Die Hoschköppe / 82. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 82. Kapitel

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Mittwoch, 16. November 1988


Auf der Jagd nach blauer Latexfarbe habe ich zu Fuß die ganze Stadt durchstreift. Bekommen habe ich nur einen Schlafanzug in Größe zweiundfünfzig. Kati hatte sich eine Übergröße zu Weihnachten gewünscht. Als wir vor ein paar Jahren noch als Jäger und Sammler durchs Gebüsch krochen, hatten wir nach unseren Ausflügen mehr zu schleppen. Kurz nach sechs erschien ich bei Jochen, um ihm mein Leid zu klagen. Da mir schon seit geraumer Zeit der Magen in den Kniekehlen hing, hatte ich auf einen bereits gedeckten Tisch gehofft, was aber schnell nachgeholt wurde. Beim Abendbrot wich dann nach und nach die nagende Leere. Gesättigt und zufrieden lehnten wir uns in die Polster zurück und sahen in die Glotze.
Es klingelte. Während sich Jochen vom Sofa hoch quälte, bekam ich akutes Herzrasen. Schon gestern hatte ich mit einer Reaktion auf meinen Brief gerechnet. Das musste ich aber einsehen: So schnell konnte die Post wirklich nicht sein. Jochen hatte wieder die Stubentür hinter sich geschlossen und mich lange im Ungewissen sitzen lassen. Da der Fernseher recht laute Töne von sich gab, war vom Korridor her nichts zu hören. Als sich dann endlich die Tür auftat, kam Thomas herein, er hatte sich die Schuhe ausgezogen, und begrüßte mich mit Handschlag.
„Ein ganz seltener Besuch“, freute ich mich und sah ihn forschend an.
„Dir hab ich ja noch gar nicht die Hand gegeben“, sagte Thomas daraufhin zu Jochen, der an ihm vorbei zurück auf seinen Platz wollte. Thomas hatte sich in voller Größe vor mich aufgebaut und sah mit seinem sehr ernsten Gesicht irgendwie bedrohlich aus. Mir war gar nicht wohl in Erwartung dessen, was da nun kommen sollte.
„Weiß er Bescheid?“, fragte Thomas so laut, dass es jeder im Saal hören konnte, und deutete dabei auf Jochen.
„Wieso, worüber soll er Bescheid wissen?“ Mir schwanden sämtliche Sinne auf einmal, während Jochen auf der Couch saß und große Ohren machte. Ich vermutete ganz richtig, dass Thomas meinen Brief meinte. Zorn stieg in mir auf, wie glühende Lava in einem Vulkan. Hat er meinen Brief nicht richtig verstanden oder will er jetzt erneute die Gelegenheit nutzen, um Zwietracht zwischen Jochen und mir zu säen, dachte ich angewidert.
Thomas‘ nächste Frage zielte genau in diese Richtung: „Raymond hat also gesagt, ich habe eine neue Freundin!?“
Thomas, du bist zwar niedlich, aber ein großer Idiot, dachte ich. Willst du mich wieder in die Pfanne hauen? Ich fasste mich und meinte: „Das hat er uns hier erzählt“, sah Jochen an und fragte mich, was in dessen Schädel jetzt wohl vor sich gehen mochte. Deswegen musste ich noch unbedingt eine Frage anhängen, wieder Thomas zugewandt: „Woher weißt du das, hat er dir das erzählt?“
„Das nicht, … ich habe es jedenfalls mitbekommen“, lenkte Thomas ein.
Das fehlte noch, dass er in diesem Zusammenhang meinen Brief erwähnt hätte. Thomas gab seine Drohgebärde auf und ließ sich in den anderen Sessel falle. Ich holte vorsichtig Luft. Jochen bestätigte, dass Raymond uns bei seinem Besuch davon erzählt habe. Um meine Aufregung in andere Bahnen zu lenken, musste ich mir unbedingt Bewegung verschaffen, indem ich den Tisch abzuräumen begann. Hinter dem Vorhang der Kochnische rief ich: „Ich verstehe gar nicht, warum er dir erzählt hat, dass er uns das gesagt hat. Das hätte er sich doch klemmen können, wenn es nicht stimmt.“
Die Situation hatte nichts von ihrer elektrischen Spannung verloren, im Gegenteil. Jetzt meinte Thomas, so direkt habe es Raymond nicht gesagt, er habe es aber aus dessen Worten so herausgehört. Dann sprachen Jochen und Thomas miteinander, aber so leise, dass ich in der Kochnische nichts davon verstehen konnte. Ich war noch nicht fertig in der Küche, als sich Thomas schon wieder die Schuhe anzog. Ich setzte mich in meinen Sessel und starrte in den Fernseher. Innerlich war ich so aufgewühlt, wie ein Kartoffelacker nach dem Besuch einer Rotte Wildschweine.
Der ruchlose Thomas kam aus dem Korridor zurück, machte den Apparat leiser und fragte mich: „Hat Raymond von dir einen Ohrring bekommen?“
Mich verwunderte diese Frage. Worauf wollte er nun hinaus? „Ja, und? … So einen Großen.“ Ich deutete den ungefähren Durchmesser des Ohrringes an. „Er hatte mich gefragt, ob ich irgendwelche Klunker habe, die ich nicht mehr brauchen würde, und da habe ich ihm den gegeben. Einen schweren Ring auch noch. So breit!“ Meine Antwort schien Thomas nicht zu beruhigen.
Jochen sagte: „Er kam hier an, mit all seinen Klunkern um den Hals, und hat uns danach gefragt.“
„Ach, du weißt das auch!“, stellte Thomas erstaunt fest, denn das passte wohl nicht in das Bild, das er sich zurechtgelegt hatte. Und wieder an mich gewandt: „Und das alles ohne Gegenleistung!?“ Womit er wohl genau das Gegenteil unterstellen wollte. Irgendwie kopflos und unschlüssig lief er zwischen Stube und Korridor hin und her.
Als er mir dann zum Abschied wieder die Hand gab, fragte ich ihn: „Du tust doch auch nicht alles nur für eine Gegenleistung?“ Vielleicht hatte ich mich unglücklich ausgedrückt. Gemeint war, dass auch er so manches hergebe, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen oder zu erwarten. Ich hoffe, dass Thomas es so verstanden hat.
„Na, hast du ihm nun den Brief mitgegeben?“, fragte ich Jochen, als Thomas weg war, weil das Ding immer noch im Flur gelegen hatte. Er habe es nicht getan. Auf die Frage, warum nicht, meinte Jochen, er habe darin wohl doch zu impulsiv reagiert. Auf das, was er mir nicht hatte verraten wollen.
Dann kam sie endlich, die Frage, auf die ich schon die ganze Zeit gewartet hatte: „Was hat er wohl damit gemeint: ob ich Bescheid weiß?“
„Na, den Brief, den er hergebracht hatte, denke ich. Ob du ihn gelesen hast.“
„Ich habe so getan, als wüsste ich nichts davon“, sagte Jochen.
„Warum das denn?“ Ich war entsetzt. „Das kann er sich doch denken, dass du ihn gelesen hast, wenn er ihn schon hierher bringt.“
„Das hatte ich doch gar nicht gesehen, dass er dir einen Brief gegeben hatte“, entschuldigte er sich. „Nun ist dir das auch wieder nicht recht. Ich mache alles verkehrt.“
„Ach was.“
„Hast du das nicht gehört, das mit dem Fleisch, als er danach fragte?“
„Das habe ich nicht ganz mitbekommen.“ Ich hatte zwar gehört, dass vom Fleisch die Rede war, dass es weit besser aussehe, als das, was es in der Kaufhalle gebe. Aus der Küche heraus hatte ich sogar zugegeben, dass ich bereits eine Scheibe davon gegessen habe.
„Er fragte mich, ob ich das vom Fleisch gelesen habe und ich fragte ihn daraufhin, was ich denn gelesen haben soll“, sagte Jochen.
„Weißt du, ich glaube, die beiden sprechen sich gar nicht so ab, wie wir das immer angenommen haben. Eher im Gegenteil. Ich glaube, die tricksen sich gegenseitig aus.“ Ich hielt das jedenfalls für möglich.
„Und Thomas hat sich nun was einreden lassen“, meinte Jochen.
„Das verstehe ich nicht, wie meinst du das?“, fragte ich.
„Ich habe doch auch immer nur das gehört, was ich heraushören wollte. Und so macht er es jetzt auch.“
„Das ist doch alles Quatsch! Raymond ist doch nie bei mir gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der sagt, er wäre bei mir gewesen, wenn er es nicht war. Das ist doch alles nur eine Ausrede.“
„Ich weiß nicht?“, zweifelte Jochen. Er deutete Thomas‘ Verhalten als Eifersucht. Das kann nicht schaden, dachte ich. „Heute gehst du mir aber nicht so früh nach Hause!“, forderte Jochen.
„Wieso das nicht?“
„Der steht doch bestimmt noch draußen und wartet.“
„Wenn man nur!“
Über Jochens Gesicht breitete sich ein höhnisches Grinsen aus und sein Mund öffnete sich zu der solange zurückgehaltenen Frage: „War er gestern Abend bei dir?“ Und wenig später: „Entschuldige, ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.“
„Das habe ich gemerkt. Und wer sollte gestern Abend bei mir gewesen sein?“
„Na Thomas!“
„Der war nicht da.“
„Und Raymond?“, fragte Jochen unsicher.
„Der auch nicht. Auch kein Frank, kein Eike, kein Oberschüler oder sonst irgendein Lehrling. Und wenn, würde ich‘s dir nicht erzählen.“ Ich war schon wieder auf über Hundert.
„Ach, das ist ja interessant. Ich habe ja gewusst, dass er immer zu dir kommt.“
„Ich habe nicht gesagt, dass er da war, ich habe nur gesagt, dass ich es dir nicht erzählen würde, wenn er da gewesen wäre.“ Was für ein horrender Unsinn. „Raymond wird‘s dir dann schon sagen.“
Jochen nickte zu allem, was ich sagte.
Als der Film zu Ende war, salbte ich ihm den Rücken ein und ging dann nach Hause. Beim Abschied hatte ich zu ihm gesagt: „Weißt du, als es heute Abend klingelte, dachte ich zuerst, es ist Eike. Kuck an, jetzt lässt er ihn nicht rein, weil ich hier bin. Weil es so lange gedauert hatte, weißt du.“
„Der kommt schon noch!“, hatte Jochen versichert.
Kurz vor neun war ich zu Hause, wo ich das Bad so gut wie leer räumte, um morgen die Decke weißen zu können.


Dienstag, 15. November 1988
- Donnerstag, 17. November 1988

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