Die Hoschköppe / 16. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 16. Kapitel

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Sonntag, 14. August 1988


Heute Morgen sagte Jochen bei unserem Sonntagsfrühstück, einer plötzlichen Eingebung folgend: „Vielleicht ist Thomas ein Außerirdischer.“
„Wieso das denn? Weil er so klein und niedlich ist?“
„Einer von denen, die den Auftrag haben, für eine neue, vielleicht bessere Welt Menschen auszuwählen, die es wert sind, hinübergerettet zu werden. Und dabei ist er nun mal auf uns beide verfallen.“
„Na ja“, sagte ich, „warum sollen nicht auch ein paar Schwule gerettet werden? Weißt du, das erinnert mich an einen utopischen Roman.“
„Den kenne ich aber nicht.“
Den Nachmittag wollten wir am Strand verbringen. Schließlich konnten wir nicht bei dem schönen Wetter den ganzen lieben langen Tag in der Bude hocken und darauf warten, dass es einem Thomas irgendwann einfallen könnte, uns mit seiner verehrten Anwesenheit zu beglücken. Wir hatten zu diesem Zweck gerade unsere Räder zur Hintertür hinaus geschoben, die auch Thomas immer benutzte, wenn sie offen war, als er angeschlendert kam.
„Ich wollte zu euch!“, stellte er mit Bestimmtheit klar, denn er sah ja, dass wir vorhatten, wegzufahren, wohl in der Hoffnung, wir würden freudestrahlend und auf der Stelle die Räder wieder in den Keller zurückschieben.
„Komm doch mit zum Strand, es ist so herrliches Wetter“, baten wir ihn.
„Ach, dann fahre ich eben nach Warnemünde, da fahre ich immer hin, wenn ich Langeweile habe“, meinte er trotzig.
Hatte er wirklich gedacht, wir machen kehrt und setzten uns mit ihm in die Stube? Warum wollte er nie mit an den Strand kommen? Ein bisschen Sonne wird auch ihm nicht schaden. Ich hätte ihn zu gern einmal nackt gesehen, aber das ist es wohl, was er nicht will. Mit Badehose wäre auch gegangen.
Ich muss wieder an den Jungen in der blauen Turnhose denken, den wir in Jevany am Wasser gesehen hatten. Jevany liegt ein angestauter See zu Füßen, in dessen grüner Brühe (bei mir zu Hause wurde früher dazu gesagt: Das Wasser blüht) mächtige Karpfen schwammen. Ich hatte sogar versucht, einen davon zu fangen, weil sie so zahlreich und dicht ans Ufer kamen und es so kinderleicht aussah. Die Fische lachten natürlich nur über so viel Selbstüberschätzung. Aber es soll von dem Jungen erzählt werden und nicht von den glotzäugigen Schlammwühlern! Jochen und ich waren vor der unbarmherzigen Sonne in den Schatten eines Baumes geflüchtet, denn es war nicht mehr auszuhalten gewesen. Was war das eigentlich für ein Baum? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Der größte Teil der bis an den Schilfgürtel heranreichenden Wiese war mit irgendwelchen Unterlagen bedeckt, auf denen ganze Familien dahin dösten, einträchtig nebeneinanderliegend. Nur die Kinder vergnügten sich weit hörbar im Wasser, dessen Qualität sie kaum zur Kenntnis nahmen. Wenige Meter neben uns hatte dieser Junge vor einer Gartenmauer seine Decke ausgebreitet. Er saß darauf, ebenfalls von Bäumen beschattet, und hantierte an einem großen Motorboot aus Plaste herum, dessen Einzelteile er auf seinem Schoß und der Decke verteilt hatte. Der Rumpf des Bootes war rot, die Aufbauten waren weiß. Er hatte es auseinandergenommen, um neue Batterien einzusetzen. Wir beobachteten ihn dabei. Er war sehr hübsch und mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Dass wir uns keineswegs für das tolle Bootsmodell interessierten, hatte er recht bald mitbekommen, darin sind die Jungs auf der ganzen Welt gleich erfahren. Es war aufregend zu sehen, wie er sich präsentierte. Plötzlich war er aber aufgesprungen und an uns vorbeigelaufen. Überwältigt und um Fassung ringen ob des gebotenen Schauspiels, sahen wir ihm mit offenem Mund nach. Sein langer steifer Schwanz, den er vorher unter dem Rumpf des Bootes verborgen hatte und nun in seiner Turnhose hin und her schlackerte, war ganz offensichtlich beim Laufen hinderlich. Er hatte seine Mutter und sein Brüderchen kommen gesehen, denen er nun entgegeneilte. Wir staunten über so viel Unbekümmertheit. So gut trafen wir es leider kein zweites Mal. Er war in der Folgezeit nie wieder allein und wir auch nicht. Die Hütte, in der er mit seiner Familie Urlaub machte, das hatten wir herausgefunden, stand unweit unseres Quartierobjekts.



Sonnabend, 13. August 1988 - Montag, 15. August 1988

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