Die Hoschköppe / 75. Kapitel
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Sonnabend, 5. November 1988
Aus verständlichen Gründen hatte ich wieder große Mühe einzuschlafen. Auch während der ganzen Nacht konnte ich nicht die richtige Ruhe finden, obwohl ich ehrlich bemüht war. Der ganze heutige Tag war mir darum verleidet.
Wir wussten beide, dass wir früh aufzustehen hatten, der schallende Weckruf des Radios traf uns trotzdem vollkommen unvorbereitet. Es gab ein schnell bereitetes Frühstück, wobei ich mir ein weiteres Mal Jochens jauchzende Schwärmerei für diesen blöden Eike anhören musste.
Ich fragte: „Ist das nun das erste Mal gewesen, dass du jemanden so richtig gebumst hast?“
„Ja, das erste Mal.“
„Und, fühlst du dich darum jetzt besser?“
„Besser, würd ich nicht sagen … stärker vielleicht.“
„Frommse, was für Frommse?“
Jochen war von seinen Mitgenossen der Abteilung für vertrauenswürdig genug befunden worden, zur Delegiertenkonferenz ihrer Grundorganisation geschickt zu werden. Vielleicht hatten die Anderen aber auch nur keine Lust oder keine Zeit oder etwas noch Wichtigeres vor. Er machte sich jedenfalls eiligst auf den Weg nach Warnemünde in Warnowwerft. Ich besorgte die zerwühlten Betten, wusch das wartende und nach heißem Wasser schreiende Geschirr ab, ging anschließend zu mir, um dort noch vor Eddis Einsegeln die Treppe aufzuwischen, womit ich dann gerade eben fertig wurde, als er auftauchte. Erst um halb eins konnte ich zurückgehen und das malerische Roastbeef, das ich mir versprochen hatte, in die Pfanne legen, denn solange hatte Eddi mich mit seinen Neue-Männer-braucht-das-Land-Fotos in Beschlag genommen und gequält. Es war schlimmer, als den ganzen Tag zu arbeiten. All mein Drängen und Stöhnen hatte nichts bewirkt: Eddi machte nicht eher Schluss, als bis sein gesamter mitgebrachter Papiervorrat aufgebraucht war.
„Das nächste Mal kannst du dir Gerd dazu einladen, dann könnt ihr meinetwegen bis in die Nacht hinein hier rumspielen. Mich kriegst du jedenfalls nicht wieder an den Apparat ran“, hatte ich zu Eddi gesagt. Die Wirkung aber, die ich damit erzielte, war ungefähr die gleiche, als hätte ich das in meinen Kleiderschrank hineingerufen.
Das gestrige Erlebnis animierte und legitimierte mich, nachmittags aufs Neue in die Sauna zu fahren. Es musste sein, selbst auf die Gefahr hin, dass ich gänzlich aufweichen würde. Wenn Jochen nach Hause käme, wollte ich zurück sein. Ich legte ihm aber für alle Fälle einen Zettel hin:
Suche mich bitte nicht,
ich bin mir einen Lehrling holen!
Es war dort zwar durchweg interessant und darum keineswegs langweilig, einzelne Lehrlinge waren aber gerade nicht im Angebot. So musste ich alleine und unbefriedigt wieder von dannen ziehen. Jochen war inzwischen schon zu Hause eingetroffen. Auf dem Zettel, der noch immer auf der Flurgarderobe lag, hatte er hinzugefügt:
Na dann viel Glück!
Noch freundlicher hätte ich mir eine Verhöhnung nicht wünschen können.
„Ich bin schon eine ganze Weile zu Hause“, bemerkte Jochen. Der missbilligende Unterton war nicht zu überhören.
Um viertel acht klingelte es. Mein erster Gedanke war: Eike! Es war aber nur (!) Frank, der gnädig zu einer Privataudienz vorgelassen und dem das seltene Privileg zugestanden wurde, uns beim Essen zusehen zu dürfen, bis wir fertig waren. Es dauerte nicht lange und es klingelte erneut. Aber so ist es ja immer: Wenn es kommt, dann kommt alles auf einmal, dachte ich. Hatte sich Frank auch schon mit jemandem hier verabredet? Da Jochen gerade im Klo seine Notdurft verrichtete, musste ich öffnen.
„Nehmt ihr ein armes Waisenkind auf?“, fragte Raymond vor der Tür stehend.
„Damit sind wir zwar schon versorgt, aber komm ruhig rein“, sagte ich und machte eine einladende Handbewegung.
Als der zweite Gast die Klamotten des ersten Gastes am Haken sah, fragte er überflüssigerweise: „Habt ihr Besuch? Na, dann will ich lieber nicht stören“, sagte er mit gekräuselter Stirn und fragendem Blick, nachdem ich ihm seine Vermutung bestätigt hatte. Ich sah mich nicht veranlasst, ihn zu nötigen: weder zum Bleiben, noch zum Gehen.
„Ich gehe dann wieder nach Hause“, sagte Raymond zögernd und enttäuscht. „Schickt Thomas zu mir, der will auch noch kommen!“
„Ach ja? … Das geht schon klar.“
Hatten sich die beiden wieder was ausgedacht? Als Raymond gegangen war, erzählte ich Jochen davon, der noch immer auf dem Lokus saß, holte dann die fünfzehn Mark für Thomas, die in der Stube bereitlagen, und legte das Geld für nachher auf die Flurgarderobe, denn Thomas würde bestimmt auch nicht herein wollen. Er klingelte so gegen acht. Diesmal war Jochen zur Tür gegangen, um ihn dort abzufertigen und mit zwei Büchern zurückzukommen, die sich Thomas wohl ausgeliehen hatte.
Bei viel klebrigem Zitronenlikör und wenig Unterhaltung sahen wir drei bis viertel elf fern, dann zog ich mich in aller Diskretion zu mir nach Hause zurück und überließ den beiden das gesamte Spielfeld. Da Jochen gegen mein Gehen keinen Protest erhoben hatte, musste es wohl so seine Richtigkeit gehabt haben. Dieser Schuft! Bei dreiviertel zwölf könne ich wiederkommen, hatte er mir mit auf den Weg gegeben. Dann solle er aber bitteschön nicht nur Frank, sondern auch beide Betten fertiggemacht haben, bat ich bescheiden. Jochen warf sich wieder in schadenfreudige Siegerpose, wie ich sie schon nachmittags ertragen musste, als Jochen mein Pech in der Sauna bespöttelte, und verkündete voller Gewissheit und mit Triumph in der Stimme, dass zwischen mir und Thomas sehr wohl mehr gewesen sei, denn das hätten ihm schon andere erzählt.
Wenn das wirklich wahr ist, dann kann er es nur von Raymond haben, dachte ich verbittert. Oder von Klaus H.? Thomas konnte einfach nicht so weit gegangen sein. Oder? Jochen blufft nur wieder. Aber wieso war er ausgerechnet auf die Zahl Drei gekommen? Ich fürchte, hier ist ein ganz teuflisches Komplott im Gange!
Freitag, 4. November 1988 - Sonntag, 6. November 1988
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