Die Hoschköppe / 85. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 85. Kapitel

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Dienstag, 22. November 1988


Ich war hinreichend mit Pinsel und Farbe in meinem Bad künstlerisch umgegangen und hatte bereits die Schnauze voll davon, als ich um dreiviertel sechs zu Jochen kam. Diesen Umstand hatte ich ihm gegenüber aber nicht erwähnt. Dennoch wunderte ich mich, dass er schon bald nach dem Abendessen die Salbentube aus dem Bad holte und mich bat, ihm den Rücken einzureiben.
„Ich will noch nicht gehen! Heute habe ich Zeit, mein Pensum habe ich schon geschafft. Oder willst du mich loswerden? Du erwartest wohl noch Besuch!“, fragte ich.
„Ich erwarte keinen Besuch! Das ist nur, damit du es nicht vergisst“, erwiderte Jochen und fragte im Gegenzug und mit Nachdruck in der Stimme: „War Thomas gestern oder heute bei dir?“ Ich gab keine Antwort. „Ich glaube dir nicht, dass er nicht zu dir kommt! Was ich in den letzten vierzehn Tagen beobachtet habe, lässt darauf schließen“, Jochen schloss es jedenfalls daraus, „dass er abends nicht zu Hause ist, also bei dir sein muss. Sooft ich auch zu seinem Fenster hinüber sehe, es gibt nie eine Veränderung, erst morgens um vier.“
Opferte er Nacht für Nacht seinen wertvollen Schlaf, um Thomas‘ Fenster zu beobachten? „Was Thomas die Nacht über treibt, geht dir doch überhaupt nichts an!“, schimpfte ich.
„Wenn er es aber mit dir treibt, dann schon!“, behauptete Jochen nicht ganz zu unrecht.
Ärgerlich darüber, dass er mir immer wieder mit diesem abgestandenen Scheiß kam, und darüber, dass Thomas womöglich mit einem Anderen seine Nächte verbringt, sagte ich zu ihm: „Du kannst dir deinem Rücken selber einschmieren. … Kannst du mir einen vernünftigen Grund nennen, warum ich es nicht mit ihm machen darf?“, fragte ich ihn.
Jochen überlegte einen Moment und sagte dann: „Es wird dann wohl nicht nur bei einem einzigen Mal bleiben.“
„Zwischen dir und mir würde sich überhaupt nichts ändern“, versicherte ich.
„Ja, das sagst du jetzt“, zweifelte Jochen.
Ich fasste an meine Nase und gab ihm zu verstehen, er solle sich an seine fassen. Jochen bestand aber auf die Beantwortung seiner Frage, ansonsten könne ich jetzt gehen. Ich hatte nicht wirklich vor, zu gehen, stand aber auf und begab mich ins Bad, um meine Schuhe zu holen, die Mütze hatte ich mir schon aufgesetzt.
„Du gehst nicht!“, kommandierte Jochen.
Ich blieb.
Nach diesem Intermezzo klingelte es um sieben. Wie meist üblich ging der Hausherr selber nachsehen und schloss umsichtig hinter sich die Stubentür. Wieder blieb alles beunruhigend still. Nach einer Weile brachte er Thomas herein, der eine große Flasche Eierlikör in der Hand hielt. Die habe er uns doch versprochen, meinte er. Sie war nur noch halb voll. Selber mochte er aber davon nichts trinken, denn er könne das Zeug nicht mehr riechen. Ich habe den Verdacht, dass es genau die Flasche ist, die Jochen ihm für eine Klassenfahrt gekauft hatte. Jochen gab ihm dafür etwas anderes zu trinken, von dem Thomas dann während des Fernsehens mehrere Gläser hinunterschüttete. Unsere Gespräche waren bis neun Uhr zwei von ausgesprochen belangloser Natur geblieben, dann machte Thomas Anstalten, zu gehen. Er ließ sich von Jochen wieder die Haarschneidemaschine aushändigen, mit der er sich von seiner Mutter den Kopf bearbeiten lassen wollte. Aber statt zu gehen, legte er sich mit ausgebreiteten Armen bäuchlings auf die Liege, als wäre Christus vom buckligen Corcovado gestürzt, und begeisterte sich an deren wundervolle Breite. Dann wurde er unvermittelt still, hielt die Augen geschlossen und rührte sich nicht mehr.
Ich war mir nicht sicher, aber mir kam es so vor, als wartete Thomas darauf, dass ich endlich gehe. Jochen hatte ihn nämlich nebenher davon unterrichtet, dass ich früh gehen werde, da ich im Moment beim Malern sei. Ich war ja ohnehin schon ungewöhnlich lange geblieben. Ich bemächtigte mich der Salbentube und bedeutete Jochen, er möge seinen geschätzten Rücken freimachen. Nachdem ich drei gleich kleine Portionen der weißen Salbe gleichmäßig verrieben hatte, ging ich. Mit Zweifel und Ahnungen beladen.
Allein in meinem Bett liegend sprach ich ein kurzes Nachtgebet: „Komm, lieber Tod, und schlaf du mit mir!“



Totensonntag, 20. November 1988 - Mittwoch, 23. November 1988

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