Die Hoschköppe / 77. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 77. Kapitel

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Montag, 7. November 1988


Um in der Stadt einen Nadelträger für meinen Plattenspieler, Fixiersalz und eine Sonntagsrückfahrkarte nach Plau am See für Jochen und mich zu kaufen, benötigte ich einen beträchtlichen Teil meines verdienten Feierabends. Eine neue Bürste für meinen Staubsauger war nicht zu bekommen.
Vor seiner Haustür in der Johannes-Brinkmann-Straße traf ich auf Jochen, der gerade von der Kaufhalle heimkam. Aus seinem Einkaufsbeutel lugte ein Satz eingeschweißter Tassen hervor. Wir gingen zusammen hinein. Auf der Flurgarderobe stand bereits ein gleiches Paket, das er aber aus Schutow mitgebracht hatte.
„Die stehen ja immer noch hier“, wunderte ich mich darüber, als wir uns auszogen, und wies auf das Porzellan, das da stand. „Was ist das denn?“, fragte ich, denn obenauf lag ein Briefumschlag. Ich nahm ihn in die Hand, um ihn näher zu betrachten. Er war zugeklebt. Auf die Vorderseite war Thomas‘ Adresse geschrieben.
„Er soll seine Sachen abholen“, sagte Jochen erklärend.
„Schon wieder? Ist irgendwas vorgefallen? … Du hast doch gesagt, da war nichts weiter.“
„War ja auch nicht.“
„Und wieso dann dieser Brief?“
„Er hat wieder so blöd getan.“
„Wie, blöd getan?“
„Na so, du weißt doch, wie er tut, wenn etwas nicht so läuft, wie er will“, sagte Jochen.
„Und deswegen der Brief?“ Ich zeigte Jochen einen Vogel. Zum Inhalt schwieg sich Jochen aus. „Dann muss ich mich leider in Vermutungen ergehen“, warnte ich ihn, was wenig half. „Ich hoffe wenigstens, du hast mich nicht erwähnt und hast nicht von ‚wir‘ gesprochen.“
„Das hab ich nicht.“
Beim Abendessen versuchte ich es noch einmal, ihm den Inhalt des Briefes zu entlocken. „Hast du den Film gestern Abend noch zu Ende gesehen?“ Ich versuchte es von hinten herum.
„Nein, ich bin gleich schlafen gegangen.“
„Den Film müsstest du übrigens schon gekannt haben.“
„Na ja, ein paar Szenen kamen mir schon bekannt vor. Aber du weißt doch, wo in solchen Fällen mein Gedächtnis ist.“
„Ja, meist liegt es dann unter dem Kopfkissen. Dann hast du den Brief also vorhin geschrieben?“, fragte ich.
„Auf der Arbeit! … Und bevor ich vorhin zur Kaufhalle ging, habe ich ihn noch rasch zugeklebt.“
„Aber meine Briefe musst du alle lesen!“, empörte ich mich, als ich merkte, dass ich auch auf diesem Wege nicht weiterkam.
„Wer weiß, wie viele du ihm schon geschrieben hast.“
„Hattest du vorhin gehört, was ich gesagt habe: Wie ein kleines Kind, dem man das Katschi weggenommen hat!“
„Ich lass mich doch nicht von ihm beleidigen!“, erregte sich Jochen plötzlich.
„Wieso, was hat er denn gesagt?“, fragte ich noch einmal. Aber Jochen wich mir aus, konnte mir keine konkrete Antwort geben. „Beleidigen brauchst du dich nicht lassen, das stimmt.“ Ich war immer noch nicht schlauer. „Weißt du, dann finde ich es aber komisch, dass du gestern geblinkt hast!“
„Er hat doch damit angefangen“, verteidigte sich Jochen.
„Das alles passt doch hinten und vorne nicht zusammen. Du belügst mich doch.“
Tat er es? Ich biss mir vor der eigenen Dreistigkeit auf die Zunge. Jochen war bestimmt noch wegen Sonnabend sauer auf mich. Als ich nämlich knapp vor vierundzwanzig Uhr wieder zu ihm kam, war Frank noch immer da. Damit hatte ich natürlich nicht gerechnet und gepasst hatte es mir auch nicht. Ich kam mir jedenfalls ganz schön blöd vor. Mir war dann auch nichts Besseres eingefallen als zu fragen: „Na, seit ihr endlich fertig?“ Sie hätten sich noch „Decamerone“ angesehen, meinten beide. So ein Quatsch! Wenigstens angezogen waren sie schon wieder. Nachdem Frank dann gegangen war, war ich in mein Bett gekrochen, das mir Jochen auf der Couch gemacht hatte. Er war dann noch zu mir ans Bett gekommen, wohl um mich zu versöhnen. Aber dazu hatte ich keine Lust mehr. Vielleicht war es ja ein wenig zu hässlich, was ich ihm an den Kopf warf: „Wenn dich andere bumsen, brauche ich das wenigstens nicht zu tun.“ Jochen war daraufhin abgezogen und hatte das Licht ausgemacht.
Als ich heute nach Hause ging, es war kurz nach achtzehn Uhr, meinte Jochen, und da war er wieder ganz der Alte: „Ich komme nachher vielleicht noch kontrollieren.“
Diese Art Abschied konnte er sich getrost klemmen, er brachte mich schon wieder auf die Palme. Kontrollieren! Und dann dieses „vielleicht“. Meist sagt er dann auch noch: „Viel Spaß!“ Wie viel Spott in nur zwei Worte passt!
„Kommen kannst du ruhig, aber das Kontrollieren kannst du stecken lassen!“, sagte ich und ging.
Jochen kam dann tatsächlich nach und half mir bis um halb neun beim Entwickeln.
Ich erhielt solange keine Kenntnis über den Inhalt des Briefes, bis ich eines fernen Tages bei der Suche nach irgendwas Belanglosem in einem der Schubfächer der Schrankwand unverhofft auf ihn stieß. Er war verschlossen und ich beließ ihn in diesem heiligen Zustand. Ich scheute mich aber nicht, ihn an mich zu nehmen und bei den eigenen Unterlagen aufzubewahren, wo er bis zum heutigen Tag, da ich diese Geschichte niederschreibe, in Frieden ruhte.
Ich öffne ihn jetzt mittels eines kleinen Taschenmessers und bekomme Folgendes zu lesen:

Suche nicht den Dorn in den Augen der Anderen, wenn Du selbst von einem Balken geblendet bist. Laß den Balken aus Deinem Auge ziehen!
Hallo Thomas!
Gestern gab Dir wohl Deine Jugend das Recht, mit den Gefühlen Anderer zu spielen. Heute scheint sie Dir das Recht zu geben, nur noch für diese Anderen „Mitleid zu empfinden“. Wird sie Dir morgen das Recht geben, auf der noch heißen oder schon kalten Asche der Anderen herum zu trampeln?
Aber wir sitzen nun mal alle im selben Boot, die einen etwas weiter vorn, die anderen etwas abseits. Du wolltest immer zu denen gehören, die ganz weiter vorn sitzen, zu denjenigen, die immer mit einer kleinen Idee schneller am Ziel sind. Hast Du auch die Kraft dazu? Ich glaube nicht.
Du hast aus dem kleinen Thomas immer mehr machen wollen, als er überhaupt ist. Mit Worten hast Du es ver-sucht: der Thomas, der Blonde, der Karate und Tennis spielen kann, dazu noch Reiten und Musik machen kann, der viel schlauer ist als andere, der Däne mit den blaugrünen Augen, der die Welt gesehen hat oder der sich seine eigene Welt erschaffen hat: Thomas, der Träumer!
Wach auf Thomas! So wie Du die Welt sehen möchtest, ist sie nicht. Sie ist in Wirklichkeit viel häßlicher, viel kälter. Und nur deswegen gehst Du dazu über, alle Menschen, die Dich aus Deinem Traum reißen, zu hassen. Sperr Dich nicht selbst ein, nur weil Dir andere nicht das gönnen, was Du Dir wünschst, Dir manchmal die Wahrheit und manchmal eine Lüge erzählen. Urteile über Dich, bevor Du andere richtest.
Ich nehme Dich so wie Du bist, mit allen Fehlern, mit allen guten Seiten!
Jo.

Sonntag, 6. November 1988 - Mittwoch, 9. November 1988

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