Die Hoschköppe / 79. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 79. Kapitel

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Sonntag, 13. November 1988


                                                                                        Auch Lichtenhagen, aber den 13. Nov. 1988
Hallo Thomas!                                                                                                               um 21.35 Uhr
Auch ich habe jetzt Deinen Brief vor mir liegen und habe ihn bereits mehrmals gelesen. Es gibt viel darauf zu sagen. Es gäbe auch viel zu sagen, wenn wir uns gegenübersäßen, aber dann ist mein Mund ja immer verschlossen. Wenn ich Dir jetzt meine Antwort schreibe, ich hoffe, Du erwartest eine Antwort, dann ist sie nur für Deine Augen bestimmt. Es soll keine Rechtfertigung werden, und ich hoffe, daß es sich nicht so anhören wird, sondern eher eine Klärung. Dabei gehe ich davon aus, daß Dein Brief ehrlich gemeint ist.
Aber wo und wie beginnen?
Ich werde, Deinem Brief folgend, damit beginnen, was ich von Dir halte und mein Vertrauen zu Dir. Ich war stets ehrlich Dir gegenüber und habe Dir von Anfang an mein Vertrauen uneingeschränkt entgegengebracht. Nie habe ich mich von Mißtrauen Dir gegenüber leiten lassen, wobei ein gesundes Maß davon in der heutigen Zeit durchaus angebracht wäre. Mißtrauen ist aber ein schlechtes Fundament, egal was für ein Haus man darauf errichten will. Sicher habe ich viele Fehler, zähle meine Leichtgläubigkeit meinethalben dazu, denn nie habe ich versucht, den Wahrheitsgehalt dessen, was Du alles erzählt hast, zu ergründen, habe Dich vielmehr so genommen, wie Du bist, nicht so, wie Du vielleicht sein wolltest. Nicht immer habe ich Dich, Dein Tun und Deine Äußerungen gleich durchschaut, habe aber immer versucht, mich in Deine Lage zu versetzen und Dich zu verstehen, und ich denke bzw. glaube, Dich zu verstehen. Ich wollte nicht nur Deinen Körper lieben, sondern auch Deine Seele. Ganz sicher habe ich Dich dabei auch so manches Mal mißverstanden. So wohl auch, als Du, zusammen mit Raymond, des Brotes wegen bei mir warst. Jochen hatte Dir vorher gesagt, daß ich Dich noch immer lieben würde. Du hattest mich daraufhin gefragt, ob sich da bei mir was geändert habe. Ich hatte Dir versichert, es habe sich nichts geändert und es werde sich auch nicht! Wie froh war ich, das auch von Dir zu hören, besonders da Du ganz eindeutig auf unsere gemeinsamen Nächte angespielt hattest. Hier nun unterlag ich wohl gründlich einem Mißverständnis. Ich hatte nur an die ersten drei, Du aber wohl nur an das letzte Mal gedacht, wo Du nach zwanzig Minuten wieder gegangen warst, nachdem Du mich noch vorher unbedingt mit der Frage, ob ich etwa noch was vor hätte, kränken mußtest. Vielleicht war Dein Zögern, mit mir ins Bett zu gehen, auch ein Mißverständnis. Vielleicht war es nicht Angst oder Hemmung, sondern nur die Zeit, die Du brauchtest, um Deinen Ekel zu überwinden. Aber das kann ich beinahe gar nicht glauben.
War vielleicht überhaupt alles, von Anfang an, ein einziges Mißverständnis? War ich vielleicht doch nur Spielball für Dich, ein Testobjekt, eine alte Schießbudenfigur, auf die man mit Freunden gemeinsam oder nacheinander anlegt und die man mit drei Schuß getroffen haben muß?
Aber so schlecht kannst Du gar nicht sein, wie ich Dich eben hinstellen wollte. Oder? Dann erzählte mir Jochen, Du seist nicht schwul, Du wüßtest es jetzt. Und Raymond brachte kurz darauf die Nachricht mit, Du hast jetzt eine neue Freundin und deshalb keine Zeit mehr. Ich war einerseits traurig darüber, andererseits freute ich mich aber für Dich, daß Du nun die scheinbare Ungewißheit, die quälende Bedrängnis endlich überwunden hast. Wenn es also so ist, hoffe ich, daß Du Dir diesmal wirklich ganz sicher bist.
Nun fürchtete ich, Du müßtest mir jetzt, nachdem Du über alles mehrmals gründlich nachgedacht hast, in Deinem Brief Deinen, ich muß das fürchterliche Wort noch einmal benutzen, Ekel mitteilen. Ich habe zu Hause bis nach neun mit dem Öffnen des Umschlags gewartet. Ich nahm auch noch einen weiteren Grund an, weswegen Du Dich zurückgezogen haben könntest.
Mehrmals hattest Du Deine Abscheu gegenüber unserem Intrigenspiel angedeutet. Ich glaubte, Deinen Rückzug auch als eine Reaktion darauf verstehen zu müssen. Aber Du wirst doch sicher eingestehen, daß auch Du in diesem Spiel immer eine Handvoll Karten hattest, von denen so manche gezinkt waren. Wie anders sollte ich es jetzt auffassen, daß Du mir so quasi unter Jochens Augen am Donnerstag den Brief überreichtest. Zum einen wird dann wohl der Inhalt dessen also nicht nur für mich gedacht sein, denn Du stellst darin etwas fest, worüber Jochen sehr befriedigt sein wird, zum anderen wirst Du davon ausgegangen sein, daß ich den Brief unmöglich sofort vor ihm aufmachen würde, denn ich hätte ja befürchten müssen, Du nimmst darin auf etwas Bezug, von dem Jochen nichts weiß.
Nun steht aber von alledem nichts drin in Deinem Brief, sondern Du kommst mir da mit einer Ausrede, denn nichts anderes als eine Ausrede ist es wohl, mit der Du Deinen Rückzieher erklären willst, die durch nichts begründet ist und mit der ich nun gar nicht gerechnet habe. Du mußt doch mir keinen Vorwurf daraus machen, daß ich mit Raymond bekanntgeworden bin. Das hast Du selber so eingefädelt, und das weißt Du auch. Sicher hattest Du ein anderes Ziel damit verfolgt, als Du uns immer wieder eingeredet hast, wie scharf er auf mich sei. Scharf ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, daß er sich für mich interessiert, wäre wohl richtiger, trifft die Sache aber auch noch nicht. Das Du aber auch gleichzeitig damit meine Neugierde und meine Eitelkeit angestachelt hast, mußte Dir doch klar sein. Wenn mir Raymond anfangs nicht so gefallen hat, wie Du aber glaubst, so muß ich gestehen, daß ich ihn jetzt nicht unsympathisch und nicht häßlich finde. Man kann sich wohl auch ganz gut mit ihm unterhalten. Wenn Du ihm ein größeres Interesse an mir unterstellst oder an ihm bemerkt haben willst, dann ist das eine Sache, die ich bis jetzt noch nicht festgestellt habe. Es gäbe ja wohl auch kaum Gelegenheit dazu. Raymond nimmt in meinen Gedanken, im Gegensatz zu Dir, kaum Raum in Anspruch. Ich habe meinerseits nicht vor, ihn in mein Bett zu bitten. Das wird wohl auch kaum in seiner Absicht liegen. Und wenn doch, dann … Ich weiß nicht.
Du hattest öfter in Deinen Bildern von einem Buch geschrieben bzw. gesprochen, das, je nachdem wie unsere Laune sei, in eine Ecke geworfen oder ungelesen ins Regal zurückgestellt werde. Darf auch ich jetzt dieses Bild aufgreifen? Du irrst, wenn Du so von mir denkst. Wie mit allen meinen Büchern, so gehe ich auch mit diesem sehr pfleglich und behutsam um. Es liegt noch immer bei mir zu Hause auf dem Tisch. Es ist wahr, momentan lese ich zwar nicht darin, obwohl ich noch lange nicht durch bin. Ich habe auch nicht alles so richtig verstanden, was darin steht. Manches kommt mir ungereimt, nicht zueinander passend vor. Es liegt aber, wie gesagt, immer griffbereit und jedes Mal, wenn ich ins Zimmer komme, sehe ich es liegen. Mitunter streiche ich mit der Hand darüber und schaue etwas wehmütig auf den Titel.
Ich sagte Dir auch, daß ich zwar aufgehört hätte zu warten, aber nicht zu hoffen. So ist es auch noch immer. Nicht einmal eine Spinne sitzt ohne Hoffnung wartend auf ihrem Netz bis sie verhungert ist.
Egal, was kommen wird. Ich weiß es nicht. Du wirst trotz allem immer in mir Deinen Dir gebührenden Platz behalten.
Nun möchte ich mich aber trotzdem für Deine guten Wünsche bedanken, die Du an den Schluß Deines Briefes gesetzt hast, wenn sie auch etwas utopisch sind. Aber utopisch sind ja unsere meisten Wünsche. Ich weiß gar nicht, womit ich mir die vielen guten Wünsche verdient haben mag. Auch Jochen wünscht mir jeden Abend, wenn ich nach Hause gehe, viel Spaß. Dann lebt jedes Mal meine Hoffnung wieder auf, holt tief Luft und fällt dann anschließend enttäuscht wieder in sich zusammen.
Ach und noch eines. Darf ich Dich dennoch bei Gelegenheit zum Essen einladen? Es gibt Roastbeef.
Sei gegrüßt, wenn Du bis hierher vorgedrungen bist, von
                                                                                     Friedel


Mittwoch, 9. November 1988 - Montag, 14. November 1988

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