Die Hoschköppe / 80. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 80. Kapitel

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Montag, 14. November 1988


Die neue Arbeitswoche begann ich heute Morgen damit, auf dem Weg zur Dienststelle den Brief an Thomas in einen Gehlsdorfer Briefkasten zu werfen.
Von den Radionachrichten eines DDR-Senders vom heutigen Tage blieben zwei Meldungen in meinem Speicher hängen: In der DDR vier AIDS-Tote; heute Nacht soll Buran einen zweiten Versuch starten, ins All zu kommen. Die erste Meldung kann man getrost anzweifeln, wenn schon allein in Rostock ein Toter zu beklagen ist. Mit der zweiten Meldung werden die Zeitungen morgen wohl vorsichtiger sein.
Am Abend begann ich mit den ersten Vorbereitungen für die Renovierung meines Badekabuffs und des Korridors. Nach längerem Sträuben musste ich mich endlich dazu durchringen, weil mir keine plausiblen Ausreden mehr einfallen wollten. Von der Farbkonzeption her will ich mich aber auf keinerlei Experimente einlassen: Das Bad soll dunkelgrün, der Korridor dunkelblau bleiben. Warum soll von heut auf morgen über den Haufen geworfen werden, was sich in elf Jahren bestens bewährt hat? Womit ich voll im Trend unserer sozialistischen Planwirtschaft liege. Hoffentlich bietet der Fachhandel noch denselben Farbton an!
Falls es jemanden interessiert, ich war natürlich am Freitagabend mit Jochen und mit Spannung in der Sauna. Es gab zwar allerhand zu sehen, war aber relativ leer. Auch in der Schwimmhalle war kaum Betrieb. Vielleicht war Fußball oder so. Von den beiden Jungs, die wir zu sehen hofften, fehlte jede Spur.
Am Sonnabend fielen wir in aller Herrgottsfrühe aus den Betten, um mit dem Zug nach Plau am See zu fahren. Wie jedes Jahr kurz vor dem Totensonntag. Auf dem dortigen Friedhof liegen Jochens Vater und Oma sicher begraben. An ihren Gräbern gab es eigentlich nicht viel sauber zu machen, weder zu hacken noch zu harken. Es sah aus, als hätte das vor Kurzem jemand erledigt. Nur seinem Vater hatte unbedingt etwas Laub abgesammelt werden müssen, das sich meiner unmaßgeblichen Meinung nach auf dem Grab und Trampelpfad ringsum gar nicht so schlecht ausnahm, denn ich neige in der Grabpflege mehr zu türkischen Traditionen hin. Aber nein, es musste alles weg, so gehöre es sich! Und was sollten denn die anderen Lebenden dazu sagen! Alles mitgenommene Tannengrün wurde exakt zur Längsachse des Grabes ausgerichtet und gleichmäßig verteilt. Auch die Kissen und Kränzchen wurden gerecht zugeordnet. Wie jedes Jahr, so regnete es auch in diesem. Als wir fertig waren, sahen die Gräber sehr ordentlich, frisch und sauber aus. Jochen und ich weniger. Ich fragte ihn, ob das ganze Zeug, das er auf die Gräber verteilt hatte, bis nächstes Jahr nach Ostern liegen bleiben müsse, denn es waren auch Osterkätzchen darunter. Trotz des heftigen Regens war auf dem Friedhof mehr los als am Abend zuvor in der Schwimmhalle. Man konnte wohl die teuren Toten nicht so einfach ruhen lassen. Anschließend richteten wir uns beide an einer flachen, mit unansehnlichem Wasser gefüllten Tonne notdürftig wieder her. Da es inzwischen zu regnen aufgehört hatte, zogen wir gemächlichen Schrittes durch die Innenstadt. Es gab eigentlich nur die Innenstadt. Hier bewunderten wir das letzte historische Pflaster und die Schaufensterauslagen. Alles wie jedes Jahr, denn die Gaststätte auf dem Klüschenberg sollte erst um elf Uhr dreißig für Gäste geöffnet werden, und die Zeit bis dahin verging einfach nicht. Auch wie jedes Jahr. Wir konnten nichts anderes tun, als gelangweilt umherzuirren. Dafür war das Essen dann wieder hervorragend, der Kellnerlehrling auch. Wie jedes Jahr, so wurde ich auch diesmal zu all jenen mystischen Örtlichkeiten hingeführt, die Jochen in seiner Erinnerung an die Kindheit liebevoll und untrennbar miteinander verknüpft. Ich nahm es geduldig und mit viel Verständnis hin und sagte nur manchmal: „Ja, ich weiß!“ Dann sahen wir uns in die Augen und lachten. Wie jedes Jahr hatten wir zurück Verspätung und abends keinen Besuch.


Sonntag, 13. November 1988 - Dienstag, 15. November 1988

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