Die Hoschköppe / 117. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 117. Kapitel

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Dienstag, 14. März 1989


Zuerst klopfte es nur ganz zaghaft an meine Wohnungstür, kurz darauf lärmte der neue Gong. Es war inzwischen eine knappe Woche vergangen, in der es mir nach mehreren bedauerlichen Fehlschlägen doch noch gelungen war, ihn zu dressieren. Verwundert ging ich öffnen, denn es war morgens um fünf Uhr fünfundvierzig. Um sechs gehe ich für gewöhnlich aus dem Haus, wenn ich zur Arbeit muss.
Charlotte stand davor, in Hut und Mantel und auch bereit zum Gehen. Sie meinte, nachdem sie mir einen guten Morgen gewünscht hatte: „Ich habe nur sehen wollen, ob du da bist, denn wenn nicht, dann hätte ich den Schlüsselbund abgezogen und mitgenommen.“
Jetzt bemerkte auch ich, dass mein Schlüsselbund noch außen im Schloss steckte. Als ich am Vorabend nach Hause gekommen war, hatte Charlotte zusammen mit einer anderen Nachbarin an gleicher Stelle gestanden und geklönt. Vielleicht hatte mich das irritiert und aus der Bahn geworfen. Ich bedankte mich für so viel nachbarschaftliche Aufmerksamkeit und wünschte ihr dafür einen schönen Arbeitstag. Wahrscheinlich wäre ich nachher beim Suchen der Schlüssel ganz schön ins Schleudern gekommen.
Von drinnen sah das Wetter recht passabel aus, draußen stürmte aber ein sehr frischer Wind. Aber auch der vermochte das Grün nicht mehr aufzuhalten, das aus jeder Knospe ins Licht drängt. Ein Feuerwerk, das sich stöhnend in den Himmel ergießt. Angeberisch leuchtet das Gelb der Forsythien und vornehm das schlichte Weiß des Weißdorns. Der Rasen vorm Haus, der schon einen jugendlich grünen Flaum bekommen hat, schmückt sich mit bunten Farbklecksen aus Krokussen, Gänseblümchen und Tausendschön, als seien sie von einer Palette getropft. Über alles wird jetzt Gras zu wachsen beginnen. Auch über Dieter.
Gestern Abend habe ich Jochen vorgeworfen, er bestehe nur aus Überreaktionen. Das sei auch damals schon so gewesen. Und gestern war es nicht viel anders. Das kam so. Ich hatte aus der Kaufhalle ein halbes frisches Brot mitgebracht und war dabei, es mit der Maschine in handliche Scheiben aufzuschneiden. Mit einem halben Brot kommen wir einen Tag gerade so hin. Es darf natürlich kein Besuch kommen, der hat dann Pech. Jeder isst davon abends zwei Scheiben, zwei nimmt Jochen und vier nehme ich mit zur Arbeit. Es müssen also mindestens zehn Scheiben werden. Als ich mit dem Aufschneiden fast fertig war, sprach ich die Befürchtung aus: „Es werden wohl nicht genug!“ Natürlich würde das Brot reichen, schließlich hatte ich in den vielen Jahren meines Umgangs mit dieser Maschine ein Mindestmaß an Erfahrung sammeln können, ich glaubte nur, mir nach einem halben Jahr endlich mal wieder einen Scherz erlauben zu dürfen. Jochens Eigensinn stand aber nicht auf Scherze, die die Substanz angreifen. Er bekam ihn versehentlich in den falschen Hals, tobte wie eine Furie wutschnaubend an und schrie: „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst die Scheiben nicht so dick abschneiden. Wer soll denn die Ballerdinger essen!“
Es war schwer, ihn zu beruhigen. „Mensch“, sagte ich, „reg dich ab. Auf so was reagiert man doch eher gelassen oder belustigt“, denn ich konnte mir gar nicht erklären, warum Jochen dies zum Anlass nehmen musste, sich dermaßen aufzuziegeln. „Hat man dich auf der Arbeit wieder geärgert?“, fragte ich deshalb.
Jochen aber stampfte und scharrte immer mehr mit den Hufen, als hätte ich ihm ein rotes Tuch vor die Nase gehalten. Ich nahm das geschnittene Brot, das säuberlich gestapelt in der Brotschale lag, und warf es in den kleinen braunen Futtereimer. Ganz gelassen, aber innerlich glutheiß vor Wut. „Krieg dich bloß wieder ein, ich geh in die Halle und hol dir Neues“, sagte ich und war auch schon im Korridor, um mich anzuziehen. Nun flippte Jochen vollends aus. Er kam mir nachgesprungen und zerrte mich zurück in die Stube. „Lass mich in Ruhe und mach deinen Scheiß allein!“, blaffte ich ihn daraufhin an. „Und ab morgen isst jeder für sich!“ Das musste ich ihm auch noch an den Kopf werfen. Ich setzte mich aufs Sofa und starrte verbissen in den Fernseher, ein ernstes Gesicht wahrend. Jochen brachte mir das Brot nach und stellte es auf den Tisch. Immerhin ohne Eimer. (Nur zur Erklärung: Der Eimer war frisch ausgewaschen und ansonsten leer! Nicht, dass jemand denkt, wir essen aus dem Müll. Jedenfalls nicht ohne Not.)
Während des Essens wurde nicht gesprochen, ist ja klar. Bis es klingelte, jedenfalls. „Es hat geklingelt!“, ermahnte ich ihn, denn Jochen hatte für sich beschlossen, wieder nicht darauf zu reagieren. Als er dann geruhte, doch an die Tür zu gehen, hörte ich etwas von „Stimmung“ und von „später kommen“ und das es Frank war. Gesagt hatte Jochen natürlich kein Wort von dem, als er wieder ins Zimmer kam. Nach dem Essen fragte ich dann, was sie beide wegen des Wiederkommens vereinbart hätten. Ich nahm an, Jochen habe ihn für den nächsten Tag, also heute, Donnerstag oder Freitag, wenn ich nicht da sein würde, bestellt, denn für heute war bei mir zu Hause eine Leitungssitzung anberaumt, für Donnerstag im Jugendklub von Schmarl ein Diskussionsabend und Freitag wird wieder Arbeitskreistreffen sein.
„Um halb acht soll er wiederkommen, habe ich zu ihm gesagt.“
Zehn Minuten vorher ging ich zu mir.
„Du brauchst nicht zu gehen“, hatte Jochen vorher beschwichtigend gesagt. „Wenn du willst, kannst du ja mit ihm machen.“
Als wenn wir beide das gewollt hätten! Und den Gefallen wollte ich ihm denn doch nicht tun. Lieber sammelte ich Punkte für den Notfall. Wir hatten uns aber nicht im Bösen getrennt, denn Essen beruhigt und stimmt versöhnlich. Meistens!
Es gehört eigentlich nicht hierher, aber es fiel mir gerade ein: Als ich Jochen irgendwann einmal vorgeworfen hatte, er sei niederträchtig, beschuldigte er mich daraufhin, ich sei sogar eine ganze Niedertrachtengruppe und dazu noch rabiat in meiner ganzen Menschlichkeit. Denkt man gar nicht, oder?
Ich möchte auch noch ein paar Worte zum letzen Sonnabend verlieren, denn da kam Thomas vormittags gegen elf Uhr und brachte die Haarschneidemaschine zurück, die ihm Jochen am Vorabend ausgeliehen hatte. Jochen hatte Dienst und war noch nicht zu Hause, musste aber jeden Moment eintrudeln. Thomas fühlte sich recht unbehaglich in seiner Haut, als er mich allein antraf, so schien es mir wenigstens. Dabei hätte er es eigentlich wissen müssen, dass Jochen nicht da sein würde. Angeblich war es ihm vollkommen neu.
„Hast du Angst, ich könnte dir was antun?“, fragte ich, mich reizte es sehr dazu! Aber auch ich fühlte mich nicht wohl in so großer Nähe zu meinem dennoch unnahbaren Exgeliebten, das musste ich mir eingestehen. Mir machte es wirklich Angst, Thomas so nahe zu haben, dass ich ihn hätte berühren können, ihn aber nicht berühren durfte.
„Wenn du was zu tun hast und ich störe dich dabei, dann gehe ich wieder“, sagte Thomas, der auch nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt.
Nur das nicht, dachte ich. Bleibe! „Ich habe zwar was zu tun, aber deswegen brauchst du nicht zu gehen!“, beeilte ich mich zu sagen.
Soviel Zeit wollte sich Thomas scheinbar nicht nehmen, dass es gelohnt hätte, sich die Schuhe und die Jacke auszuziehen. Was tust du jetzt am besten, überlegte ich und kramte in meiner Verzweiflung das Bügelbrett hinter dem Store hervor, nahm das Bügeleisen aus dem Schrank und begann die Oberhemden zu plätten, die schon seit Tagen darauf warteten. Jochen würde sich freuen, wenn er nach Hause kommt. Aber nicht deswegen tat ich es.
„Was macht ihr heute Nachmittag, seit ihr hier?“, fragte Thomas.
„Ich gehe auf alle Fälle in die Sauna“, sagte ich trotzig wie ein kleines Kind. „Ob Jochen mitkommt, weiß ich nicht, aber sicher bleibt er zu Hause.“
Thomas tat so, als wolle er nachmittags wiederkommen. Kurz, nachdem er gegangen war, erschien Jochen. Nach einer Weile fragte er mich: „Hast du mir Grüße auszurichten?“
„Wieso, du hast ihn doch noch getroffen“, meinte ich daraufhin.
Nachmittags fuhr ich dann tatsächlich nach Warnemünde, während Jochen es vorzog, auf Thomas‘ fragwürdigen Besuch zu warten mit dem Ergebnis, dass ich ein paar aufregende Stunden erlebte und er selber allein geblieben war. Ich erzählte ihm anschließend, dass ich dort den dicken Klaus getroffen hätte und das der Bekannte des kleinen Onkels auch gekommen war und drei ganz süße Knaben dabei hatte, von denen der eine immer noch geiler aussah als der andere. Und eine süße Zuckerstange hätten die gehabt! Zum Anbeißen. Wie eine Glucke habe der Alte sie bewacht. Wo mochte der die aufgegabelt haben?
„Kannst du dich noch an den hübschen Blonden erinnern, der sich vor Weihnachten an die drei Jungs rangemacht hatte, die mit dem kleinen Onkel zusammen waren?“, fragte ich.
„Der, mit dem langen Riemen? Na klar kann ich mich an den erinnern. So was vergisst man doch nicht!“ antwortete Jochen.
„Na, der war auch da. Dieses Kamel hat mich ganz schön in Verlegenheit gebracht.“
„Wieso, wollte er mit?“
„Schön wär‘s, aber ganz im Gegenteil! Ich habe ihn sofort erkannt, als er rein kam, und er hat mich natürlich auch gleich gesehen. Da der Schuft damals nichts von mir wollte, habe ich mich nicht weiter um ihn gekümmert. Die Sache war ja erledigt. Aber klar ist doch, dass ich ihn von der Seite her beobachten musste. Man muss ja einfach hinkucken, ob man will oder nicht. Als er das erste Mal reinging, habe ich ein paar Minuten gewartet und bin hinterher gegangen. Er saß dann auf der dritten Stufe in der Mitte, ich beim Ofen. Er hatte wieder die Beine so breit auseinander, wie es nur ging und sein Ding hing ganz schön weit nach unten. Es fehlt nur eine Handbreit und der Schlangenkopf hätte der Lattenrost auf der zweiten Stufe berührt. Die Hände hatte er sich vors Gesicht gehalten und durch die gespreizten Finger beobachtete er uns, ob wir ihn auch ja alle genügend bewundern. Der weiß ganz genau, was er wehrt ist. In der Schwimmhalle standen wir uns dann zufällig kurz gegenüber. Er kam hinten die Leiter rauf, ich wollte sie gerade runter. Hat mich zwar angesehen, aber keine Miene verzogen. So ein Arschloch, habe ich gedacht. Dann sind wir uns noch einmal im flachen Teil begegnet. Da hat er dann gegrinst. Ich natürlich auch. Weiter nichts. Als ich dann wieder in den Ruheraum kam, ging er gerade in die Sauna. Ich hinterher. Er lag ganz oben, auf der Seite, mit dem Gesicht zur Wand. Zwischen seinen angezogenen Schenkeln kuckte der eingeklemmte Sack raus. Ich setzte mich auch oben hin, in der Hoffnung, er legt sich vielleicht auf den Rücken. Er kuckt hoch und ich sage: ‚Ganz alleine hier drin?‘ Es war nämlich keiner weiter drin. Nach einer Weile kamen noch andere rein und er setzte sich hin. Zwischen ihn und mir setzte sich so ein aufdringlicher Kerl, der ihn wohl anmachen wollte. Ich stand auf und setzte mich wieder in die Nähe des Ofens. Da oben konnte ich ja nichts mehr sehen. Ich weiß gar nicht mehr, wer von den beiden zuerst angefangen hatte zu quatschen, der Kerl oder der Bengel. Jedenfalls quatschten die dann miteinander. Ich bin dann wieder in die Schwimmhalle gegangen. Als ich von dort wieder zurückkam und meine Badehose ins Regal legte, sah ich die beiden alleine vor den Umkleidekabinen stehen. Der Bengel war beim Anziehen und der Kerl hatte einen Ständer. Ich habe mich dann auf eine Liege gesetzt, weil ich ja noch Zeit hatte. Der Bengel ist dann gegangen, kam aber nach einer Weile wieder zurück und ging noch mal zu den Schließfächern. Hat wohl was vergessen, dachte ich. Dann verschwand er wieder und eine Frau von der Kasse kam rein. Die fragte mich, ob ich einen Schlüssel für die Sauna habe. Du weißt, manchmal machen sie Kontrolle. Ich zeige ihn ihr. Dann wollte sie meine Personalien! Wozu das denn, frage ich. Sie will nur meine Personalien aufschreiben und ich soll keinen Aufstand machen, sagt sie. Ich verstehe nicht, wozu!, sage ich. Ich konnte mir aber gleich denken, dass das irgendwas mit dem Bengel zu tun hat. Ich gehe an meinen Spint und hole meinen Ausweis raus und gebe ihn ihr. Ich wollte natürlich kein großes Aufsehen machen. Sie setzt sich vorne am Eingang auf die Bank und schreibt sich den Namen und die Adresse raus. Und der Bengel stand da hinter der Ecke und lauerte. Ich frage noch mal, wozu das gut sein soll, ob man ihm was geklaut hat. Ich wusste natürlich, woher der Wind weht. Sie fragt, ob ich mir das wirklich nicht denken kann. Sie will hier jetzt nicht ins Detail gehen, ich soll mich dann nachher vorne an der Kasse melden, dann sagt sie es mir. Der Bengel fragt mich, ob ich den anderen Kerl mit dem Schnauzer kenne. Woher sollte ich den denn kennen. Und wenn, hätte ich es ihm auf keinen Fall gesagt. Ich hab dann meinen Ausweis wieder eingepackt. Einige, die nicht wussten, worum es ging, empörten sich. Wo gibt‘s denn so was, da könnte ja jeder kommen und den Ausweis verlangen. Ich bin aber lieber ruhig geblieben. Der andere Kerl, der mit dem Schnauzer, der den Bengel angemacht hatte, der hat sich aber ganz schön aufgeregt. Dazu kam noch, dass der seinen Ausweis im Auto gelassen hatte. Sagte er jedenfalls. Als ich dann vorne an der Kasse die Schlüssel abgab, da hätte ich einfach durchgehen sollen, denn die hatte mich gar nicht wiedererkannt. Ich war aber so blöd und fragte, was das nun sollte. Der Bengel saß auch in der Kasse. Da fing die Olle an, ich solle nicht so tun, als wenn ich nicht Bescheid wüsste und worum es ginge und noch hätten sie ja ein bisschen Schutz und sie hätte auch Enkel und alles so einen Quatsch hat sie mir erzählt. Was ich von dem Jungen gewollt habe? Gar nichts, hab ich gesagt. Dann fragte sie den Bengel, wie alt er ist. Fünfzehn, sagte der. Na ja, meinte sie, ich sei ja noch höflich gewesen, aber der andere! Der Junge habe sich bei ihr beschwert und sie muss der Sache nachgehen. Aber mehr, als die Personalien aufzunehmen, könnten sie auch nicht machen, hätte ihr Chef gesagt. Der Bengel sagte dann, dass er mir ja auch gar nichts beweisen könne, aber immerhin hätte ich ihn damals eingeladen und ihm sogar meine Adresse gegeben. Und was ist dabei?, habe ich gefragt. Und was hätte ich dann von ihm wollen, wenn er gekommen wäre. Das hätte er dann schon gesehen. Das Blöde an der Sache war, dass die kleine Rettungsschwimmerin dazu kam und auch noch stehen blieb und sich das Ganze anhörte. Wenn die das weitererzählt, dann ist es bald in der Poliklinik rum. Die sagte dann bloß zu dem Bengel: Wenn das ein Mädchen gewesen wäre, dann … Sie sind auch weiterhin unser Gast, sagte die Olle. Wäre ich bloß nicht stehen geblieben. Kannst du dir vorstellen, wie peinlich mir die Sache war. Die Leute wurden schon aufmerksam. So schnell gehe ich da nicht wieder hin. Das blöde an solchen Situationen ist, dass man gar nicht so schnell weiß, was man sagen soll. Die besseren Antworten fallen einem immer erst hinterher ein.“


Mittwoch, 8. März 1989, Internationaler Frauentag - Mittwoch, 15. März 1989

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