomas löcherte mich natürlich mit Fragen und sparte nicht mit Vorwürfen. Wieso ich so lange gebraucht hätte, um ans Fenster zu kommen, ich habe mir wohl erst was überziehen müssen. Und ihm wäre auch ganz so gewesen, meinte er, als wenn Frank mit freiem Oberkörper am Fenster erschienen sei. Ich versicherte ihm, dass nichts geschehen sei, was das Licht der Öffentlichkeit hätte scheuen müssen. Was mich überhaupt an dem interessiere, wollte Thomas von mir wissen. Darauf bekam er keine Antwort. Das wurde ja immer schöner! In zwei Jahren vielleicht, wenn überhaupt, wolle ich ihm alles erzählen, vertröstete ich ihn.
„Das macht er immer so“, bestätigte Jochen. „Nach zwei Jahren ist alles verjährt.“
Dann wurde es fidel. Jochen hatte angeregt, ein paar Fotos zu schießen. Ich war natürlich sehr dafür, zeigte aber vorerst kein Interesse. Das lockte Thomas auf den Plan. Der Fotoapparat wurde also hervorgekramt und mit dem extra für diesen Moment gekauften Film bestückt. Thomas‘ sorgenvolle Behauptung, ich scheine ihn nicht fotografieren zu wollen, war natürlich vollkommen haltlos. Jeweils zwei posierten als Gruppe auf der Couch, während der Dritte im Bunde durch den Sucher kuckte. So sollten Bilder entstehen, auf denen mal Jochen und Thomas, mal Thomas und ich und zuletzt dann Jochen und ich abgelichtet waren. Mehr Möglichkeiten standen uns leider und in Ermangelung eines Stativs nicht zur Verfügung. Es verwunderte mich, dass sich Thomas fotografieren ließ, während er erst den einen und dann den anderen küsste. In dem Jubeltrubel kam ihm nicht einmal der Gedanke, dass wir die Bilder irgendwann gegen ihn verwenden könnten. Uns natürlich auch nicht. Zuletzt wurde sogar die Perücke rausgesucht, die er einst mitgebracht hatte. Eine schwarzhaarige, struppige Unmöglichkeit. Sie bescherte uns ein himmlisches Vergnügen. Besonders Thomas schien in seinem Element zu sein, als er uns das zottelige Ding aufpflanzen durfte und versuchte, da irgendeinen Schick rein zu bringen. Schnell war der Film voll geknipst. Ich bin gespannt, ob die Bilder etwas werden.
Nachdem Thomas gegangen war, erzählte Jochen, dass Thomas in der ganzen Zeit, in der sie Frank bei mir vermuteten, sehr unruhig war. Er wollte unbedingt nachsehen gehen. Er könne da jetzt nicht hingehen, habe ihn Jochen mehrmals beschworen, bis sich Thomas zuletzt nicht mehr habe zurückhalten lassen. Er solle aber dann wenigstens sagen, dass er nicht geschickt werde. Ja, das hatte er dann auch getan.
Wenn sich der kleine Thomas so eifersüchtig aufführt, heißt das dann, dass er mich noch mag? Behauptet hatte er es jedenfalls. Ich weiß nicht, was ich machen soll! Ich liebe ihn zu sehr, als dass ich ihn leichten oder schweren Herzens aufgeben kann. Kann man überhaupt etwas aufgeben oder verlieren, was man eigentlich gar nicht besitzt? Wobei das Wort „besitzen“, im Zusammenhang mit einem anderen Menschen gebraucht, denkbar unpassend ist. Das wird erst wieder passend sein, wenn wir in ferner Zukunft den Kommunismus überwunden haben und in die Sklaverei zurückfallen. Als ich ihn wieder einmal danach fragte, warum er so distanziert sei, wenn wir beide allein wären, da hatte Thomas gesagt, es wäre nicht gut, wenn ich mich zu sehr in die Sache hineinsteigern würde. Damit hatte er mir natürlich einen gewaltigen Stich mitten in die Brust gegeben. Seither halte ich mich ihm gegenüber sehr zurück, obwohl es mir mächtig schwerfällt. Ein bisschen tue ich es aber auch Jochens wegen. Lieber wollte ich darüber hinwegsehen, wenn Jochen von Thomas Aufmerksamkeiten erfährt. Besser, denke ich, ich habe Thomas so um mich, als gar nicht. Obwohl, auf die Dauer werde ich das auch nicht durchhalten können. Jedenfalls werde ich mich damit abfinden müssen. Warum hatte sich Thomas bei Jochen darüber beschwert, dass ich jetzt so anders sei? Er wird doch das nicht in Zusammenhang mit Frank bringen wollen! Ich sehe Thomas fast jeden Tag und dennoch bleibt meine Sehnsucht nach ihm ungestillt.
Heute war Thomas nur ganz kurz bei uns. Er hatte deshalb spaßeshalber gemeint, dass sich sein Interesse an uns bald nur noch aufs Essen beschränken werde. Manches wird schnell mal so dahingesagt, was dann vielleicht später erst einen Inhalt bekommt. Ich hatte ihn vorher von einem Typen schwärmen hören, den er wohl gerade erst kennengelernt hatte. Ich meinte zu ihm, es werde wohl nicht mehr lange dauern, bis er dann bei dem Abendbrot bekäme. Damit hatte ich lediglich einer gewissen Befürchtung meinerseits Ausdruck verleihen wollen. Bei Thomas kam das aber ganz anders an. Was hätte ich anderes meinen können, als Gefahr zu wittern, war ich doch noch voll des Glückes über den heimlichen Kuss von ihm. Nun war die Stimmung wieder im Eimer. Dann kam die Rede noch einmal auf den Film. Ausgerechnet in diesem Moment. Jochen schlug vor, Thomas und ich könnten ihn morgen entwickeln. Wenn Thomas so um Viertel nach vier bei mir wäre, dann hätten wir genug Zeit dafür.
„Den Film könnt ihr vergessen“, sagte Thomas gereizt und ging.
Jochen erzählte mir dann, Thomas habe heute in der PA einen jungen Facharbeiter kennengelernt, den er ganz toll finde und in den er sich wohl verkuckt habe. Thomas hätte sich vorgenommen, dem beim nächsten Mal einen Brief zuzustecken. Das bringt der fertig, dachte ich und traute mich gar nicht, meinen Blick vom Spülbecken abzuwenden.
„Dann kannst du dir ja wieder einen Pluspunkt anschreiben“, sagte ich verbittert. Bis zu unserer Bekanntschaft mit Thomas gab es nie so viele Spannungen, so viele Gemeinheiten zwischen uns, wie jetzt. Einer hackt auf den anderen herum. Jochen wurde wütend, weil ich ihm dies nun tagtäglich, wieder und wieder, aufs Brot schmiere. Ich war dabei, den Abwaschlappen wohl zum zehnten Mal auszuwringen, als Jochen, schon wieder beruhigt, sagte: „Mäuschen, du hasst mich!“
Etwas unsicher lenkte ich nach einer Weile ein: „Ach nein.“ Ich kühlte meinen Kopf etwas ab, indem ich ihn vorübergehend aus dem Fenster hielt. Mit der Frage auf den Lippen, ob er mir böse sei, wenn ich jetzt nach Hause gehe, wandte ich mich zu ihm um. Jochen kam mir aber mit der Frage, was ich jetzt machen wolle, zuvor.
„Ich möchte jetzt nach Hause gehen.“
„Gut, wenn du eben so viel zu tun hast!“



Donnerstag, 8. September 1988 - Dienstag, 13. September 1988

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