Die Hoschköppe / 116. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 116. Kapitel

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Mittwoch, 8. März 1989, Internationaler Frauentag


Heute Morgen hörte sich meine Stimme noch röhrender an als an den letzten Tagen, jeder Hirsch wär vor Neid erblasst. Ich verließ deswegen mein Büro und ging die Treppe runter in die Sanitätsstelle, um mir von Schwester Ursula eine Tablette geben zu lassen.
„Das hört sich ja wirklich grauenvoll an, dagegen müssen wir unbedingt was unternehmen!“, sagte sie mitfühlend und zog wegen der Schwere des Falles Schwester Regina hinzu, mit der sie gemeinsam bis an die Brust in den gut sortierten Medikamentenschrank eintauchte.
Danach lagen dann fünf verschiedene Packungen mit jeweils unterschiedlich gefärbten Tabletten vor mir auf dem Schreibtisch, von denen ich abwechselnd und in gebührendem Abstand eine lutschte. So sehr sie sich auch im Äußeren unterschieden, im Geschmack waren sie alle gleich scheußlich.
Von meinem Platz am Schreibtisch aus konnte ich ein trautes Elsternpaar beobachten, das vor Tagen die Krone der rechts stehenden Linde in Beschlag genommen und dort mit erstaunlichem Eifer ihre diesjährige Nistbehausung zurechtzuzimmern begonnen hatte. Hin und wieder mussten sich die beiden Schwarz-weiß-gefiederten einer aufdringlichen Krähe erwehren. Die wagte sich immer wieder, wohl mit unguten Absichten, zu dicht an ihren Neubau heran und erfrechte sich, sich uneingeladen niederzulassen. Den beiden Jungverliebten krähte sie mit allerhand weisen Ratschlägen dazwischen. Ich stellte bei meinen wissenschaftlichen Beobachtungen, die mich ein wenig von der schweren Erkrankung und gänzlich von der Arbeit ablenkten, mit Erstaunen fest, dass sie die zum Nestbau benötigten Zweige von den sich in ihrer Nachbarschaft befindlichen Bäumen abbrachen und nicht, wie ich es bisher und fälschlich vermutet hatte, vom Boden aufsammelten.
Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig meiner eigentlichen Aufgabe zuwenden, bevor unser Chefarzt auftrat, um auch all seinen Gehlsdorfer Frauen zum Frauentag eine floristische Aufmerksamkeit zu überreichen, die aus genau abgezählten zwei Nelken bestand. Und sogar ich bekam zwei geruchlose, weiß-rot gesprenkelte Blumen in die Hand gedrückt, aber nicht weil der Chefarzt gerade mich besonders mochte, ich ohne sie so traurig ausgesehen hätte oder es für gleichberechtigt hielt, sondern weil sie übrig waren.

Dienstag, 7. März 1989 - Dienstag, 14. März 1989

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