Die Hoschköppe / 17. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 17. Kapitel

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Montag, 15. August 1988


Gegen 19.15 Uhr ging ich zu mir nach Hause. Bis dahin hatte sich Thomas nicht blicken lassen. Jochen wollte darum gleich nach meinem Weggehen versuchen, diesen Quadratschelm herüberzuwinken.
„Wenn er kommt, dann sagst du zu Thomas, dass ich bis jetzt auf ihn gewartet habe“, hatte ich beim Abschied Jochen gebeten.
Zu Hause angekommen schleifte ich den faulen Staubsauger durch die Wohnung und machte selbst den Eindruck, als würde ich sauber machen. Nachdem der Lärm zum Fenster hinaus verklungen war, setzte ich mich in aller Ruhe hin und schrieb zwei sehr schöne Briefe. Einen an meinen Freund Peter in Prenzlau und den anderen an Freund Helmut in Werdau. Beides gestandene Familienväter. Der Erstere wusste Bescheid, der Zweite nicht.
Während unseres Urlaubs in Jevany war mein Tagebuch in Rostock geblieben, ich wollte unliebsamen Fragen aus dem Wege gehen. Darum sollen hier noch ein paar Erinnerungen festhalten werden, bevor sie für immer verloren gehen, was zwar nicht anzunehmen ist, aber wer weiß, ob sich später noch eine Gelegenheit ergibt, darauf zurückzukommen.
Dieser Text möchte nicht unbedingt zum Erwandern der Landschaft um Jevany und das Kennenlernen neuer oder vielmehr alter Städte anregen, wie Kostelec oder Kolin, die ohne Frage voller Reize sind, besonders der rekonstruierte Markt in Kolin. Ich beschränke mich auf meine Spaziergänge mit Jochen, die wir meist nach dem Abendessen alleine durch den Wald unternommen haben, und den kleinen Zigeunerjungen, auf den wir in Kolin stießen.
Es ist nicht immer leicht, wenn fünf Personen zusammen Urlaub machen, seine eigenen Wege zu gehen. Wir beiden Männer konnten uns unmöglich dauernd von den drei Frauen abseilen, auch wenn sie es vielleicht verstanden hätten. Umsorgen ließen wir uns schließlich ganz gern. Wir unternahmen Fahrten oder Wanderungen, wo alle Fünf beisammen waren oder zumindest Kati bei uns war. Es hatte natürlich auch in der großen Gruppe viel Spaß gegeben. Am schönsten war es aber, wenn ich mit Jochen allein sein konnte. Und das genossen wir auf unseren abendlichen Spaziergängen, wenn wir von den Waldwegen abwichen und über das weiche Gras schritten, das sich wie langes Haar auf den Waldboden gelegt hatte. Nur höchst selten trafen wir dabei auf einen Pilze sammelnden Jungen oder ein altes Mütterchen, das einer ähnlichen Beschäftigung nachging. Unser Bemühen, Pilze zu finden, hatte ebenso wenig Erfolg wie mein Fischzug im See. Was wir beiden Verschwörer fanden, waren vereinzelte Blaubeeren, die vergessen oder übersehen an sehr kleinen Büschen hingen. Sie reichten kaum, uns die Lippen und die Zunge zu färben. Dann schon eher die Brombeeren. Aber wir waren nie zum Jagen und Sammeln in den Wald gegangen! Wir wollten nur allein sein, uns unter den Kiefern bei den Händen fassen, umarmen und küssen und, wenn weit und breit niemand zu sehen war, den Hosenschlitz aufmachen und hinein fassen. Dann hörten wir weder die alten Tannen noch Kiefern rauschen und sahen weder Rehe noch Hasen. Wenn wir dann gut gelaunt ins Quartier zurückkamen, fragte kaum jemand danach, wo wir gewesen waren.
Den großen Marktplatz in Kolin, auf den aus allen vier Himmelsrichtungen hübsch bemalte Giebel hinunterschauen, lernten wir kennen, als wir zu fünft eines Tages des Einkaufens wegen dorthin gefahren waren. Jochen und ich waren mit unserem Geschäftsbummel rasch fertig und widmeten uns bald mit Vergnügen einem weit besseren Zeitvertreib: Wir beobachteten. In erster Linie natürlich hübsche Jungs, die allenthalben vorübergingen. Solange es noch genug Läden gab, waren wir auch vor Kati, ihrer Mutter und Nati sicher. Bald trat ein kleiner Zigeuner in unseren Gesichtskreis, denn ein Zigeuner musste es wohl sein. Ihn zeichnete nicht nur außergewöhnliche Schönheit aus, sondern auch die außerordentliche Fülle seiner Turnhose. Seine schwarz gelockten Haare und der dunkelbraune Körper glänzten in der stechenden Sonne. Er trug weder Schuhe noch Hemd, nur die kurze Turnhose. Wir waren von der Mitte des Platzes gekommen, wo ein Brunnen Wasser spendet. Der Platz senkt sich in Richtung Rathaus, vor dem sich der Kleine herumtrieb. Wir hielten uns etwas abseits und betrachteten ihn. Gerade so, wie wir zuvor auch das Rathaus betrachtet und bewundert hatten. Der Junge war, im Gegensatz zu dem alten Gemäuer, wesentlich lebendiger. Er lief hier hin und dort hin, lächelte, als er uns bemerkte, und schien mit irgendjemanden, von dem wir noch nichts wussten, zu spielen oder auf irgendjemanden oder auf irgendetwas zu warten. Wir machten uns einen Spaß daraus, ihm zu folgten, als er von vom Platz weg erst in die eine und dann in eine andere Straße lief, aber immer zum Rathaus zurückkehrte. Ihm war unsere Verfolgungsjagd natürlich nicht verborgen geblieben. Er schien darüber nicht böse zu sein, vielleicht schmeichelte es ihm, dass sich zwei fremde Männer für ihn interessierten. Er machte es uns nicht schwer, ihm auf den Fersen zu bleiben, denn mit Leichtigkeit hätte er uns abschütteln können. Wie überreife Birnen wären wir beide bereits beim ersten Antippen vom Baum gefallen. Er kannte sich doch aus in allen Winkeln seiner Stadt. Nach und nach begriffen wir, dass wir es selbst waren, mit denen er spielte. Immer wieder presste er seine rechte oder linke Hand auf die Wölbung seiner Turnhose und sah uns dabei mit einem verschmitzten Lächeln auf seinen dunklen Lippen an. Dieser kleine Schlingel wusste ganz genau, was Sache war. Wurde es wirklich mehr in seiner Hose oder betrog uns der schöne Schein? Das Spiel hatte ein Ende, als er seinen Vater erblickte und dann mit dem davonging, nicht ohne sich ein letztes Mal umzudrehen und uns aus der Ferne zuzulachen. Jochen und ich gingen zum Brunnen zurück und warteten auf die drei Frauen.



Sonntag, 14. August 1988 - Dienstag, 16. August 1988

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