Die Hoschköppe / 78. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 78. Kapitel

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Mittwoch, 9. November 1988


Es ist jetzt einundzwanzig Uhr sieben. Dezsö Ranki hämmert Schubert auf dem Klavier. Bis eben hatte ich damit zugebracht, meine Bude auf Vordermann zu bringen. Die Fensterfront wurde so umgestaltet, dass während der bevorstehenden Wintersaison nunmehr der rechte Fensterflügel zugänglich sein wird. Die Palmen kann ich stellen, wohin ich will: mehr Platz bekomme ich nicht. Sie wuchern und wuchern und erwarten vielleicht von mir, dass ich baldigen Tages das Feld räume, ganz zu Jochen ziehe und ihnen allein die Wohnung überlasse. Erst jetzt finde ich die Zeit, über den heutigen Abend nachzudenken.
Kurz nach halb sechs kam ich zu Jochen, der in seiner geliebten Couchecke saß und noch immer mit seinem Garp kämpfte.
„Was macht dein Schniepel?“, fragte ich ihn während des Essens. Jochen hatte am Dienstag die Befürchtung geäußert, dass er sich den möglicherweise verbrannt habe. „Da kannst du ja beim Arzt auch gleich Frank mit angeben“, frohlockte ich.
„Brauche ich nicht, denn er hat einen Überzieher benutzt“, konterte Jochen voll getroffen.
„Ach der Arme“, tat ich mitfühlend. „Da hat er sich wohl sehr quälen müssen? Es ist eine Schande und auch nicht einzusehen, dass es die Dinger nicht in Übergrößen gibt.“
„Zu sehen ist zwar nichts“, sagte Jochen, doch etwas ängstlich, „aber beim Pullern habe ich Schwierigkeiten.“
„Das wird nur eine Erkältung sein“, beruhigte ich ihn.
Von Thomas redeten wir nicht mehr, jeder sah aber von Zeit zu Zeit durch die Gardine ins Dunkel, dorthin, wo sein Fenster sein musste. Zehn nach sieben klingelte es.
„Das ist Thomas! Sein Licht ist aus“, sagte Jochen und stand vom Tisch auf. Als er dann ins Zimmer zurückkam, sagte er: „Kommst du mal!“
„Ich?“, fragte ich erstaunt. „Wer ist es denn?“
„Thomas!“
Ich ging zur Wohnungstür und fragte Thomas, warum er nicht reinkommen wolle. Er habe keine Zeit, redete er sich heraus. Hatte sie auch in den letzten Tagen nicht und werde in Zukunft wohl auch keine mehr haben. Ich erschrak. Das gab wenig Hoffnung. Na schön, dann eben nicht, dachte ich. Thomas gab mir einen verschlossenen Briefumschlag und erklärte dazu, den habe er mir schon lange geben wollen.
„Den hättest du doch bei mir in den Kasten stecken können!“ Dann wäre die Sache weniger auffällig gewesen.
Thomas verabschiedete sich mit den vielsagenden Worten: „Ihr habt ja noch Raymond.“
Dann ging er betont langsam, aber ohne sich umzusehen, die Treppe hinunter. Als ginge ein großer Mime, der er ja auch war, nach seinem Auftritt nach hinten von der Bühne ab. War es das nun?
„Was wollte er?“, fragte Jochen.
„Er hat mir einen Brief gegeben.“ Ich hatte das Kuvert gleich zu meinen Sachen gelegt.
„Willst du ihn nicht lesen?“
„Noch nicht. Später, … zu Hause.“
„Meine Briefe hast du auch alle gelesen“, bat Jochen und vergaß den, der an Thomas gerichtet war und noch immer auf der Flurgarderobe lag.
„Du kriegst ihn noch zu lesen“, tröstete ich ihn. „Warum hast du ihm denn deinen Brief nicht gleich mitgegeben?“, wunderte ich mich.
„Ach lass man.“ Jochen winkte ab, als hätte der Brief seine Wichtigkeit verloren. „Und jetzt fängt er mit dir an.“
„Das glaube ich nicht. Der wird eine neue Freundin haben, das ist alles. Mir war so, als wenn vorhin jemand unten gestanden und auf ihn gewartet hat. Das wird sie gewesen sein.“
„Der ist doch schon wieder drüben, es brennt wieder Licht bei ihm. Hierher braucht er jedenfalls nicht wieder zu kommen. Wozu fängt er das Ganze erst an? Er hat mich nach Strich und Faden belogen und nun tut er so, als wenn ich ihm …“ Hier brach Jochen ab.
„Nun rück endlich damit raus, was er zu dir gesagt hatte!“, forderte ich ihn auf.
„Nichts!“
Das war wirklich nicht zu viel. Wer nicht will, der hat schon. „Wir haben ja noch Raymond, hat er gesagt“, meinte ich.
„Und was hat er noch gesagt?“
„Er hat keine Zeit. … aber das ist auch so ein Ding, dass er hier klingelt, um mir den Brief zu geben! Den habe er mir schon lange geben wollen, hat er gesagt. Den hätte er auch ebenso gut bei mir in den Kasten stecken können.“
„Das macht er doch nur, um mich zu ärgern“, schlussfolgerte Jochen.
Wenn das sein ganzes Ziel war, dann hatte er es erreicht. Um Jochen auf andere Gedanken zu bringen, ließ ich mir ein paar Unklarheiten erklären, die ich beim Arbeiten mit dem Textprogramm habe. Wir sprachen über den morgigen Theaterbesuch und sortierten nebenbei die Fotos, die ich mitgenommen hatte. Jochen zog sich dann aus, weil er in die Wanne wollte, ich mich an, weil es mich nach Hause zog. Jochen wünschte mir wieder viel Spaß, was ich mit Glut sprühenden Augen quittierte.
Es ist inzwischen kurz vor zweiundzwanzig Uhr geworden und Dezsö hatte bereits mehrmals von vorn beginnen müssen. Der Brief von Thomas liegt noch immer ungeöffnet auf dem runden Tisch in der Zimmermitte. Was mag er enthalten? Aufklärung? Anschuldigungen, neue Lügen? Hatte er nun seinen Ekel in Worte gekleidet? Oder wollte er gar für irgendwas um Entschuldigung bitten? Ich mag ihn gar nicht wieder in die Hand nehmen.

Lichtenhagen, den 05.11.1988    Hallo Friedemann!        21.16.Uhr

Wenn ich Deinen Brief so vor mir liegen habe, nach nochmaligem
Lesen, muß ich feststellen, daß Du viel von mir halten mußt, oder
muß ich jetzt sagen, gehalten hast. Und höchstwahrscheinlich habe
ich Dein Vertrauen gar nicht verdient, sich darüber aber jetzt noch
auszulassen, wäre für die Katz! Themawechsel, Raymond sollen
die folgenden Sätze und Zeilen gelten, heißes Thema, wie Du zu-
geben mußt. Und wo wir gleich beim springenden Punkt wären,
denn Du mußt außer dem zugeben, daß Raymond Dir vom 1.
Augenblick gefiel. Machen wir uns nichts vor, Du warst schon
am 1. Tag geil auf ihn. Er hat ja auch nicht gerade wenig
dafür getan. Er versteht es eben, sich bei Fremden beliebt zu
machen, und das mit sofortiger Wirkung. Nun mußte ich
also damit rechnen, von Dir total links liegen gelassen zu
werden. Dein Interesse für mich war somit im Arsch. Auch gut!
Wenn ich weniger real denken würde, müßte ich es Schicht-
wechsel nennen, aber das jetzt auch noch zu erklären, wäre
zeitverschwenderisch, und Patronen hab ich auch keine
mehr. Kurzum, es ging mir unheimlich auf den Arsch,
daß Du Dich so an Raymond herangemacht hast.
Wobei ich meine Stellung zu Dir nicht überspitzen will.
Ich bin nämlich weder Deine Mutter, noch Dein
Liebhaber, also wäre es auch weniger angebracht, Dir die
Wege zu weisen. Du würdest sie ohnehin nicht gehen.
Da ich Dir nun alles nahegebracht habe, was ich auf dem
Herzen hatte, kann ich ja dazu übergehen, den Schluß-
punkt zu setzen, für welchen Zeitraum, ist an Dir
gelegen. Wer vergißt, der vergißt zu hoffen.
Bleibt mir nur noch, Dir weitere schöne
Tage und Wochen mit Raymond zu wünschen,
vor allem die Abende werden aufregend.

Du mußt übrigens aufpassen, das Fleisch ist vergiftet!

Montag, 7. November 1988 - Sonntag, 13. November 1988

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