Die Hoschköppe / 81. Kapitel
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Dienstag, 15. November 1988
Zusammen mit einer Kollegin hatte ich den oberen Passagierraum der großen Fähre über die Warnow verlassen, war die steile Treppe zum Fahrdeck hinunter gestiegen und hatte mich vor der Schranke aufgebaut. Ich wollte auf keinen Fall die Dramatik des Anlegemanövers am Kabutzenhof verpassen, aber auch so schnell es ging von Bord kommen, denn zur S-Bahn hatten wir es immer eilig. Das Fährpersonal, zwei dunkelblau Uniformierte, erschien, um in einer gemeinsamen und aufwendigen Aktion die beiden Schlagbäume, der eine an Bord und der andere an Land, aufzurichten, wenn es denn der behäbigen und seitenwindlastigen Fähre gelingen sollte, die Einfahrt zu treffen. Noch hatte der unförmige Kasten aber nicht angelegt. Von der gegenüberliegenden Brückenseite grüßte die Undine, ein altersschwacher Kahn, der im Volksmund die „Arkona für Arme“ genannt wird. Wir schoben uns langsam auf die Leute zu, die an der Anlegestelle warteten. Ich hatte bis zum Anstoß nichts weiter zu tun, als sie aufmerksam zu betrachten, denn mitunter entdeckte man auch hier ein hübsches Gesicht. In der Mitte der Wartenden bemerkte ich eine allgemeine Erregung. Einen Tumult in Taschenformat, denn er schien sich nur auf einen engen Raum zu konzentrieren. Die Ursache dafür konnte ich mir nicht auf Anhieb erklären. Aber je dichter wir kamen, desto mehr Leute wichen zur Seite, um uns von Bord zu lassen. Jetzt erst bemerkte ich den älteren, sehr einfachen Herrn, bestimmt schon lange Rentner, der einen Jungen ziemlich grob am Oberarm zu fassen hatte. Der Junge mochte circa dreizehn Jahre alt sein. Er war mir hier schon öfter aufgefallen. Der alte Herr schien tüchtig auf ihn einzureden, wobei er ihn mit seiner freien Hand auf etwas am Boden Liegendes hinwies. Der Bengel erwies sich als gewandt genug, um sich immer wieder dem Griff des Alten zu entziehen. Er war von kleiner, aber stämmiger Statur und der Opa hatte es wohl nur der umstehenden Menge zu verdanken, dass ihm der Jüngere nicht ein paar gelangt hatte. Ich hatte inzwischen auch das Streitobjekt entdeckt, um das die beiden herumtanzten. Es war eine gemeine handelsübliche Streichholzschachtel, die wohl von dem Jüngeren gedankenlos weggeworfen worden war und nun in zwei Teile zerlegt auf dem Pflaster lag. Vielleicht hatte der Alte ihn aufgefordert, sie aufzuheben. Sich durchaus berechtigt und in der Gruppe sicher fühlend, mag der Alte dem Knaben schon bei seiner ersten Anrede grob gekommen sein, wie ich es schon oft bei älteren Leuten jüngeren gegenüber erlebt hatte, denn anders konnte ich mir die trotzige Reaktion des Jungen nicht erklären. Die Umstehenden verhielten sich, wie immer in solchen Situationen, wo sie gefordert waren, vollkommen passiv. Niemand mochte sich in diesen Streit, wo Gewalt eigentlich nur eine untergeordnete Rolle spielte, hineinziehen lassen. Keiner ergriff Partei. Ich hielt den Alten für genauso dumm wie den Jungen. Am liebsten hätte ich im Vorübergehen die Schachtel aufgehoben und in den nächsten Papierkorb geworfen, um dem Streit ein unverhofftes Ende zu bereiten. Was sie dann wohl getan hätten? Mir stürmten aber zu viele Leute nach, als die Fähre glücklich angelegt hatte und ich abstieg, dass es zu gefährlich gewesen wäre, sich plötzlich zu bücken. Ich hatte mich mehrmals zu ihnen umgesehen, sie aber dann aus den Augen verloren.
Ich bin aber nach wie vor der Ansicht, dass man grundsätzlich jedem Menschen ein der Gesundheit förderliches Mindestmaß an Dummheit zugestehen muss. Gefährlich wird es erst, wenn der zulässige Grenzwert überschritten wird. Denn wie sagte meine Schwester einmal ganz treffend: „Die Schlauen sind schlimmer als die Dummen!“
Montag, 14. November 1988 - Mittwoch, 16. November 1988
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