Die Hoschköppe / 86. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 86. Kapitel

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Mittwoch, 23. November 1988


Wenn es nur darum gegangen wäre, die glatten Wände zu streichen, dann hätte es kaum anzufangen gelohnt, so schnell wäre ich damit fertig gewesen. Aber der dumme Mäander brauchte zu viel Zeit, sollte er ordentlich werden. Und hierin bin ich pedantisch. Heute war aber alles geschafft. Nun kann es in Ruhe trocknen, bevor ich morgen das Bad wieder einräumen werde. Ich hätte mir zwar Zeit lassen können, denn Jochen wollte erst später nach Hause kommen, und obwohl ich dennoch nicht gebummelt habe, war es unversehens zwanzig vor sieben geworden. Nun musste ich mich doch sputen, um noch vor Toresschluss in die Kaufhalle zu kommen, denn mein Schieter wollte Brause haben. Kurz vor halb acht kam er dann. Ich war gerade mit dem Essen fertig und hatte damit begonnen, für Jochen die Schnitten vorzubereiten. Es sei doch etwas später als geplant geworden, entschuldigte der sich. Er habe sich irgendjemandes 16-Bit-Rechner angesehen. Da es sich schon wieder abzuwaschen lohnte, tat ich es. Jochen schlich solange um mich herum, bis er seine Ungeduld nicht länger zügeln konnte. Doch dann platzte es endlich, wie aus einer überreifen Schote eines Springkrautes, aus ihm heraus: „Du fragst ja gar nichts!“ Vorher am Tisch hatte er verdächtigerweise lediglich von mir wissen wollen, ob ich in der Nacht gut geschlafen habe, was ich ihm bejahen konnte.
„Ich weiß doch, wie das nerven kann, wenn du aber das Bedürfnis hast, mir was sagen zu müssen, dann wirst du es schon noch tun.“
Ich tat so gleichgültig wie möglich. Natürlich brannte ich darauf, zu erfahren, wie der gestrige Abend ausgegangen war. Zurechtgesponnen hatte ich mir genug. Auch nach verräterischen Indizien, die mir als Bestätigung für meine Vermutungen hätten dienen können oder die neuen Fantasien Nahrung gegeben hätten, hatte ich geforscht, gleich, als ich gekommen war. Ich hatte aber nichts gefunden.
„Als du weg warst, habe ich mich gewaschen, und als ich dann ins Zimmer kam, hat er immer noch geschlafen“, erzählte Jochen.
„Der hat doch nicht geschlafen!“, unterbrach ihn ich.
„Doch! Er hat wirklich geschlafen. Ich habe ihn wach gemacht und dann haben wir uns noch eine dreiviertel Stunde unterhalten. Aber über nichts Bestimmtes. Er hat versprochen, morgen die Maschine wiederzubringen.“
„Es steht mir doch frei, zu denken, was ich will, es zu glauben oder nicht?“, fragte ich. Ich hatte mir was Aufregenderes ausgemalt.
„Selbstverständlich“, sagte Jochen großzügig. „Ich denke mir ja auch immer meinen Teil“, räumte er ohne Weiteres ein.
Ich weiß nicht, warum, aber ich glaubte ihm. Und damit war das Thema „Thomas“ für heute abgearbeitet.
Jochen nahm freiwillig das Geschirrtuch und begann abzutrocknen. Dabei beschwerte er sich über meine Art und Weise, das Geschirr in die dafür vorbehaltene Schüssel zu stapeln. Denn bei jedem Versuch, ihr ein Teil davon zu entnehmen, kam der Turm zu Babel gefährlich ins Wanken und drohte, auf den Fußboden zu stürzen.
„Ein besonders guter Baumeister bist du jedenfalls nicht, das muss ich dir mal sagen. Bei den alten Ägyptern hätten sie dir schon längst den Kopf abgeschlagen!“
„Danke!“
Bevor im Fernseher der zweite Teil von Cooks Reisen begann, hatte Jochen lange am offenen Fenster gestanden und in die Dunkelheit hinausgesehen. Was mochte in seinem Kopf und was in seinem Herzen vor sich gegangen sein? Was in mir vor sich geht, darüber habe ich heute ein neues Gedicht entworfen.


Dienstag, 22. November 1988 - Donnerstag, 24. November 1988

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