Die Hoschköppe / 76. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 76. Kapitel

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Sonntag, 6. November 1988


Heute warf ich folgenden Brief in den Kasten:

                                                                                                                        Rostock, d. 4. Nov. 88
Hallo Edeltraud und Edwin!
Ich bedanke mich für Deinen neuerlichen Brief, Edeltraud, und möchte sofort darauf antworten, um Deine unnötige Besorgnis zu zerstreuen. Mir geht es blendend. Bei klarem blauen Himmel bescheint die Sonne die letzten noch am Baum verbliebenen goldenen Buchenblätter: wie sollte es mir da schlecht gehen!
Wenn ich solange nicht geschrieben habe, ich könnte jetzt nachsehen, wann ich den vorletzten Brief von Dir bekommen hatte, und feststellen, ob es wirklich schon zwanzig Tage her sind, also wenn ich auf ihn noch nicht geantwortet habe, so nur deshalb, weil die Zeit, die Tage und Wochen, einfach zu schnell verfliegen. Keinesfalls wollte ich Dich damit beunruhigen!
Und anrufen hättest Du ruhig können, meine diesbezügliche Bitte hatte nur Gültigkeit für den Brief, in dem sie stand.
Heute Morgen war draußen der Boden das zweite Mal in diesem Herbst mit Reif überzogen, auch daran können wir sehen, wie schnell das Jahr seinem Ende entgegenläuft. Vielleicht gibt es einen frühen Winter. Der Fährbetrieb über den Strom läßt dies auch vermuten. Am Mittwoch mußte ich jedenfalls hintenherum, mit dem Bus und der Straßenbahn, zur S-Bahn fahren, weil die Fähre wegen Hochwasser nicht anlegen konnte. In Warnemünde hatte man Mittwochabend einen Meter zwanzig über normal gemessen. Starker Nordwind soll schuld daran gewesen sein, so stand es in der Zeitung. Diesmal können wir dem wohl Glauben schenken. Sonst sind ja Zeitungsmeldungen mit einer gesunden Portion Mißtrauen zu betrachten. Am Sonnabend letzter Woche hatten unsere Regionalzeitungen mit viel Stolz aber zu voreilig berichtet, daß in der Nacht die sowjetische Raumfähre „Buran“ gestartet sei. Am Montag haben sie dann, ohne irgendeine Entschuldigung oder Erklärung, ganz frech geschrieben, daß der Start verschoben werden mußte.
Ich hatte mir schon für den November vorgenommen, Euch zu besuchen. Ich hatte unbedingt zu Euch kommen wollen, noch bevor Mutti ins Heim käme. Aber dafür bin ich wohl nun zu spät dran. Ich hatte nicht gedacht, daß es so schnell geht. Den Eindruck hatte ich nämlich nicht, als ich Deinen vorletzten Brief gelesen hatte, in dem Du zwar schriebst, Ihr hättet Nachricht bekommen, daß wohl Aussicht bestünde, aber wann, sei noch ungewiß. Was Du mir über das Heim schreibst, erweckt in mir nicht gerade die allerrosigsten Vorstellungen. Aber es wird wohl trotz allem so das Beste für Mutti sein, für Dich und vor allem für Edwin. Und wenn Mutti gar nicht bewußt wird, daß sie in einem Heim ist, wie Du ja schreibst, wenn sogar schon die Zeit aus ihr getilgt ist, die sie bei Euch gelebt hat, dann wird sie wohl auch keinen Schmerz darüber empfinden, daß sie in einem Heim ist. Den Schmerz trägst Du dann wohl allein. Wie immer! Ich bin weit entfernt davon. Das heißt nicht, daß ich gänzlich unberührt davon bleibe. Das nicht.
Oft kehrt ein Bild in meine Gedanken zurück, das ich dann schwer wieder loswerden kann: ein schmaler, hoher Raum, unfreundlich kalt und kahl; abgestandener Mief aus Urin, Kot, Angst und Verzweiflung; eine ausgezehrte, fremde Gestalt mit eingesunkenen, getrübten wässrigen Augen, mit zahnlosem Mund unverständlich lallend, mit beiden Händen, blau angeschwollen, erbarmungslos ans Bett gefesselt. Das ist mein letztes Bild von Papa.
Ich fürchte, ein ähnliches Bild werde ich von Mutti zurückbehalten, wenn wir sie besuchen. Wir besuchen sie, wenn ich komme. Zu Hause habe ich über meinem Schreibteil in der Anbauwand das Foto stehen, welches Mutti und Papa, zusammen im Gartensteig stehend, zeigt. Da sehe ich oft drauf. Bis zum 19., dann komme ich, herzliche Grüße von
                        Friedemann



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