Die Hoschköppe / 15. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 15. Kapitel

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Sonnabend, 13. August 1988


Bin in der Nacht um 2 Uhr aufgewacht. Mein internes Warnsystem hatte erhöhten Druck in der Blase gemeldet. Nach dem Gang zum Klo und ans Fenster lag ich noch lange Zeit wach. Während ich mich in meinem Bett hin und her wälzte, schlief Jochen den Schlaf der Gerechten, als hätte er nie kummerbeladen in seiner Sofaecke vor sich hin geheult. Ab und an war aus seiner Richtung ein deutliches Schnorcheln zu vernehmen. Ich schaltete die kleine Lampe über meinem Kopf an, stand noch einmal auf, holte Papier und Kugelschreiber, zog den Couchtisch etwas dichter und fing an, auf der Bettkante sitzend, zu schreiben. Nach einer Stunde schob ich den Tisch zurück und legte mich wieder hin. Das letzte Mal sah ich um 4 auf die Uhr, um dann in einen unruhigen Schlummer hinab zu gleiten und dem Sonnabendmorgen entgegen zu dämmern.
Kurz nach 7 stand ich dann auf. Jochen war schon längst beim Wäschesortieren und verbreitete damit eine schwelende Unrast im Zimmer, die mich am Weiterschlafen gehindert hatte. Trotz der halb durchwachten Nacht war ich nicht sonderlich müde.
Thomas, der uns gedanklich Tag und Nacht beschäftigt, war auch beim Frühstück wieder unser Thema Nr. 1. Wenn er im Stillen vielleicht gewünscht hatte, dass ich abhauen möge, weil er mit Jochen allein sein wollte, mit dieser Auswirkung hatte er gewiss nicht gerechnet.
Jochen war den ganzen Vormittag mit unserer Wäsche beschäftigt, ich mit der Zubereitung des Mittagessens. Es sollte Rouladen geben. Zu beschreiben, wie ich dabei vorzugehen pflege, bedarf es an dieser Stelle keiner Worte, dafür gibt es Fachbücher. Zwischendurch war Jochen in der Kaufhalle. Als er dort bäuchlings über dem angerosteten Rand einer Kühltruhe lag, Kopf und Schultern waren untergetaucht, habe ihn jemand von hinten angetippt, erzählte er nachher. Es war keine Aufsicht habende Kollegin vom Personal, die ihn als vermeintliche Hygienebremse zur Ordnung rufen wollte, nein, es war Thomas. Der hatte die Gelegenheit wahrgenommen, um ihn unauffällig zu grüßen, denn er war unter Aufsicht seines Bruders dort. Jochen meinte, auch der sehe gut aus.
Auch mittags sprachen wir beim Essen und Abwaschen wieder über Thomas. Uns fällt eben in letzter Zeit nichts Besseres ein, als immer und immer wieder über ihn zu reden, wobei wir beide der einhelligen Meinung sind, dass es wirklich nichts Besseres gibt. Wir tun es aber nicht nach Frauenart, mit vollen Einkaufskörben vor der Haustür stehend. Thomas saß an seinem Fenster. Ab und zu tauchte an seiner Seite eine Mädchengestalt auf. Durchs Fernglas war es deutlich sehen. Vielleicht seine Schwester. Jochen winkte hinüber und bedeutete Thomas, als der allein zu sehen war, er möge doch bitte rüberkommen. Jochen hatte vorgeschlagen, in die Kunsthalle zu gehen und Thomas mitzunehmen, wenn der Lust dazu habe. Thomas hatte den Wink richtig gedeutet und malte mit der Hand irgendwas ins Karree des geöffneten Fensters. Ich stand hinten im Zimmer und versuchte, das Monokular am Auge, heraus zu bekommen, was er wohl meinen könne. Jochen zuckte sehr übertrieben mit den Schultern. Thomas wiederholte. Es war ein großes „F“, das er in die Luft malte. Dann zeigte er mit dem Finger zu uns herüber, womit er wohl fragen wollte, ob auch ich anwesend sei. Jochen nickte mit dem Kopf. Thomas verstand auch das und schüttelte seinen. Daraufhin schloss Jochen gekränkt das Fenster und zog die Gardine zu. Thomas auch. Mir versetzte es einen gewaltigen Stoß mitten vor die Brust, dass mich Thomas doch ablehnt. Merkt er denn nicht, dass ich ihn sehr mag, dass er sich meinetwegen nicht fürchten muss?
Wir saßen beide bedeppert da und überlegten, was wir mit dem Nachmittag anfangen sollten. Ich war für Radfahren. Plötzlich klingelte es. Ich schrak zusammen und bekam sofort Herzklopfen, wie immer, wenn es klingelt. Warum das so ist, weiß ich nicht. Wovor sollte ich Angst habe? Vielleicht vor der Versicherungsfrau oder Jochens Chef, der im Nebenaufgang wohnt, oder wer da sonst gerade kommen mochte? Jochen ging öffnen, aber nicht ohne hinter sich die Stubentür zu schließen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder geöffnet wurde und Thomas ins Zimmer trat. Ich war beim Schreiben und tat dies nun besonders konzentriert. Wenn jemand was von mir will, dann wird der sich schon melden, dachte ich. Sollten die beiden anderen erst mal miteinander klarkommen.
Ohne Umschweife erzählte Thomas, dass Raymond gestern Abend bei ihm gewesen sei. Der habe irgendwie durchgedreht und sein vollkommen ausgeflippt. Thomas habe jedenfalls kein einziges Wort von dem verstanden, was Raymond von sich gegeben hatte. Der habe total gesponnen. Thomas gab uns ein paar Beispiele zum Besten, die seine Besorgnis um Raymonds Geisteszustand stützen sollten, uns aber nur zum Lachen zwangen. Es ist unmöglich, sie hier zu wiederholen. Morgen wolle Raymond mit seinen Eltern in die Tschechoslowakei fahren.
Nachdem wir Thomas den Kunsthallenbesuch vorgeschlagen hatten, war er wieder abgezogen, nicht ohne vorher lang und breit über seinen leeren Kleiderschrank zu lamentieren, als wäre er eine Frau und solle in die Oper. Um 15 Uhr wollten wir drei losgehen, darauf hatten wir uns schließlich einigen können. Jochen und ich machten uns auch fertig. Bevor wir aber aufbrechen konnten, musste Jochen noch raus zur Wäscheleine, denn der Wind hatte einige Wäschestücke losgerissenen. Durch die Gardine sah ich, dass Thomas schon zurückgekommen war und ihm beim Abnehmen der Wäsche half, die anscheinend schon trocken war. Ich hatte das noch nie getan. Wegen der Leute im Haus. Es klopfte: Thomas stand vor der Tür, mit der ersten Ladung auf den Armen. Bis Jochen nachkam, legten wir die ersten Stücke zusammen. Es war ein Hochgefühl, mit Thomas allein zu sein, auch wenn es nur Minuten waren.
Nach dem Rundgang durch die Ausstellungsräume der Kunsthalle, die um einen ungenutzten Innenhof angeordnet sind, unternahmen wir wie drei normale Freunde noch einen solchen um den Schwanenteich. Langsam schlenderten wir die sonnenbeschienenen Wege entlang. Bei jedem Schritt knirschte es unter unseren Schuhen. Ich bemerkte es wohl, dass Thomas Jochen zurückhielt und etwas leise fragte, während ich selbst weiterging. Aus Jochens lauter Antwort schloss ich dann, da er sich nicht zu Heimlichkeiten hinreißen lassen mochte, dass Thomas lediglich wissen wollte, wann ich gestern Abend zurückgekommen sei. Ungefragt versuchte ich, ihm eine Erklärung zu geben, die allen drei Seiten gerecht werden sollte. Aber Diplomatie ist ein weites, von mir noch wenig beackertes Feld. Meine Stärken sind, schweigen zu können und Geduld aufzubringen, unendlich viel Geduld. Thomas beteuerte nochmals, und aufrichtig, wie es schien, dass er mich nicht aus dem Haus habe jagen wollen.
Von der S-Bahn kommend, überquerten wir die Johannes-Fichtenau-Straße. Schon vorher beobachteten wir Raymond, der mit seiner Mutter auf deren Balkon in der vierten Etage stand. In der Wohnung darüber wohnt eine Kollegin von mir.
„Ach du Scheiße“, sagte Thomas.
„Macht dir das was aus, dass die uns zusammen sehen?“, fragte ich ihn.
„Nein, das nicht.“
Gleichgültig war es ihm sicher nicht, sonst wäre ihm der Stoßseufzer nicht so spontan von den Lippen gerutscht. Wie es der Teufel wollte, der unsere Schritte zu lenken schien, begegneten wir auch noch einem Mädchen, das Thomas kennt. Es wurde gerade von dem langen Schwarzen (schwarz ist nur dessen gefärbtes Haar) verabschiedet, der unten wohnt, als Thomas die Zwischentür zum Treppenaufgang öffnete. Beide kuckten nicht schlecht, als wir drei an ihnen vorbeigingen und die Stufen hochstiegen.
„Auch das noch!“, stöhnte Thomas diesmal, als beide weg waren.
„Wenn du hierher kommst oder mit uns zusammen bist, musst du immer mit so was rechnen“, gab Jochen zu bedenken.
Wir ulkten noch eine ganze Weile darüber, dass Thomas jetzt auf alle Fälle mit Raymond erneut Ärger bekommen und das dessen Mutter sicher auch so einige Fragen haben werde. Und weil gerade von Raymond die Rede war, konnte Thomas nicht anders, als in ein großes Honigfass zu greifen, um mir mit vollen Händen das süße Zeug um den Bart zu schmieren. Er erzählte, dass Raymond mich ganz interessant finde und immer nach mir frage, wenn sie sich beide über Jochen und mich unterhalten. Wahr wird an der Geschichte wohl nur sein, dass sie sich über die beiden Alten in aller Ausführlichkeit das Maul zerreißen und jedes Detail genauestens auswerten. So ein Experiment bietet sich ja auch nicht alle Tage!
„Steht er denn auf ältere Männer?“, fragte ich ihn nicht ganz ernsthaft, denn Thomas wollte mich sicher nur verscheißern. Mancher fällt doch allzu gern darauf herein, wenn man ihn bei seiner Eitelkeit zu fassen kriegt.
Wir saßen noch nicht lange in der Stube, als es klingelte. Thomas wurde unruhig.
„Jetzt kommt bestimmt Raymond, um dich von hier wegzuholen“, scherzte ich.
Es war aber Kati, die sich Jochens Rucksack holen wollte und keinerlei Anstoß an unseren Besucher nahm. Sie brachte den ersten Brief von Roland mit, der jetzt irgendwo auf hoher See rumschippert. Roland ist das dritte Kind ihrer Mutter, sie das Vierte. Ihrer Mutter ginge es schon viel besser und die Laune sei auch wieder okay, meinte sie. Sie ließe uns beide grüßen. Dann erzählte Kati noch, dass sie uns im Bus haben sitzen sehen, vor der Ampel bei der Schönen Aussicht, dass sie vergeblich versucht hätten, sich bemerkbar zu machen. Natis Auto habe direkt neben dem Bus gestanden. Kurz danach musste unser Bus ja noch einmal halten. Wegen des Unfalls.
Die NNN hatte heute in ungewöhnlicher Ausführlichkeit darüber berichtet:

Unfall durch Wild
In den frühen Morgenstunden kam es gestern zu einem Unfall mit leichten Verletzungen und geringem Sachschaden. Ein Mopedfahrer kam durch Wildwechsel auf der Straße zwischen Kowalz und Telkow von der Fahrbahn ab und fuhr gegen einen Baum. Gegen einen Lichtmast prallte um 7.50 Uhr gestern ein Trabant auf der F 103. Der übermüdete Fahrer wurde mittelschwer verletzt, und es entstand größerer Sachschaden.


Thomas ging, als Jochen begann, Abendbrot zu machen. Kati blieb bis nach dem Essen. Da sie verständnisvollerweise zu Thomas keine Fragen hatte, wollten wir uns nicht lumpen lassen. Jeder spendierte ihr deswegen zwanzig Mark für ihren Zelturlaub. Die kann sie dann hemmungslos auf den Kopf hauen.



Freitag, 12. August 1988 - Sonntag, 14. August 1988

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