Die Hoschköppe / 83. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 83. Kapitel

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Donnerstag, 17. November 1988


Heute wäre ich gern länger bei Jochen geblieben, denn Thomas war wieder da.
Nach der Arbeit war ich pünktlich bei mir zu Hause angekommen. Aus dem Keller hatte ich gleich den Farbroller und die Pinsel mit nach oben genommen, mich dann umgezogen und sofort mit dem Renovieren begonnen. Die geleimte Deckenfarbe war schnell streichfähig gerührt. Ich hatte sie weiß gelassen. Mit der Trittleiter war die Decke bequem zu erreichen und in kurzer Zeit fertig. Unter die Tapetenränder, die sich gelöst hatten, pinselte ich den eigens dafür angesetzten Tapetenkleister. Da ich keinen Schaden angerichtet hatte, konnte ich mich bald wieder umziehen und in die Kaufhalle gehen und von dort zu Jochen.
„Wo kommst du jetzt her?“ war dessen Begrüßung.
Diese bescheuerte Frage hielt ich nicht für beachtenswert, beschwerte mich stattdessen darüber, dass der Tisch schon wieder nicht gedeckt war. Jochen belegte mich aber mit derselben Frage. Vielleicht war er mit dem Rad vorbeigefahren und hatte das Licht in meiner Stube vermisst. Aber wozu hätte es brennen sollen, während ich im Bad weiß bekittelt auf der Leiter stand. Ich ahnte nicht, was sich Jochen wieder zusammengereimt hatte. Jedenfalls fragte er jetzt und ohne Umschweife, ob Thomas vorhin bei mir gewesen sei. Ich dachte nur, du kannst mir mal den Buckel runterrutschen und meinetwegen auch gleich wieder rauf. Ich ging auch auf diese Frage nicht ein. Vielmehr erzählte ich ihm, dass ich mit seiner Mutter telefoniert und ihn fürs Wochenende zum Essen angemeldet habe. Sie ließe ihm ausrichten, dass er sich vorher mit ihr darüber absprechen möchte. Das habe er schon, meinte Jochen schnippisch, denn sie habe gleich anschließend bei ihm angerufen. Daran schloss sich sofort die Frage an, ob Thomas nun da war oder nicht. Ich nahm den Brief von Kati zur Hand, der auf dem Tisch lag und anscheinend mit der heutigen Post gekommen war. Ich konnte ihn nur mühsam entziffern, sie hat eine fürchterliche Klaue. Sie machte uns verschiedene Vorwürfe. Alle mit dem gleichen Inhalt: keine Post von uns bekommen zu haben. Mit der Penetranz einer Scheißhausfliege war Jochen, während ich den Brief las, an die fünf- oder sechsmal auf seine Frage zurückgekommen. Ich fand das gar nicht mehr komisch. Ich schrie ihn an: „Geh mir mit dieser Frage vom Sack oder spielen wir hier ’ne Oper! Er war weder gestern noch heute da. Und nicht morgen und nicht übermorgen! Und wenn du nicht mit diesem blöden Gefrage aufhörst, dann gehe ich dahin zurück, von wo ich gekommen bin.“
„Dann antworte gefälligst gleich“, meinte Jochen gelassen und wurde während des Aufdeckens versöhnlich.
Ursprünglich hatte ich mich gleich nach dem Essen verdrücken wollen, um in meinem Bad weiterzumachen. Da aber im Dritten ein Film über Australien und dessen rezente Tierwelt gesendet werden sollte, entschloss ich mich, noch solange zu bleiben. Als ich dann um acht tatsächlich gehen wollte, klingelte es.
„Das wird Thomas sein“, sagte Jochen mit unvermuteter Gewissheit und schaute zu dessen Fenster hinüber. „So spät noch!“
„So‘n Scheiß, ich wollte gerade gehen“, sagte ich, während Jochen zur Tür schlich.
Geraume Zeit tat sich nichts. Das sind immer bange Minuten für mich, da ich in der Stube wie auf trockenen Disteln sitze. Jochen liebt es, seine Besucher solange wie irgend möglich im engen Korridor festzuhalten. Vielleicht hofft er, die Platzangst wird sie zwingen, wieder zu verschwinden. Oder es gibt Sachen zu klären oder zu erzählen, die nicht für die Ohren der breiten Öffentlichkeit, also mich, bestimmt sind. Als er dann endlich jemanden in die Stube brachte, war es Thomas, der sich durch nichts in seinem Redestrom unterbrechen ließ. Er schien sich mit seinem Vater überworfen zu haben. Und noch nicht mal seinetwegen, wie sich herausstellte. Es ging um seine Schwester. Diese Nacht werde er unter keinen Umständen zu Hause schlafen, kündigte Thomas an. Seine Erregung war ihm ins Gesicht geschrieben. Er werde zu seiner Schwester nach Groß Klein rüber gehen, die sei sowieso im Moment allein. Und zur Schule wolle er morgen auch nicht gehen. Er habe einen Krankenschein vom Augenarzt, den werde er abgeben.
Jochen schien über den Besuch nicht unglücklich zu sein. Er war plötzlich recht guter Stimmung und bot Thomas von dem Zitronenflip an, den er gestern zusammengerührt hatte. Auch ich hatte schon ein beträchtliches Glas davon ausgesüffelt, das jetzt bis obenhin leer vor mir auf dem Tisch stand. Er schmeckte vorzüglich und verführte wie eine Droge zu immer weiterem Genuss. Während Jochen im Korridor die Flasche aus dem Kühlschrank nahm, machte mir Thomas mit den Händen irgendwelche Zeichen, die ich nicht zu deuten vermochte. Auch die Worte, die er mit den Lippen formte, verstand ich nicht. Ich konnte nur mit den Schultern zucken und Thomas verständnislos anstarren. Um deutlicher zu werden, blieb dem aber keine Zeit. Als Thomas nach vielem Reden und fünfmaligem Ansetzen des Glases endlich den Zitronenflip kostete, zeigte auch er sich von dessen Geschmack beeindruckt und hell begeistert. Daraufhin beichtete er uns, dass er sich vor zwei Tagen eine Flasche Eierlikör gekauft habe, die jetzt im Schrank zwischen seinen Schulbüchern stehe, denn da werde sein Vater bestimmt nicht rein sehen. Er könne sie ja morgen Abend mitbringen, schlug er vor. Nur, morgen Abend werden wir beide nicht hier sein, dachte ich. Um viertel neun begann ein Film, den Thomas schon kannte. Wie aufgezogen erzählte er den Inhalt, setzte sich aber dennoch zu Jochen auf die Couch, um besser sehen zu können. Vor allem meinen Rücken. Dort gefiel es ihm nicht lange. Er setzte sich zurück in seinen Sessel. Und dann wieder auf die Couch. Endlich hatte das Agnus Dei sein Nest gefunden.
Um halb neun verabschiedete ich mich von beiden. Ich war im Korridor beim Anziehen, da hörte ich Thomas sagen: „Sonst sitzt er hier bestimmt bis zehn, und wenn ich hier bin, dann haut er gleich ab.“
„Da irrst du dich …“, hörte ich dann Jochen beginnen, den Rest verschluckte das Wohnzimmer.
Ich sah noch einmal ins Zimmer und begründete mein Gehen mit: „Tschüss Thomas, tut mir leid, ich wäre gerne noch hier geblieben, aber ich muss noch auf die Leiter.“
Jochen sah durch den Spion und ließ mich hinaus.
Zu Hause machte ich mich sofort über die grüne Farbe her, mit der ich die äußeren Ränder des unterhalb der Decke verlaufenden Mäanders nachziehen wollte. Der Mäander selbst ist weiß. Als ich aufgab, war es erst kurz nach zehn und hatte nicht mehr als zwei Meter geschafft. Aber welcher Weg lag noch vor mir! Schmerzhaft tauchten aus meiner Erinnerung die ersten Wochen in der neuen Wohnung auf, in denen ich in allen drei Räumen einen jeweils anderen Mäander anbrachte. Wie oft war ich die schmalstufige Trittleiter hinauf und hinunter gestiegen! Monate später tat mir noch immer die Schulter weh vom ständigen Hochhalten meines Pinsels. Ähnlich eines Gepards, bin auch ich nur auf kurzen Strecken gut. Damals hatte ich mir geschworen: nie wieder!
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass irgendwann gegen zehn Jochen auftauchen würde. Ich hatte förmlich darauf gewartet. Jedes Mal, wenn unten die Haustür klapperte, dachte ich, er ist es. Jochen kam aber nicht. Und das beunruhigte mich. Ob er Thomas angeboten hat, bei ihm zu übernachten, damit er nicht nach Groß Klein rüber braucht? Das heißt, wenn er tatsächlich nicht wieder nach Hause will. Thomas hat das Angebot doch nicht etwa angenommen? Vielleicht wird mich Jochen morgen nicht danach fragen, ob Thomas bei mir war.
Ich packte einige Sachen in die Reisetasche, die ich am Sonnabend mit nach Neustrelitz nehmen werde. Ich hatte heute auch mit meiner Schwester telefoniert. Für Papas Grab brauche ich nichts mitzubringen, sie hat schon alles besorgt. Und für Mutti auch nichts weiter, das mache sie schon. Nur etwas zum Naschen vielleicht.
Im Bett lag ich noch eine Weile wach. Als ich dann auf die Uhr sah, war es vier Minuten vor elf. Ich stand routinemäßig auf und ging ans Fenster. Draußen wehte ein leichter Wind, der dreckig graue Nebelschwaden breittrat. Ich legte mich wieder hin. Die Frage, wo Thomas jetzt ist, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich stand noch einmal auf. Ich hatte vergessen, den Wecker aufzuziehen.


Mittwoch, 16. November 1988 - Totensonntag, 20. November 1988

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