Die Hoschköppe / 18. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 18. Kapitel

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Dienstag, 16. August 1988


Gestern musste ich wieder zur Arbeit. Schrecklich! Der erste Arbeitstag nach unserem Urlaub war eine unvermeidbare Pflicht. Beim Anblick meines Arbeitsplatzes kam mir folgender Spruch in den Sinn: „Wenn mein Büro nicht so klein wäre, würde ich um meinen Schreibtisch einen großen Bogen machen.“ Ich schrieb ihn auf einen Zettel und pinnte den hinter meinem Bürostuhl zu den anderen an die Wand. Ich hatte meinen Namen unter diesen Satz gesetzt und mich so, sicher zur Freude meiner Chefin und in treuem Glauben, als dessen Autor bezeichnet. Natürlich hatte ich am ersten Tag noch nicht allzu viel getan, außer vom Urlaub zu erzählen. Wer hätte auch dafür sorgen sollen, denn die dicke Katze war nicht im Haus. Für die nächsten Tage wurde mir aber so einiges an Arbeit angedroht.
Völlig geschafft vom Rumsitzen und Nichtstun unternahm ich nach Feierabend eine vergebliche Spritztour mit dem Fahrrad zum Strand. Ich hoffe immer auf Abenteuer und habe beständig große Angst, etwas zu verpassen. Erst danach bin ich zu Jochen gegangen, der schon voller Ungeduld der neuesten Nachrichten wegen wartete.
„Zuerst muss ich dir die schlechte Nachricht mitteilen“, meinte der. „Ich habe gestern zu Thomas gesagt, dass ich bei seiner Tante in Dänemark anrufen will. Thomas fiel entsetzt die Kinnlade runter und wurde immer blasser. Er war sehr aufgebracht. Dummerweise hatte ich ihm den Brief ausgehändigt, in dem unten die Telefonnummer seiner Tante steht. Die hat er dann voller Panik abgerissen.“
Wie bereits zu sehen war. Jochen war der Meinung, dass die Nummer sowieso nicht stimmen könne, denn die Vorwahlnummer hätte ganz anders anfangen müssen, soviel habe er bereits herausgefunden. Er habe aber gar nicht wirklich anrufen wollen, denn dazu hätte er erst zur Post gehen und sie dort lange und umständlich anmelden müssen.
Ich warf ihm abermals taktisches Versagen vor und wiederholte: „Du sollst doch nicht versuchen, ihn zu überprüfen. Damit zwingst du Thomas nur, sich immer tiefer zu verstricken. Angenommen, er hat anfangs, um zu imponieren, etwas dick aufgetragen. Jetzt versuchst du, ihn als Lügner zu entlarven. Genauso ist das mit dem Pferd bei seiner Oma. Wozu müssen wir da unbedingt hinfahren? Du bringst ihn damit nur noch mehr in Verlegenheit.“
Jochen räumte ein, einen Fehler gemacht zu haben, aber dann platzte er endlich mit der „guten“ Nachricht heraus: „Ich habe Thomas in den Haaren gekrault. … Am Hinterkopf!“
So, so, dachte ich. Das ist ja schrecklich!
„Aufs Knie habe ich ihn gefasst. Und den oberen Hemdknopf hat er sich auch aufknöpfen lassen, ohne sich zu sträuben.“ Jochens Augen begannen wie Spiegelsplitter zu funkeln, als scheine von irgendwo ein Licht hinein.
Meine Innereien durchfuhr ein ängstlicher Schauer. Ich bedachte neidisch, dass es vom oberen bis zum unteren Hemdknopf kein allzu weiter Weg war, und fragte vorsichtig: „Wann ist denn Thomas gekommen und wann wieder gegangen?“
„Gleich nach meinem Winken und dann noch einmal um halb elf.“
„So spät noch!“ staunte ich, es hätte mir fast die Sprache verschlagen. „Da hast du aber lange auf deinen Schlaf verzichtet, der dir sonst so heiligen ist. Und das freiwillig! Da war wohl keine Müdigkeit?“
„Heute Abend gehen wir dafür auch mit zu dir“, kündigte Jochen versöhnend an.
„So?“, war alles, womit ich meine heimliche Freude auszudrücken wusste. Dabei hätte ich besser an das ungemachte Bett denken sollen, das auf uns warten würde.
Noch während des Abendbrotessens gab Jochen das zwischen beiden vereinbarte Zeichen, welches Thomas anzeigen sollte, dass er jetzt rüber kommen könne, wenn er wolle. Dieses Zeichen war so raffiniert wie einfach. Nie wieder wird man Jochen wild gestikulierend am offenen Fenster stehen sehen, was vielleicht schon zu Spekulationen hinsichtlich seines geistigen Befindens geführt haben mochte. Er brauchte nur noch das Rollo halb herunterzuziehen und es gleich wieder nach oben schnellen zu lassen. Dieser Vorgang sollte gegebenenfalls wiederholt werden, wenn sich nach dem ersten Mal kein Erfolg eingestellt hatte. Darüber, wie sie bei ungünstigen Witterungsbedingungen, wie Nebel oder Schneetreiben zum Beispiel, verfahren wollten, wurden meines Wissen nach noch keine Vereinbarungen getroffen.
Als es dann erwartungsgemäß klingelte, geriet meine Gabel auf dem Weg zum Munde dennoch ins Stocken. Nach dem Essen saßen wir noch geraume Zeit vor dem Fernseher. Ich im Sessel, die beiden anderen dicht nebeneinander auf der Couch. Ganz verbissen starrte ich auf den Bildschirm, um auf dessen gewölbter Glasfläche das Treiben der beiden hinter meinem Rücken zu beobachten. Es war aber auf dem flackernden Bild nicht viel zu erkennen. Nur so viel hatte ich mitbekommen, dass Jochen seinen Arm hinter Thomas auf die Rückenlehne gelegt hatte. Ich befürchtete, er kraule Thomas schon wieder den hübschen Hinterkopf. Bei Gelegenheit muss ich Jochen unbedingt sagen, dass er solches und ähnliches Treiben in meinem Beisein, und noch dazu hinterrücks, bitte unterlassen möchte. Sonst stehe ich bald in Thomas‘ Augen ganz und gar als Trottel da. Wie mag sich dessen Hinterkopf wohl anfühlen?
Nachdem wir uns endlich zum Gehen entschlossen hatten und die Treppe runter stiegen, stießen wir ausgerechnet wieder auf den langen Schwarzen aus der Wohnung unter, der sich nicht verkneifen konnte, blöd zu kucken. Die mitgenommene Rolle Altpapier, die sich bei der Renovierung von Jochens Wohnung so wunderbar bewährt hatte, stellte ich in mein Kellerloch und entnahm dafür zwei Flaschen von dem selbst gemachten Roten. Bei Radiomusik und flacher Unterhaltung wurden sie in aller Gemütlichkeit ausgepichelt. Zwischendurch war ich aus meinem Sessel aufgestanden, um eine Pflanze von der Anbauwand zu nehmen, die mir als im Wege stehend erschien, und sagte plötzlich zu Thomas: „So und jetzt bist du dran, Thomas.“
Dieser sprang sofort auf, als stünde ich mit einem Hackebeilchen hinter ihm, und eilte, aber nicht in aller Ernsthaftigkeit, in Richtung Ausgang, wo er hinter dem Kleiderschrank abwartend Deckung nahm. Ich versicherte ihm, dass keinerlei Gefahr bestünde und er also keinen Grund zur Besorgnis haben brauche. Es gehe ihm weder an den Kragen noch an die Hose. Ich wolle ihm lediglich einige meiner Werke vorstellen, was ich ihm ja in der Kunsthalle schon angedroht hatte. Thomas besah sich die Bilder mit gut gespieltem Interesse und gab dann sein Urteil über sie ab, welches sich durchaus auch positiv auslegen ließe. Danach bot ich ihm das Buch „Schwul, na und“ zum Lesen an.
„Wozu soll ich das lesen?“, hatte er gefragt.
„Vielleicht beantwortet es dir noch einige offene Fragen.“
„Das Buch brauche ich nicht, ich habe euch und das genügt mir.“
Er nahm das Buch aber doch zur Hand, um es flüchtig durchzublättern und bei den Bildern gerade so lange zu verweilen, um sie zu speichern, aber nicht zu lange, was sein Interesse hätte verraten können.
An diesem Abend wurde zwar über dies und das geschwafelt, Gott und die Welt waren aber kein Thema. Schließlich kamen wir auf Träume zu sprechen. Thomas erzählte uns einen Traum, den er bereits vor vielen Jahren geträumt hatte, an den er sich aber noch ziemlich genau erinnern könne.
„Ich sitze zusammen mit meinen Eltern, den beiden Schwestern und meinem Bruder beim Abendessen. Mein Bruder steht vom Tisch auf, um sich angeblich aus seinem Zimmer ein Taschentuch zu holen. Es vergeht eine ganze Zeit, ohne dass er zurückkommt. Meine Mutter macht sich Sorgen und geht nachsehen. Auch sie kommt nicht zurück. So verlassen alle nach und nach den Tisch, bis ich alleine zurückbleibe. Endlich kommt mein Bruder wieder und setzt sich neben mich. Ich frage ihn, wo die anderen bleiben. Er sagt, sie würden alle im großen Zimmer Sachen wegräumen. Jetzt?, fragte ich ihn. Ich konnte das gar nicht glauben. Wir essen beide weiter. Plötzlich sticht mir mein Bruder mit einem Messer durch die Hand. Mittendurch, so ohne was, ganz einfach. Ich war verwundert und erstaunt, aber ganz ohne Schmerzen zu verspüren. Ich frage ihn, was machst du da? Du hast mir das Messer durch die Hand gestoßen! Ich blute und das Blut läuft über meine Stulle. Ich will ins Bad, aber dort wartet er vor der Tür mit einem langen Messer in der Hand, das er mir vorhält. Ich laufe direkt hinein. Ich laufe in das vorgehaltene Messer hinein! So ein langes, spitzes mit schwarzem Schaft. Mein Bruder grinst mich an. Was ist mit dir? Du hast mich umgebracht!, schreit es aus mir. Wieder läuft Blut ohne Schmerzen. Ich habe nichts gespürt, versteht ihr das, nichts, gar nichts. Als ich dann ins große Zimmer kam, fand ich die anderen. Sie lagen gefesselt auf dem Fußboden. Alle tot. Du hast sie umgebracht, du hast sie alle umgebracht. Daneben lagen Säcke, braune Säcke, wie der Schrank so ungefähr, und in die haben wir sie dann hineingesteckt. Ich habe ihm dabei geholfen, könnt ihr euch das vorstellen, ich habe ihm geholfen, ich. Dann haben wir sie aus dem Fenster geworfen. Sie fielen unten in die Sträucher. Mein Bruder meinte nur, hoffentlich finden die Kinder sie nicht beim Spielen. Es war ganz furchtbar, ich bin schweißüberströmt aufgewacht. Meinen Eltern habe ich nie davon erzählt. Einmal habe ich versucht, es meinem Bruder zu erzählen, der sagte nur, hör auf, hör auf und lief in sein Zimmer.“
Viertel vor 10 sind beide abgehauen. Ob Thomas noch mit zu Jochen gegangen ist?


Montag, 15. August 1988 - Mittwoch, 17. August 1988

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