Die Hoschköppe / 84. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 84. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Totensonntag, 20. November 1988

Das Totenfeld erstarrt im Schlaf
als hätt der Herbst sich längst verkrochen
und der Winter wär schon ausgebrochen


Im Herbst war ich fortgefahren, im Winter bin ich heimgekehrt! So schnell und abrupt erfolgt mitunter ein Wechsel, dass wir zu träumen glauben. Als ich gestern Morgen nach Neustrelitz fuhr, war von dieser weißen Pracht noch nichts zu erahnen. Wenige Wetterfrösche mochten vielleicht eine gewisse Vorahnung gehabt haben, aber sicher nur eine ganz, ganz wage, nicht hinreichend, um selbst daran glauben zu können. Die Luft war klar, nicht zu kalt.
Um fünf hatte mich gestern Morgen der Radiowecker gerufen. Wie gerne wäre ich noch liegen geblieben. Während ich meinen schlaffen Körper ins Bad schaffte, um ihm dort wieder Leben einzuhauchen, bereitete Jochen mir das Frühstück zu. Ich hielt mich schwankend an dem braunen Waschbecken fest und plierte in den darüber hängenden Spiegel. „Sag mal, Schieter“, rief ich, „hast du irgendwas, womit du mich zum Weinen bringen kannst? Ich hab so volle Tränensäcke.“ Ich rang meinem Gegenüber ein verkrampftes Lächeln ab und versprach ihm, wenn es schon kein anderer tat, dann wolle wenigstens ich an ihn glauben.
Kaum eine Menschenseele begegnete mir auf dem Weg zur S-Bahn, kein Strom eilends dahin schreitender Menschen wie an den Wochentagen. Der Zug sechs Uhr siebenundzwanzig stand abfahrbereit am Bahnsteig elf des Hauptbahnhofs in Rostock. Ich ging an ihm entlang auf der Suche nach einer hübschen Reisegesellschaft. Der Zug war erst mäßig besetzt, überall waren noch genügend freie Plätze. Kurz vor dem Zugende fand ich dann etwas Passendes für mich, stieg ein und musste zu meinem Bedauern feststellen, dass der junge Mensch auf der Bank ihm gegenüber eine Zeitung ausgebreitet hatte, in der er andächtig zu lesen schien. Da der Wagen dummerweise fast leer war, hätte es wahrscheinlich mehr als aufdringlich gewirkt, wollte ich partout auf den Sitz bestehen, auf dem die Tagespresse lag. Ich musste wohl oder übel mit dem Platz schräg gegenüber, an der anderen Fensterseite des Wagens, vorlieb nehmen. Meine Jacke behielt ich vorerst an, hatte aber die Hoffnung, dass es wärmer werden würde, sobald der Zug ins Rollen käme. Der Zug war pünktlich angefahren, fuhr und fuhr unter Ächzen und Stöhnen, hatte Güstrow schon weit hinter sich gelassen und sämtliche Zeitungen waren längst durchgeblättert von meinem Nachbarn, der jetzt zusammengekauert auf seiner Bank lag und den Kopf notdürftig auf die zum Mittelgang zeigende Armlehne gebettet hatte, wärmer war es aber nicht geworden. Plötzlich sprang der Jüngling auf und verschwand durch die Schiebetür, neben der ich saß. Aha, dachte ich, seine Blase zwingt ihn, sich die Hose aufzuknöpfen. Er kam nach kurzer Zeit zurück, griff seine lasche Plastetüte, mehr Gepäck hatte er nicht mit, und verschwand erneut. Und endgültig, wie zu befürchten war. Schade, dachte ich. Es dauerte nicht lange und am anderen Ausgang ereignete sich Ähnliches. Der Herr, der es übernommen hatte, die dortige Schiebetür zu beaufsichtigen und sie nach jedem Schlenker des Zuges wieder zu schließen, verschwand ebenfalls in einen anderen Waggon. Das machte mich stutzig, denn die nächste Station war noch weit entfernt. Ich nahm meine Tasche und ging probehalber meinem Nachbarn hinterher, den ich gleich im nächsten Wagen und links von der Tür in molliger Wärme vorfand. Auch hier hatte er es sich gemütlich gemacht und schien keineswegs überrascht, mich zu sehen. Mit einem unverbindlichen Lächeln sagte er: „Da war es auch wirklich nicht auszuhalten.“ Dann schloss er wieder die Augen und überließ es mir, ihn in aller Ruhe weiter zu betrachten. Zielsicher hatte ich mir den Wagen ausgesucht, bei dem die Heizung defekte war, genauso wie ich mir in der Kaufhalle immer die Kasse aussuche, an der es am langsamsten vorangeht. In Neustrelitz verabschiedete ich mich von dem jungen Mann.
In der unfreundlichen Bahnhofshalle erwarb ich am Gepäckschalter einige Fahrscheine für den Stadtbus, mit dem ich bis zu meiner Schwester hinausfahren wollte. An der Bushaltestelle selbst und auch in deren unmittelbaren Umgebung war nirgends ein Schild oder ein anderer Hinweis zu entdecken, dem ich hätte entnehmen können, wann und mit welcher Buslinie ich zu meinem gewünschten Fahrziel gelangen sollte, erhielt aber eine freundliche Auskunft von einer wartenden Person, die ich daraufhin angesprochen hatte. Der nächste Bus, der kommen würde, sei der richtige. Mit hochgeschlagenem Kragen versuchte ich, der vormittäglichen Frische Trotz zu bieten. Die Zeit verging und noch immer gesellten sich neue Wartende hinzu. Endlich fuhr der Bus vor und alle Leute stiegen ein. Nur ich nicht und der Opa, der mich mit der Warnung, dass dieses noch nicht der richtige Bus sei, zurückgehalten hatte. Der andere komme aber auch gleich, versicherte er vertrauensvoll. Wir warteten und warteten. Es kamen keine Leute mehr und Busse auch nicht. Ein Mann in den Fünfzigern, der in dicke Arbeitssachen eingehüllt war und die Böschung hinter der Bushaltestelle zur Pflege übernommen hatte, von der er jetzt mittels einer Harke mehr und mehr Erde herunterkratzte, rief uns zu, dass wir ruhig hätten mitfahren können mit dem Bus, auch wenn vorne „Strelitz Alt“ dran gestanden habe, der hätte uns schon da hingebracht, wohin wir wollten, und vorläufig werde nun sowieso keiner mehr fahren. Etwas brummig ließ ich den Alten, der den gleichen Weg hatte, stehen und machte mich auf die Socken. Wäre ich vom Zug aus gleich zu Fuß gegangen, dann hätte ich schon längst vor einem heißen Glas Tee gesessen.
Als ich die fünfte Etage erklommen hatte, rührte mein Herzklopfen nicht nur vom Treppensteigen her. Schon während des Marsches hatte ich mich gefragt, wie mich wohl meine Schwester empfangen werde. Ich drückte beherzt auf den Klingelknopf und horchte. Sie kam zur Tür und öffnete sie. Alles war wie sonst. Sie hatte mich schon erwartet und strahlte nun, da sie ihren Bruder sah. Die Begrüßung ging aber diesmal ohne großes Zeremoniell vonstatten, da sie gerade beide Hände in Gehacktem stecken hatte, von dem sie sich erst befreien musste. Jetzt gab es wirklich den heiß ersehnten Tee und dazu frisch aufgebackene Brötchen. Wir waren in der warmen Küche sitzen geblieben. Edeltraud hatte sich einen Kaffee aufgebrüht und eine Zigarette angesteckt. Nun begann sie, zu erzählen. Ich war froh, vorerst zuhören zu dürfen. Mehrmals habe nachts der Notarzt zu Edwin kommen müssen, es sehe nicht gut aus. Der Arzt habe sie vor die Wahl gestellt: entweder Edwin oder Mutti. So ginge es jedenfalls nicht mehr weiter. Dann habe sie für Mutti die Einweisung nach Hohenlanke bekommen. Durch die Fürsprache des Arztes. Nervlich hätte sie es nicht mehr lange durchstehen können. Keine fünf Minuten habe sie Mutti allein lassen können, denn kaum sei sie mal für kurze Zeit rüber in die Kantine, hätte sich Mutti sofort ausgezogen, weil sie glaubte, ins Bett gehen zu müssen. Laufend habe sie eingemacht. In die Bonbonbüchse habe sie gepullert oder in irgendeinen Kochtopf. Den Nachttopf habe sie ins Waschbecken entleert. Alles sei dann mit Dreck beschmiert gewesen, nicht nur das Waschbecken, auch alle Türklinken. Immer wieder habe es was Neues gegeben und zuletzt habe sie nicht mehr alles vor Edwin verbergen können. Und trotzdem mache sie sich jetzt Vorwürfe und habe Gewissensbisse, sie fühle sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass Mutti im Heim sei. Zweimal in der Woche fahre sie hin, meist dienstags und sonnabends, und besorge das Nötigste: Saubermachen, Wäschetauschen und so weiter.
Ich versuchte ihr klarzumachen, dass sie kein schlechtes Gewissen haben brauche, denn die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen ließen es gar nicht immer zu, dass die Kinder ihre Eltern bis an deren Lebensende pflegen könnten, selbst wenn sie es wollten. In erster Linie aber wollte ich damit mein eigenes Gewissen beruhigen.
Dann stellten wir einen kleinen Zeitplan für meinen Besuch auf. Ohne jegliche Vorwarnung, ohne die kleinste Verlegenheitspause sagte sie dann: „Und wie geht es dir? Hat sich alles wieder beruhigt? Wie hast du dich nun entschieden? Thomas ist wohl doch noch ein bisschen zu jung, der kann doch noch gar nicht wissen, was er will.“
Ich fühlte mich wie nach dem Saunagang ins eiskalte Tauchbecken gestoßen. Mit einem Schlag hatte sie die Rede auf das Thema gebracht, mit dem sie sich schon sehr lange beschäftigt hatte, wie sich nachher herausstellte, und vor dem ich so viele Hemmungen ihr gegenüber gehabt hatte. Mich überraschte ihre Gelassenheit, mit der sie es ausgesprochen hatte. Sie wollte wissen, warum ich nicht schon viel früher damit zu ihr gekommen sei, ich hätte doch wissen müssen, dass sie nur so und nicht anders darauf reagieren würde. Das könne man eben vorher nicht so hundertprozentig wissen, sagte ich mit etwas Bauchschmerzen und unterstrich dies mit ein paar Beispielen aus meinem Bekanntenkreis. Sie habe sich das jedenfalls schon lange gedacht. Vor ihrer Reaktion habe ich nicht einmal solche Angst gehabt, schränkte ich ein, sondern vielmehr vor Edwins, er sei ja ein bisschen komisch. Aber auch der habe nichts Negatives dazu gesagt, versichert mir meine Schwester, auch wenn es stimme, dass er so seine Eigenarten habe. Genau gewusst habe sie es auch erst seit dem Artikel in der Wochenpost. „Wochenpost?“, fragte ich verdutzt, aber dann fiel mir ein, dass darin vor etlichen Jahren meine Leserzuschrift abgedruckt war. Ja, meinte sie, die sei ihnen zugespielt worden, denn selber hatten sie die Zeitung nicht. Ich war einigermaßen erschrocken. Ja, solche Leute würde es auch noch geben, stellte sie mit einem Seufzer fest. Ingrid in Fürstenwerder habe sie Edwin gegeben. Als sie auch mal in die Zeitung habe sehen wollen, da habe Edwin gemeint, es stehe nichts drin. Sie habe es aber doch getan und dann meine Zuschrift gefunden. Da stand es dann für sie fest. Edwin habe lediglich dazu gesagt: „Jeder lebt sein Leben.“ Unterhalten habe sie sich mit ihm aber noch nicht weiter darüber. Ich versicherte ihr, dass ich mich längst für Jochen entschieden hätte, dass eigentlich meine Beziehung zu ihm von Anfang an nicht und für keinen Moment infrage gestanden habe. Edeltraud interessierte sich sehr für Jochen und stellte eine Menge Fragen. Dann erzählte ich ihr, wie wir zu Thomas gekommen waren.
Ich war glücklich, so offen und frei mit meiner älteren Schwester über all diese Dinge reden zu können und machte mir nun selber Vorwürfe, dass ich nicht schon früher den Mut gefunden hatte, mich ihr zu öffnen. Jochen kam in jedem zweiten ihrer Sätze vor. Was sagt Jochen hierzu und was dazu! Plötzlich machte sich der Streuselkuchen in der Backröhre bemerkbar. Edeltraud sprang auf und rettete ihn gerade noch rechtzeitig. Sie hatte beim Erzählen ganz vergessen, dass sie ein Blech in der Röhre hatte.
Zum Mittagessen war auch Edwin da. Misstrauisch belauerte ich ihn und achtete auf jedes Wort und jede Geste, die sich zu früher unterschieden hätte, konnte aber in dessen Verhalten keine Änderung bemerken, die auf eine Ablehnung oder einen Vorwurf hätte hindeuten können. Ich schien hier der Einzige zu sein, der voller Unruhe war.
Nach dem Essen fuhr uns Edwin zum Bahnhof, wo Edeltraud und ich auf den Bus nach Hohenlanke warten wollten. In einem Kellerkiosk kauften wir noch rasch eine Tüte gemahlenen Kaffee zum Mitnehmen, denn jedes Mal sei der Kaffee alle, wenn sie hinkäme, meinte Edeltraud. Der Fahrschein kostete vierzig Pfennige, es würden also fünf Kilometer sein.
Die Haltestelle, an der wir ausstiegen, hieß nicht Hohenlanke. Sie lag in einer Kurve einer Chaussee, die wer weiß, wohin führte. Es waren in einiger Entfernung nur wenige Häuser zu sehen. Über einen sauber asphaltierten Weg, der bald von der Chaussee abbog und sich zwischen frisch umgebrochenen Äckern einen Hügel hinauf schlängelte, näherten wir uns einem grauen, zweistöckigen Gebäudekomplex, der in mehreren Etappen aneinandergebaut schien. Er war von zahlreichen Obstbäumen umstanden, an denen noch wie verloren und vergessen einige schöne Äpfel hingen, die nun wohl Frost bekommen hatten. Edeltraud erzählte, dass alles Obst zum Mosten gegeben war, denn die Alten mochten oder konnten die Äpfel so nicht essen. Wir hatten die Anhöhe erstiegen, auf dem das Heim steht, und blickten in eine hüglige Landschaft, in der sich Wald und Flur abwechselten. Bei schönem Wetter ließ es sich hier bestimmt gut spazieren. Wir näherten uns der Rückfront des Gebäudes. Es war niemand zu sehen, nur die verschlossenen Fenster blickten uns entgegen. Von irgendwoher waren helle Schreie zu hören.
Wir trugen uns ordnungsgemäß ins aufgeschlagene Besucherbuch ein: Name, zu wem, wann gekommen. Nach dem Besuchsgrund wurde nicht gefragt. Edeltraud hatte recht, viele Besucher verirrten sich nicht hierher. Fast ausschließlich ihr Name stand in der ersten Spalte, dazwischen mal ein oder zwei andere. Nur an den Rentenzahltagen sei mehr Betrieb, hatte Edeltraud gesagt. Dann kämen die lieben Angehörigen, um die Rente in Empfang zu nehmen. Viele hätten dann nicht einmal so viel Zeit, der Oma, dem Opa, der Mutter oder dem Vater, je nachdem, guten Tag zu sagen, da lohnte es nicht, sich erst noch lange ins Besucherbuch einzutragen. So sagten es die Schwestern, meinte Edeltraud. Sie führte mich eine Treppe hinauf, durch lange verwinkelte Flure, an still dasitzende Mütterchen vorbei, die uns neugierig oder hoffnungsvoll entgegen- und nachsahen und dankbar den Gruß erwiderten, bis vor die Tür, in deren Namensschild ein mit Schreibmaschine getippter Zettel steckte, der den Namen unserer Mutter und einer Zimmergenossin trug. Es war noch Mittagsruhe und die meisten Alten waren noch in ihren Zimmern. Ob ich Angst habe, fragte mich meine Schwester, bevor sie die Tür öffnete. Ich schüttelte den Kopf.
Vor dem ersten Bett stand eine mittelgroße, schwerfällig wirkende Oma, die sich zu uns umdrehte: Das war Oma Lübke. Unsere Mutter saß in einem Sessel vor dem geschlossenen Fenster. Der strenge Geruch im Zimmer war nicht stärker wie der in den Gängen. Wir begrüßten zuerst die Oma Lübke, anders wären wir nicht an ihr vorbeigekommen, gingen um den Tisch herum und begrüßten dann erst unsere Mutter. Sie freue sich so, dass wir sie auch mal besuchen kämen, sagte sie. Das war dann auch beinahe alles, was wir innerhalb unseres zweieinhalbstündigen Besuchs von ihr erfuhren. In sich zusammengekrochen, aber sehr aufrecht, saß Oma Gretchen da, so nannten sie ihre Enkel, und rührte sich nicht. Und da sie mich für Edwin hielt, sagte Edeltraud in einem künstlich heiteren Ton: „Das ist doch Friedemann, dein Sohn!“ – „Ach ja, Friedemann“, sprach Mutti ihr freudlos nach, ohne dass ihr irgendeine Erinnerung bei diesem Namen zu dämmern schien. Hätte Edeltraud ihr irgendeinen anderen Namen genannt, würde sie den genauso hilflos entgegengenommen haben. Es tat mir sehr weh, sehen zu müssen, dass ich nicht bis zu ihr vordringen konnte. Ich blieb einfach draußen. Möglich, dass von mir noch irgendwo in der finsteren Tiefe ihres Verstandes ein kleiner Rest verborgen lag, doch zu weit weg, als dass er auf die Schnelle greifbar wäre.
Wir hatten unsere Jacken in den Schrank gehängt. Edeltraud zog sich ihre Kittelschürze über und wischte das Wachstuch ab, das auf dem Tisch lag. Sie entnahm dem Schrank das leere Glas, in das ich den mitgebrachten Kaffee schüttete. Währenddessen Edeltraud Muttis Haare kämmte. Geduldig ließ Oma Gretchen es geschehen. Dann sammelte Edeltraud eine Handvoll langer weißer Haare von deren Strickjacke, die sie anschließend aus dem Fenster ausschüttelte. Ich hatte mich auf das Bett unserer Mutter gesetzt, von dem sich eine Wolke feinen Staubes erhob und im Sonnenschein zu tanzen begann. Das Zimmerchen bot Platz für zwei hintereinander stehende Betten, die beide die linke Wand einnahmen, dazu je ein Nachtschränkchen, an der Wand gegenüber das Waschbecken, daneben zwei Kleiderschränke, die die Köpfe zusammensteckten, und ein quadratischer Tisch, der nur vor den Betten Platz fand und zu dem drei kleine Sessel gehörten. Die Wände trugen schmuddelige Tapeten und einige Bilder. Der Fußbodenbelag wirkte in der Mitte des Zimmers, also um den Tisch herum, grob gefegt.
Meine Schwester bat die Mutter, kurz aufzustehen, sie wolle die Strümpfe neu befestigen. Das war ein Vorwand, um den Schlüpfer darauf kontrollieren zu können, ob er trocken sei. Edeltraud hatte mir erzählt, dass Mutti das Wasser nicht mehr so richtig halten könne. Hier im Heim stünde sie deswegen bei den alten Opas in keinem guten Ruf. Immer, wenn Mutti sich draußen im Flur blicken ließe, hätten die nichts weiter zu tun, als sie zu fragen, ob sie sich wieder eingepisst habe. Selbst hier waren die alten Leutchen zueinander so hässlich. Unsere Mutter saß die ganze Zeit kerzengerade in ihrem Sessel. Die Augen waren ihr sehr klein geworden, das Gesicht noch zerfurchter. Auf dem spitzen Kinn und über dem eingefallenen Mund wuchsen vereinzelte Borsten. Klein und leicht wie eine Puppe saß sie da, mit zusammengedrückten Knien. In der Rechten ihr Taschentuch knetend, blickte sie abwechselnd Edeltraud und mich an. Mal strich sie mit ihrer welken Hand über Edeltrauds Unterarm, wie man ein Kind beruhigt, das sich gestoßen hatte, mal legte sie ihre andere Hand auf mein Knie oder ergriff meine Hand. Ich hielt sie dann solange fest, bis es mir peinlich wurde. Körperlicher Kontakt war zwischen mir und meinen Eltern nicht mehr üblich gewesen, seit ich den Kinderschuhen entwachsen war. Außer, wenn ich ein paar gelangt bekam. Selbst herzliche Umarmungen waren uns fremd, Begrüßungen und Abschiede nur Sekundensache. Winken ja, aus größerem Abstand. Edeltraud ist da ganz anders.
Edeltraud redete von Gott und der Welt, versuchte, Mutti mit Fragen aus der Reserve zu locken. Die konnte aber mit den Fragen nichts anfangen, sagte nur nach Gutdünken Ja oder Nein und das es schön sei, dass wir sie auch mal besuchen gekommen seien. Edeltraud ging Kaffee aufbrühen, ich schnitt den Streuselkuchen auf und verteilte ihn auf die Teller. Oma Lübke, die auch einen Beitrag leisten wollte, kramte ihren hinübergeretteten Vorrat an alten Familienfotos hervor und zeigte mir ihren Mann in Wehrmachtsuniform, der einundvierzig auf der Heimfahrt aus Norwegen mit dem Schiff untergegangen sei, wie sie sagte. Jetzt hoffe sie immer auf Besuch ihrer Enkel, die sie hierher ins Heim gebracht hätten. Beim Erzählen waren ihr Tränen in die müden Augen gestiegen. Vielleicht würden sie ja bald mal kommen, versuchte Edeltraud sie zu trösten. Nacheinander schlurften dann zwei alte Damen ins Zimmer, um nur mal rein zu sehen, wie sie sagten. Die ältere von den beiden war fünfundneunzig. Oma Gretchen würde erst im Dezember neunundsiebzig werden. Sie wollten aber nicht stören. Die Besuchszeit zog sich furchtbar in die Länge. Edeltraud nahm Mutti bei der Hand und ging mit ihr zur Toilette. Die hatte zwar behauptet, sie brauche nicht, aber kaum war der Schlüpfer runter gezogen und sie auf die Brille gesetzt, plätscherte es auch schon im Becken, sagte Edeltraud anschließend. Kurz vor vier machten wir uns zum Gehen fertig, denn um vier wollte uns Edwin abholen. Edeltraud fragte die beiden Alten, was sie das nächste Mal mitbringen könne, worauf denn beide einmal Appetit hätten. Auf Oma Lübkes Seite wurde von kalten Buletten und Eierlikör geschwärmt, Oma Gretchen schwärmte nicht. Sie begann zu weinen und machte Anstalten, mitgehen zu wollen. Oma Lübke nahm sie beiseite und hielt sie solange zurück, bis Edeltraud und ich draußen waren. Ich mochte meiner Schwester nicht in die Augen sehen, denn auch sie stand in Tränen.
Auf dem Parkplatz unterhalb des Heimes warteten wir nur drei oder vier Minuten. Edwin war pünktlich. Er setzte uns in Neustrelitz am Markt ab, von wo aus wir zu Susanne und Wolfram gingen, um deren Baby anzusehen und Marmorkuchen zu essen, dessen Schwachstellen mit weißem Puderzucken kaschiert waren. Von dort fuhren wir mit dem Stadtbus zu Alex, wo ich das nächste Baby besichtigen musste. Den Kuchen ließen wir uns zwar für später einpacken, aber der für den Abend vorbereiteten Bowle sprach wir tüchtig zu, ohne uns erst lange bitten zu lassen. Das dritte Glas war noch süffiger als das erste. Das Zeug bewirkte die schnelle Rückkehr aller Lebensfreuden. Alex‘ Frau ließ es sich nicht nehmen, mich an mein Versprechen zu erinnern, ihr für die noch kahlen Wände ein paar abstrakte Bilder zu malen. Da ich guter Stimmung war, machte es mir nichts aus, mein Versprechen zu erneuern.
Als Edeltraud und ich noch einmal den Bus benutzen wollten, stiegen Susanne und Wolfram aus, die bei Alex eingeladen waren. Im Vorübergehen empfahlen wir ihnen die Bowle. Ihr Gang war vor lauter Heißhunger darauf schon recht schwankend, wie ich bemerkte. Oder war ich es selbst, der schwankte? Den Abend verbrachten wir, Edeltraud, Edwin und ich, bei einem Gläschen vor dem Fernseher. Zu erzählen gab es nun nicht mehr viel, Edeltraud und Edwin waren ohnehin bald die Augen zugefallen.
Nach einer von Sodbrennen geplagten Nacht stand ich heute Morgen mitten im Winter auf. Es hatte gestern schon ganz so ausgesehen, als wolle es schneien, und der geübte Beobachter hätte auch schon die ersten Versuchsschneeflocken leise rieseln sehen können. Soweit ich sehen konnte, war alles weiß überpudert oder wie über Nacht mit weißer Farbe angepinselt. Nach dem gemeinsamen Frühstück ging Edwin in den Garten, wo er die Kaninchen zu versorgen hatte, Edeltraud steuerte den Staubsauger durch die Wohnung. Danach gingen sie und ich unseren Vater besuchten. Wir waren eben an den zwei einzigen Wohnblöcken, die dort draußen im Wald stehen, vorüber, als uns ein brauner, langhaariger Hund auf kurzen Beinen die Straße hoch entgegengelaufen kam. Er war ganz augenscheinlich aus der kleinen Barackenranch gekommen, die im Wiesengrund links der Straße liegt. Kurz vor uns bog die kleine Töle mit Stolz erhobenem Haupt nach rechts in einen Waldweg ab. Im Maul schleppte er eine große weiße Flugente. Wahrscheinlich brachte er das liebe Federvieh schon für Weihnachten erst um die Ecke und nun beiseite.
Für einen Totensonntag nur sehr wenige Leute, dachte ich, als wir auf den Friedhof kamen. Unser Papa lag still und friedlich unter seiner Bepflanzung, auch die war jetzt weiß beschneit, und sah und hörte nichts mehr von der Welt über ihn. Da er zeit seines Lebens an keine andere glaubte, würde er wohl nichts Neues zu sehen bekommen. Edeltraud hatte ihn bereits vor einer Woche mit Tannengrün, Sträußen und Gestecken belegt. Alles hatte jetzt die gleiche Farbe. Es machte einen sehr aseptischen Eindruck. Nur unsere Fußspuren passten nicht in diese Ruhe. Bei dem andächtigen Verharren vor dem Grab war mir in meiner dünnen Jacke sehr schnell kalt geworden. Wir hielten uns deswegen nicht länger als nötig auf. Papa hatte bestimmt Verständnis dafür. Auf dem Rückweg machten wir einen Abstecher zum Garten, aber Edwin war nicht mehr dort.
Es gab Mittag und sehr früh Kaffee, weil ich zum Bahnhof wollte. Dort versprach die Lautsprecherstimme, dass der Zug in der Ankunft bestimmt nicht länger als dreißig bis vierzig Minuten Verspätung haben werde. Dieses Limit schöpfte er aber voll aus. Die Abteile waren zwar alle warm, dafür aber stink langweilig. Ich konnte getrost die Augen schließen. Vor mir saß meine Mutter kerzengerade in ihrem Sessel und knetete ihr Taschentuch. Öffnete ich hin und wieder die Augen und sah durchs Fenster hinaus auf die vorbeiziehenden Wiesen und Felder, dann hatte sich jedes Mal der Schnee noch vermehrt, als fahre ich nicht nur der Küste, sondern auch dem tiefsten Winter entgegen.
Auch die Lautsprecherstimme meines Zielbahnhofs hielt eine aktuelle Information für die Reisenden bereit. Aber erst als sich alle Reisenden aus dem Zug gedrängelt hatten. Denjenigen, die die S-Bahn in Richtung Warnemünde benutzen wollten und sich laut Fahrplan auf den Bahnsteig neun geschwungen hatten, empfahl sie die S-Bahn am Bahnsteig dreizehn, die in wenigen Minuten abzufahren gedenke. Alles hastete daraufhin dem engen Loch der Unterführung entgegen, um noch rechtzeitig hinüberzugelangen. Aber guter Wille und noch so große Eile genügen nicht immer: Die Bahn fuhr ohne uns. Die nächste Bahn sollte erst in zwanzig Minuten von Bahnsteig vierzehn fahren, so der Aushang. Da sie schon bereitgestellt war, freuten sich die gestressten Reisenden, nicht solange draußen in der Kälte stehen zu müssen. Als ich meinen Platz zehn Minuten lang angewärmt hatte, machte mich die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher darauf aufmerksam, dass die nächste S-Bahn in Richtung Warnemünde von Bahnsteig dreizehn abfahre. Auch das noch! Jeder langte nach seinem Gepäck und wankte nach draußen und in Richtung Bahnsteig dreizehn. Auf halbem Wege wurde die Durchsage wiederholt: „Die nächste Stadtbahn in Richtung Warnemünde fährt von Bahnsteig vierzehn!“ Alles blieb ruckartig und verdutzt stehen, stieß einen tiefen Seufzer aus, der den Schnee schmelzen ließ, und machte wieder kehrt. Na ja, dachte ich, vielleicht ist der alte Platz noch warm. Wieder eine Durchsage: „Ich berichtige! Die nächste Stadtbahn in Richtung Warnemünde fährt von Bahnsteig dreizehn.“ Nur die anderen Reisenden, die andere Züge benutzen wollten und weiter weg standen und diesen Vorgang interessiert beobachteten, lachten laut los.
Jochen hatte mich natürlich schon längst und mit Spannung erwartet und wollte sofort wissen, wie es gewesen war und was meine Schwester gesagt hatte. Ich richtete ihm ihre Grüße aus und erzählte. Es begeisterte ihn ungemein, dass er so gut bei meiner Schwester ankomme, und noch mehr, dass sie gesagt hatte, der Zug transportiere auch mehr als nur eine Person. Aber auch er hatte mir Grüße auszurichten. Einmal von Detlef K. und einmal von Raymond. Detlef war ihm gestern entgegengekommen, als er einen Brief an Kati in den Kasten werfen wollte. Der versuchte natürlich, ihn über mich und Thomas auszuhorchen. Jochen hatte lediglich zu ihm gesagt: „Was darüber zu erzählen ist, das kennst du doch bereits aus den Gedichten.“ Detlef war den ganzen Abend bei ihm gewesen. „Und Raymond ist mir nachgelaufen, als ich vom Bus nach Hause gehen wollte. Ich war bei meiner Mutter Mittag essen und Raymond hatte anscheinend im selben Bus gesessen. Der ist aber nicht mit reingekommen, sondern auch nach Hause gegangen. Na, wenn der nicht schwul ist“, hatte Jochen gemeint, „so, wie der sich bewegt. Mehr Besuch habe ich nicht gehabt“, betonte er.
Für einen Sonntag war es ungewöhnlich spät, als ich ihn heute Abend verließ und zu mir ging. Unterwegs dachte ich darüber nach, ob es wohl der Wahrheit entspricht, dass Thomas am Donnerstagabend um dreiviertel zehn, gleich nach dem Film, nach Hause oder sonst wohin gegangen war, wie Jochen erzählt hatte. Am Freitag hatte mich Jochen jedenfalls nicht danach gefragt, ob Thomas bei mir war, sondern nur, ob ich gut geschlafen habe. So, wie ich es mir gedacht hatte.


Donnerstag, 17. November 1988 - Dienstag, 22. November 1988

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt