Die Hoschköppe / 29. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 29. Kapitel

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Donnerstag, 8. September 1988


Heute war unser Theatertag. Er fiel diesmal auf den zweiten Donnerstag im September. Großes Anrecht, Ring B4: Tannhäuser. Wir sahen eine sehr sparsame Inszenierung. Aus dem Bühnenhimmel hingen mehrere Bahnen durchsichtiger Kunststofffolie bis auf die knarrenden Bretter herab, die angeblich die Welt bedeuten sollen. Je nach erwünschter Stimmung wurden sie wahlweise mit farbigem Licht angestrahlt. Wir hatten uns schon länger auf diese Aufführung gefreut, denn für Wagners Musik konnten wir uns schon immer begeistern. Wenn nur nicht das dauernde Gesinge wäre, muss einschränkend betont werden. Deswegen hatte mir das Stück immer dann am besten gefallen, wenn der Vorhang dicht verschlossen und nur das Orchester zu hören war, was leider viel zu selten geschah. Zwei Chorstücke fanden dennoch meine Zustimmung. Da sich sowieso niemand von den Akteuren in den einzelnen Bildern bewegte, genügten mir nach dem Wegdriften des billig aussehenden Vorhanges zwei bis drei Blicke auf das neue Bühnenbild, das sich nur unmerklich vom vorhergehenden unterschied. Dann konnte ich getrost die Augen wieder schließen. Das Spiel hatte zwar mit einem hoffnungsvollen und wilden Liebeszauber in der sogenannten Venusgrotte begonnen, da sich aber der Zauber bald in Rauch auflöste, hatte ich die Lider für den Rest des Spiels nach unten geklappt, um mich ganz der Musik hinzugeben. Als ich nach einer Weile die Augen routinemäßig öffnete, in der Hoffnung, das Stück habe inzwischen irgendeinen Fortschritt genommen, erschien gerade Frau Venus als dralle, deftige Person vom Lande, von allen verlassen und ganz allein auf der leeren Bühne, sehr sinnlich in die gedachten Wolken schielend und sich mit dem breiten Rücken an ein Gebilde schmiegend, das entfernte Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Phallus hatte. Ihre schweren nackten Arme hatte sie nach hinten um dieses Gebilde geschlungen, so gut es eben ging. Der wie Samt wirkende dunkelrote Stoff ihres Gewandes, der leider nicht den ganzen Körper verhüllte, überflutete dafür die halbe Bühne. Ächzend und schmachtend glitt sie den Stamm hinab, kam etwas erhöht zu sitzen und streckte die gespreizten Beine weit von sich, als wolle sie frische Luft in ihren Schritt lassen. Dabei richtete sie den Blick ins Unendliche. Er schien sich aber in einer oberen Bühnenecke verfangen zu haben. Auch Tannhäuser selbst müsse inzwischen abgegangen sein, dachte ich, denn er war nirgends zu entdecken.
„Frau Venus kuckt ganz so, als hätte sie gerade einen drin“, flüsterte ich Jochen, der links neben mir saß, ins Ohr.
Und tatsächlich! Tannhäuser, dieser kleine Schlingel, seine Rolle war zur großen Venus passend besetzt, war unter den Augen fast aller Theaterbesucher unter ihr langes Dunkelrote gekrabbelt und hatte sich dort schon geraume Zeit zu schaffen gemacht. Erst jetzt kam er schweißtriefend darunter hervor gekrochen, noch ganz fix und fertig. Ihr schmachtender Blick hielt noch eine Weile an.
Politisch kurzsichtig und naiv, wie ich bin, war ich doch einigermaßen überrascht oder auch erschüttert darüber, wie schnell und mit wie wenig Aufwand, nur mithilfe eines Strickes, ein erwünschter Gesinnungswechsel zustande zu bringen ist, denn von dem Monsterphallus löste sich plötzlich die Umhüllung. Aus ihm war, oh Wunder, Maria mit dem Kinde geworden. Da sie das Kind, mit Sicherheit ihr eigenes, auf dem Rücken trug, liegt die Vermutung nahe, dass diese Maria im Grunde ihres Herzens eine schwarze Afrikanerin war. Darüber hinaus beweist das Phallussymbol ganz zweifelsfrei, dass auch Jesus lediglich auf rein natürliche Weise zu seiner Mutter gekommen war.
Als es endlich zur großen Pause läutete, strömten wir erst in die Halle und dann zur Bar, um unseren bestellten und bereits bezahlten Martini in Empfang zu nehmen. Da uns der Theaterbus sehr zeitig vor dem Theater abgesetzt hatte, war nicht nur für die aufzugebende Bestellung zur Pausenversorgung Zeit, sondern auch für das Vernaschen eines ersten Martini, was sich nachher als sehr weise herausgestellt hatte. Wie immer hatten Jochen und ich uns zu Lenin gesellt, der als Hohlkopf auf einem Sockel bescheiden unter dem alles einnehmenden Wandteppich in der großen Vorhalle steht. Zu beiden Seiten seines kantigen Kinns pflegten wir unsere Gläser abzustellen. Ich war gerade dabei, aus Lenins rechtem Ohr einen Kirschkern heraus zu polken, als sich ein Freundespaar aus Lütten Klein zu uns stellte. Wir sahen noch zwei weitere Paare. Der Güstrower grüßte. Wir tranken die Vorbestellung etwas hastiger als sonst, denn wir wollten noch ins Hölderlinzimmer, das versprochene kalte Büffet erstürmen, welches dort reichhaltig aufgebaut sein sollte. Damit war es aber Essig, wie sich herausstellte. Ich hatte mich gleich gewundert, dass wir die Einzigen waren, die nach dem Zimmer suchten.
Nach der Pause klappten wir wieder unsere unbequemen Sitz herunter und die Augen zu. Es verlangte titanische Kraft, sich ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren. Zu Jochen hatte ich gesagt, ich wolle von Montagabend träumen. Ich hatte es auch ehrlich versucht.
So verbrachten wir von sieben bis elf die schönsten Abendstunden.



Mittwoch, 7. September 1988 - Montag, 12. September 1988

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