Die Hoschköppe / 14. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 14. Kapitel

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Freitag, 12. August 1988


Der Zug aus Prag fuhr mit uns heute Morgen pünktlich in den Rostocker Hauptbahnhof ein. Mit müden Knochen standen wir fünf Pragreisenden im engen Gang des Waggons an den Fenstern und besahen uns die Leute auf dem Bahnsteig, an denen wir langsam vorbeifuhren. Auch sie sahen noch reichlich verschlafen aus. Wir hielten Ausschau nach Natis Sohn. Lang und schlank sei er, hatte sie gemeint. Ich und Jochen suchten also einen langen Schlanken, konnten aber keinen passenden ausfindig machen. Uns fiel dabei ein junger Mann auf, der an einer Brüstung lehnte. Auch Nati selbst hatte ihren Jungen bisher nicht entdecken können. Dabei hatte sie den Vorteil, ihn zu kennen. Sie hatte ihm aus Jevany geschrieben, er solle sie des vielen Gepäcks wegen mit dem Auto vom Bahnhof abholen. Kati und ihre Mutter wollten dann mitfahren. Nun betrachteten die drei Frauen müde und mit Bangen den Berg Taschen, Koffer und Beutel. Mit einem leichten Ruck kam der Zug zum Stehen. Unser Waggon hielt ziemlich weit in Richtung Warnemünde, befand sich aber immer noch auf dem Bahnhofsgelände. Sollten sie jetzt wirklich all ihre Sachen bis zur Unterführung schleppen, dann damit die Treppe runter und wieder rauf und sich in die übernächste S-Bahn hieven, denn die nächste würde bestimmt weg sein? Schon bei dem Gedanken blieb den Frauen die Luft weg. Jochen und ich waren uns unschlüssig darüber, ob wir besser im Zug bleiben und mit ihm bis Warnemünde durchfahren sollten oder doch lieber aussteigen. Plötzlich waren wir nur noch allein im Abteil. Von den Frauen war nichts mehr zu sehen. Dabei hatten wir uns noch gar nicht von Jochens Mutter verabschiedet. Das würde uns schlecht bekommen, denn es war schon während der letzten Tage kein Auskommen mit ihr. Wir hängten uns aus dem Fenster und sahen, wie die drei Frauen auf dem Bahnsteig von dem jungen Mann in Empfang genommen wurden, der uns vorhin beim Einfahren aufgefallen war. Er hatte lockiges Haar und trug ein goldenes Kettchen um den Hals. Machte auf uns ganz den Eindruck, als wäre der Kerl auch schwul. Konnte „natürlich“ nicht sein, denn er war schon einmal verheiratet. Wir kennen da aber ganz andere Beispiele. Nati sagt Michi zu ihm. Er sieht jedenfalls nicht schlecht aus, aber lang und schlank ist er nicht. Aus den dünnen Lautsprechern quälte sich eine verrostete Stimme, die uns Reisenden etwas mitteilen wollte. Was, war leider nicht zu verstehen.
„Genau wie in Prag“, sagte Jochen. Da waren die Lautsprecherdurchsagen zwar laut und deutlich gewesen, verstehen konnten wir sie aber trotzdem nicht.
Als wir endlich ausgestiegen waren, hörten wir etwas wie „Schienenersatzverkehr … Parkplatz … Rückseite Bahnhof“ und „7 Uhr 44“. Schwer beladen, wie wir waren, hasteten wir zu dem angegebenen Ziel, wo vier Busse uns erwarteten. Uns blieben nur noch wenige Minuten. Die überladenen Taschen zogen uns beständig zu Boden. Die mit viel Angst widerrechtlich über die Grenze gebrachte Palme war schon seit ihrem Kauf in Prag hinderlich gewesen. Ach, wären wir nur im Zug sitzen geblieben, dachten wir und stiegen in den letzten Bus ein, der relativ leer geblieben war und sofort hinter uns die Türen schloss, kaum dass der letzte Palmenwedel drin war. Der Bus kam auf der Stadtautobahn nur bis zur Fußgängerbrücke, die Evershagen mit seinem S-Bahn-Haltepunkt verbindet. Hier war erst einmal Schluss, denn ein Trabi mit Klappfix hatte sich gegen einen Lichtmast gestemmt, der sich als der Stärkere von beiden erwiesen hatte. Der Fahrer schien aber Glück gehabt zu haben. Der Wagen nicht.
Mit erheblicher Verspätung stiegen wir in Lichtenhagen aus. Der Weg zu Jochens Wohnung war länger als sonst. Die vielen Konserven, die wir vor zwei Wochen mit in die ČSSR genommen hatten, weil wir daraus leben mussten, waren nicht so schwer gewesen. In der Stube befreiten wir uns endlich von unserer Last. Jochen ging als Erstes den Briefkasten entleeren, ich meine Blase. Beides war nahe am Überquellen. Ich hatte schon ab Prag gemusst. Jochen brachte haufenweise Tageszeitungen, drei Wochenpost, ein kleines, zerlesenes altes Büchlein (Die Meistersänger von Nürnberg von Richard Wagner, Mainz. B. Schott's Söhne) und zwei Briefe von Thomas herauf. Die Zeitungen blieben ohne Interesse, sie wanderten gleich auf den Altpapierstapel, alles Übrige aber auf den Tisch. Dann schütteten wir die Reisetaschen aus. Die dreckigen Klamotten kamen zum Waschen auf einen Haufen und die Sachen, die ich zu mir schaffen musste, auf einen anderen. Ich brühte Tee und Jochen ging die Waschmaschine füttern, die während unserer langen Abwesenheit hatte Hunger leiden müssen und nun im Gesicht ganz eingefallen aussah. Am Tisch sitzend, den heißen Tee vor uns, öffnete ich die Briefe und las den, auf dessen Umschlag

         Friedel / Joschi

steht, während sich Jochen den anderen vornahm, auf dessen Umschlag in der oberen linken Ecke eine

         2

gemalt ist, was wahrscheinlich so viel heißen soll wie Brief Nummer Zwei, und in der Mitte

                                 Jochen / pers.

vermerkt ist. Am unteren Rand des Kuverts gibt es noch den Zusatz:

             Das Buch solltest Du lesen, ist sehr interessant!

Der erste Brief:

Noch am Abend Eurer Abreise zog ich mich nochmals an, um zu Raymond
zu gehen, mal von Eurer Abfahrt aus Warnemünde abgesehen wollten wir
ohne hin dorthin. Sobald ich bei Raymond vor der Tür stand, wußte ich, was
mit Ihm los war. Nicht nur, daß er schlechte Laune hatte, nein, er
konnte sich nicht mal mit mir normal unterhalten. Mit ziemlicher
Selbstsicherheit sagte er mir dann und warf es mir zugleich vor,
ich würde Ihn nur als Ersatz für Euch sehen und nur dann mit Ihm
zusammen sein, wenn ich genau wüßte, daß Ihr keine Zeit habt.
Er sieht es jetzt also nicht gerne, wenn ich bei Euch bin, und er glaubt ich
habe die Freundschaft mit Ihm längst in den Wind geschrieben.
Trotz alle dem werde ich weiter zu Dir und Friedel kommen, natürlich
nur, wenn meine Anwesenheit erwünscht ist. Raymond mußt da jetzt
allein mit fertig werden. Denn so wie er denkt, kann ich Ihm nicht helfen.
Das was er da abzieht würde ich sogar als Eiversucht bezeichnen.
Ich lasse Ihn erst wieder zur Vernunft kommen, dann werde ich Ihm
alles erklären können - jedenfalls das, daß er kein billiger Ersatz ist.
Ihr beide seid mir da fast richtig ans Herz gewachsen. Anders kann
ich das nicht sagen. Man merkt erst dann, wenn man jemanden mag,
wenn diejenigen über längere Zeit wegsind. Am Abend Eurer Abreise sind
mir die Gedanken nur so zu Hunderten durch die Birne gerauscht.
Ich hatte immer gedacht, es würde noch was dazwischen kommen,
ja ich habe es zeitweise sogar gehofft. Vielleicht versteht Ihr das, Ihr könnt
Euch teilweise aber wohl doch nicht vorstellen, was in mir vorgeht.
Ich möchte, daß sich zwischen uns nichts grundlegendes ändert,
das kann man aber auch noch einschränkend auffassen.
Wegzudenken seid Ihr beide jedenfalls nicht mehr.
 Ich vertraue Euch und ich glaube das stößt auf Gegenseitigkeit.
                                                     Gruß Thomas
Jochen meinte, er müsse auch noch den ersten Brief lesen, bevor er mir den Zweiten geben könne. Nun gut, solange konnte ich warten. Der zweite Brief enthielt drei weiße Blätter, mit Schreimaschine sicher mühevoll betippt.
HALLO JOCHEN!
DAS GEFÜHL,JEMANDEN ZU BRAUCHEN,GIBT EINEM NOCH LANGE NICHT DAS RECHT,
DEMJENIGEN ZU SAGEN,DASS MAN IHN BRAUCHT.WOHER WEISS ICH DENN,WIE ER
ES AUFFASST?FÜHLT ER SICH BELEIDIGT,VERARSCHT ODER SOGAR GESCHMEICHELT?
ICH WEISS ZWAR,DASS ICH DICH MAG,ABER ICH WEISS AUCH,DASS ICH NICHT SO
BIN,WIE DU.SO LANGSAM GLAUBE ICH,DIR KLARMACHEN ZU MÜSSEN, DASS ES IRGEND-
WANN PASSIEREN WIRD.ICH BIN MIR NOCH NICHT IM KLAREN DARÜBER,OB ICH ES
WIRKLICH WILL,ODER OB ICH ES NUR MACHE,WEIL ICH WEISS,DASS DU ES WILLST.
GEGEN EIN GEFÜHL HABE ICH MICH BIS JETZT IMMER GEWEHRT-ETWAS ERNSTERES
FÜR DICH ZU EMPFINDEN,ALS NUR SYMPATHIE.WIESO SAGE ICH ES DIR NICHT-
NICHT EINMAL DAS WEISS ICH.ES GIBT IN MIR ETWAS,WAS MICH DAVON ABHÄLT.
ES WIRD VIELLEICHT DIE ANGST VOR DER REA C KTION SEIN.ABER DA IST JA NOCH
FRIEDEL-WELCHEN PLATZ NIMMT FRIEDEL BEI DIR DENN NOCH EIN?WILLST DU IHN
IN EINE SCHUBLADE STECKEN UND SIE NUR DANN ÖFFNEN,WENN DU IHN HIN UND
WIEDER MAL BRAUCHST.WAS ICH FÜR IHN EMPFINDE, SAGE ICH DIR BESSER NICHT.
ES WÜRDE DIR OHNEHIN NICHT GEFALLEN.SEID DEM ERSTEN TAG WUSSTE ICH,MIT
MIR WÜRDE ETWAS NICHT STIMMEN.SOBALD ICH ANDERS HANDLE ALS ICH DENKE,
GLAUBE ICH NICHT MEHR AN MICH,VERLIERE MEIN SELBSTVERTRAUEN-MEINE SELBST-
SICHERHEIT.TAG FÜR TAG HÖRE ICH VON MEINEN ELTERN,ICH SEI ZU RUHIG GE-
WORDENUND ICH ÜBE MICH WOHL IN ZURÜCKHALTUNG.WENN ICH JETZT ETWAS BRAUCHE,
DANN IST ES GEDULD UND VERTRAUEN.SOLANGE ICH NICHT WEISS,WELCHER WEG DER
SICHERSTE IST,DARF ICH KEINEN ANDEREN EINSCHLAGEN.OFTMALS HABE ICH DAS GE-
FÜHL,DU SEIEST MEHR ALS EIN FREUND,WAS VON DIR AUS SOGAR ZU BEWEISEN WÄHRE.
DIE REDE IST VON ANMACHE UND ANNÄHERUNGSVERSUCHEN,GEGEN DIE ICH MICH AnFANGS
ZU WEHREN VERSUCHTE.DA GENAU,AN DIESER STELLE BEGANN ICH AN MIR SELBST ZU
ZWEIFELN.DENN SICHER WAR ICH MIR NICHT,OB MIR DAS WIRKLICH SO AUF DEN SENDER
GING,WIE ICH ES IMMER BEHAUPTET HATTE.ICH MÜSSTE LÜGEN, WENN ICH BEHAUBTETE,
DU WÜRDEST MICH ANEKELN.DA GAB ES ABER AUCH MOMENTE,DA HATTE ICH DIE BLANKE
ANGST VOR DIR.DA WAREN DANN SÄTZE,BEMERKUNGEN UÄ.,DIE MICH DICH HASSEN
LIESSEN.
                            TE IST DURCH FOLGENDE N
Das untere Viertel des Briefes, auf dem die Telefonnummer seiner Tante in Dänemark stand, hatte Thomas abgerissen, nachdem Jochen schlitzohrig gesagt hatte, er werde da mal anrufen.
Auf die beiden anderen Bögen hatte Thomas mit sehr viel Fleiß eine ganze Reihe lehrsamer Sprüche getippt.
ANSTAND IST,WIE MAN SICH BENIMMT,WENN MAN ALLEIN IST.
ANSTRENGUNG IST NOCH KEIN ERSATZ FÜR TALENT.
ANSTÄNDIGKEIT IST ETWAS SEHR SCHÖNES,SOLANGE SIE NICHT AUSARTET – WOHL-
VERSTANDEN.
IN DIE ARME SCHLIESSEN KANNST DU ALLES,WAS DU LIEBST.WONACH DU DICH SEHNST,
KANNST DU NUR MIT DEM FLÜGEL STREIFEN.
JEDE FRAU SOLLTE ZWEI ÄRZTE HABEN:EINEN ÄLTEREN,WENN SIE KRANK IST UND
EINEN JÜNGEREN,WENN IHR ETWAS FEHLT.
AUFRICHTIGKEIT IST DIE ZUFLUCHT JENER,DIE WEDER PHANTASIE NOCH TAKTGEFÜHL HABEN.
DIE AUGEN SIND DIE DOLLMETSCHER DES HERZENS,ABER NUR DERJENIGE,DER GANZ
DABEI IST,VERSTEHT IHRE SPRACHE.
DER AUGENAUFSCHLAG EINER FRAU IST SO ENTLARVEND,ALS OB SIE ALLE KLEIDER
ABGELEGT HÄTTE.
ES IST TRAURIG,EINE AUSNAHME ZU SEIN,ABER NOCH TRAURIGER IST ES,KEINE ZU
SEIN.
DAS EINZIGE,WAS ICH EINEM POLITIKER GLAUBE,IST DIE KONTONUMMER.
WENN ICH DU WÄRE,WÄR ICH LIEBER ICH.
NIE WIEDER IMMER.
FÖRDERT DEN STOFFWECHSEL,KAUFT NEUE KLAMOTTEN.
WER FRÜH REIF IST,FAULT SCHNELLER.
GOTT - DU NAHMST MIR DAS KÖNNEN,NEHM MIR AUCH DAS MÜSSEN.
Auf dem dritten Blatt geht es wie folgt weiter:
DIE GABE IST KEINE SÜNDE,HINGABE SCHON.
VERTRAUEN IST NICHT DAZU DA,DEM ANDEREN KLARZUMACHEN,WAS MAN VON IHM HÄLT,
SONDERN SYMOLISIEREND ZU WARNEN,VOR DEM,WAS ER NICHT SAGEN SOLLTE,UM DEN,
DEM ER VERTRAUT NICHT ZU VERLETZEN.
EINSAMKEIT IST NICHT DAS ALLEINSEIN ANSICH,ES IST EHER DIE SITUATION,IN
DER MAN ALLEIN GELASSEN WIRD.
ZWEISAMKEIT IST EINASAMKEIT,WENN EINER ZU VIEL IST.
WENN DU SCHLECHT ÜBER JEMANDEN DENKST,WIRD DIR GERATEN NACHZUDENKEN.
WENN DU WEISST,DASS DU BRAUCHST,WAS DU NICHT HAST,VERSUCHE DAS ZU HABEN,
WAS DU NICHT BRAUCHST.
GLÜCK IST NICHT DER AUGENBLICK DER FREUDE,ES IST MEHR DIE VORBEREITUNG
AUF DIESEN MOMENT.
NICHTS AUF DIESER WELT VERBINDET SO STARK WIE GEMEINSAME ABNEIGUNG GEGEN EINEN DRITTEN.
ALS ER ERKANNTE,DASS SIE NICHT ZUEINANDER PASSTEN,BESCHLOSS ER,VON IHR
ABSCHIED ZU NEHMEN.ABER DAS ZOG SICH EINE WEILE HIN.ER BRAUCHTE DAZU
EIN GANZES LEBEN.
ABWECHSLUNG IST DES LEBENS REIZ,WAS JEDE GLÜCKLICHE EHE ZU WIEDERLEGEN
SCHEINT.
ALBERNHEITEN HÖREN AUF ALBERN ZU SEIN,WENN SIE VON INTELLIGENTEN MENSCHEN
BEGANGEN WERDEN.
WER EINE GLÜCKLICHE LIEBE IN ALKOHOL ERTRÄNKEN MÖCHTE,HANDELT TÖRICHT,
DENN ALKOHOL KONSERVIERT.
ICH LIEBE DAS ALLEINSEIN ÜBER ALLES.AUF DIESE ART KANN ICH MICH WENIGSTENS
LANGWEILEN,OHNE REDEN ZU MÜSSEN.
ALTER SCHÜTZT VOR LIEBE NICHT,ABER LIEBE SCHÜTZT BIS ZU EINEM GEWISSEN
GRADE VOR ALTER.
Was wollte uns Thomas mit diesen beiden Briefen sagen, welche Botschaft sollten wir aus diesen vielen Buchstaben herauslesen? Richtig schlau wurden wir nicht daraus. In seinen Briefen ist Thomas so ganz anders, wenn auch widersprüchlich. Sitzt da ein kleiner verängstigter Junge, allein gelassen in einer Ecke eines dunklen, verschlossenen Raumes und ruft nach Hilfe, indem er Sprüche klopft, oder treibt ein ausgekochter Teufel ein ganz fieses Spiel mit uns? Diese Frage beschäftigte uns immer wieder. Jochen warnte oft, wir sollten nicht auf das trickreiche Intrigenspiel hereinfallen, das Thomas und Raymond aushecken. Ich bin da ganz anderer Meinung. Thomas ist selbst schwul, davon bin ich fast überzeugt. Dass er so unterschiedlich reagiert, in seiner Kammer flehentliche Briefe schreibt, hier dann ganz gegenteilig auftritt, sich in Lügen verstrickt und dabei immer tiefer verheddert, ist nichts weiter als der Ausdruck dafür, dass er mit sich selbst noch im Unreinen, noch auf der Suche nach der eigenen Wirklichkeit ist. Es kostet ihm viel Kraft, sich dessen bewusst zu werden, was er solange einfach nicht wahrhaben wollte. Ich verstehe ihn. In Teilen wenigstens. Ich verstehe aber nicht, dass Jochen ihn mit aller Gewalt ausforschen und der Hinterlist und Lüge überführen will. Das wird keinem weiterhelfen, im Gegenteil, Thomas wird sich in immer neue Erfindungen flüchten müssen und am Ende in seinem Irrgarten elendig verhungern. Dann wird es zu spät sein, sich mit einem roten Wollknäuel auf die Suche zu machen!
Interessant ist, dass Thomas das erste Mal in einem Brief seinen Spießgesellen und Busenfreund Raymond zu erwähnen für würdig befunden hat. Nur mit ihm schien er bisher einen Teil seiner Freizeit verbracht zu haben. Wir haben die beiden schon oft beieinander klucken gesehen. War es möglich, dass sie die Briefe gemeinsam verfassen? In den Gesprächen mit Thomas war es natürlich nicht ausgeblieben, dass er ihn des Öfteren erwähnte.
Alles, was in meine Wohnung gehört, stopften wir wieder zurück in die große graue Tasche und gingen zu mir. Jochen nahm die Palme. Alleine hätte ich gar nicht alles wegbekommen. Jochen klingelte Charlotte an die Tür, um uns beide vom Urlaub ordnungsgemäß zurückzumelden. Die Gute bedankte sich für die hübsche Karte, die wir ihr geschrieben hatten. Sie legt sehr großen Wert darauf, dass wir in der Fremde an sie denken, während sie solche Katastrophen wie Blitzeinschläge, Erdbeben mittlerer Stärke, Feuersbrünste oder Ostseeflutwellen von meiner Bude abwendet. Vertreter und Busreiseveranstalter bedrängen uns nicht. Ja, die gute Charlotte ist für das Haus Nr. 10 das, was einst ein Stall voller Gänse für das römische Kapitol war. Dass der Washingtonia inzwischen aus lauter Sehnsucht nach mir zwei Wedel gelb geworden waren, sahen wir nicht als eine Katastrophe an. Ein Kaktus dagegen hatte die sturmfreie Bude dazu genutzt, mal eben zu blühen. Nur weil er noch nicht fertig damit war, konnten wir ihn dabei überraschen. Jochen stellte die mitgebrachte Palme, die Washingtonia war jetzt nicht mehr allein, auf den Tisch und begann, sie auszuwickeln. Wie eine altägyptische Mumie hatten wir die widerspenstigen Wedel vor unserer Abreise aus Jevany mit einer ganzen Rolle Klopapier kunstvoll umwickelt. Irgendwie mussten wir das piksige Ding bezwingen, um sie überhaupt transportieren zu können. Im Zug hatten wir dann eine Jacke darüber gehängt, damit sie den Zollorganen nicht gleich in die Augen springt, nicht ahnend, dass die Organe nicht mal einen Blick in unser Abteil werfen würden. Als er mit dem Entmumifizieren fertig war, ging Jochen zurück. In die Kaufhalle wollte er auch noch. Ich ging duschen. Ab 12 Uhr mittags wollte ich dann den Westberliner Thomas erwarten, bis dahin musste rein Schiff gemacht sein. Ich war gerade mit dem Blumengießen fertig, hatte noch die Kanne in der Hand, da sah ich die Postfrau weggehen. Ich zog mir rasch etwas über und ging runter, denn irgendeine Ahnung sagte mir, dass der Westberliner nicht kommen werde. Und richtig, im Kasten lag eine Ansichtskarte von ihm und wieder einmal ein postalischer Irrläufer.

Hallo Friedemann!    Mittwoch
Sei mir bitte nicht böse, wenn ich Dir bezüglich der Reise absagen muß. Ich habe meine Pläne total geändert. War drei Tage in Schwerin gewesen und treffe mich mit Freunden in Copenhagen am Wochenende. Also fahre ich am Freitag gegen 16. 30 h mit der Fähre nach Gedser. Wenn Du nicht zu sauer bist, dann können wir uns am Freitag gegen 14. 45 h vor dem Bahnhof Warnemünde auf ein Plauderstündchen treffen. Habe ein blaues Tuch um den Hals.
Thomas
Alles andere erf. dann mündlich. Würde mich freuen, sollten wir uns trotzdem sehen.


Auf der Flurgarderobe hatte ich nur wenig Post vorgefunden: Eine Karte von Detlef S., Urlaubsgrüße von Familie Timm und einen Brief meiner Tante von drüben, ich solle sie besuchen kommen. Wie die sich das vorstellt!
Bei 12 Uhr herum erschien ich dann wieder bei Jochen, der mich im Korridor abfing und zu verstehen gab, dass Thomas da sei. Ich durfte aber trotzdem eintreten und fragte mich dann, ob die beiden bis dahin auch so schweigsam waren, jetzt wurde jedenfalls nicht viel gesprochen. Offenbar störte ich. Jochen machte Mittag, umschwänzelt von Thomas. Im Hintergrund grummelte die Waschmaschine. Ich saß auf der Couch und blätterte verlegen und überflüssig in einer Wochenpost. Welcher Art mögen die Gefühle sein, die Thomas für mich hat, dachte ich. Dass ich ihm meine Sympathie entgegen bringe, dürfte ihm wohl kaum entgangen sein. Thomas hatte sich nicht mehr lange aufgehalten. Jochen geleitete ihn bis an die Tür, wo die beiden noch irgendwas zu tuscheln hatten. Wahrscheinlich ging es um eine Verabredung für den Nachmittag, denn ich hatte erzählt, dass der Westberliner gegen halb drei am Warnemünder Bahnhof auf mich warten wolle.
Wir aßen Mittag.
„Na, was hat er gewollt, hat er irgendwas gesagt?“, fragte ich.
„Er wollte wissen, ob wir auch schöne Männererlebnisse gehabt haben“, sagte Jochen. „Ich habe ihm die Geschichte von dem Pärchen erzählt, wo wir zuerst dachten, es seien Vater und Sohn.“
„Sein Interesse geht ziemlich weit! Hast du ihn gefragt, was er mit auch meinte?“, wollte ich wissen.
„Ja, das habe ich. Er sagte, das auch könne ich streichen!“
Wir hatten die beiden Kerle während eines Einkaufsbummels in Kostelec, einer benachbarten kleinen Stadt, entdeckt und sie eine Weile beobachtet. Auf der Rückfahrt nach Jevany saßen die beiden im gleichen Bus. Jochen hatte sie sofort bemerkt, sich neben sie in den Gang gestellt und dann mit Lust zugesehen, wie dem Jüngeren unter dem dünnen Tuch seiner Hose der Schwanz anschwoll. Von dem letzten Teil der Geschichte hatte ich bedauerlicherweise nichts mitbekommen.
„Aber das wollte er nicht wissen“, meinte Jochen.
„Was dann?“
„Gefragt hat er auch noch, warum hier das Fenster zugemacht wurde, als er seins aufgemacht hat, und wer sich hier vorher ausgezogen hat.“
Mehr war aus Jochen nicht rauszuholen. Ich wusch das Geschirr ab, während Jochen mit der Wäsche zu Gange war. Beim Abtrocknen sah ich auf die Uhr: Es war Zeit, ich musste los. Jochen gab mir für Warnemünde einen Zettel mit: Kuchen, MOCCA FIX Gold Kaffee, Griff für Teekanne, Spee Color.
An der Haltestelle kurz vor dem Frisiersalon stieg ich in den 14-Uhr-Bus ein, der schon ziemlich voll war. Am S-Bahnhof stiegen dann unter anderen auch zwei Jungs dazu. Beide blieben direkt vor mir stehen. Sie sahen sehr hübsch aus und wollten wohl zum Strand. Ich musterte sie unauffällig von der Seite, wobei mir plötzlich bewusst wurde, wie gefährlich und verräterisch so eine weite Unterhose werden konnte, wie ich sie in Prag gekauft hatte. Kariert oder gestreift ähneln sie Turnhosen. Sie tragen sich aber weit angenehmer als die engen Slips. Aber nicht immer, wie gesagt. In der Warnemünder Parkstraße stieg ich mit ihnen aus. Die Jungs gingen quer über den alten Friedhof, ich in die Mühlenstraße, um dort die ersten Einkäufe zu tätigen. Warnemünde war an diesem Nachmittag schier am Überlaufen. Auf den Gehsteigen war kaum ein Meter geradeaus zu kommen. Unter den Urlaubern schienen sehr viele Tschechen zu sein, bei denen es auch sehr hübsche Schnullis gibt.
Schon geschlagene 20 Minuten trieb ich mich vor dem Eingang zur Schalterhalle des Bahnhofs herum, trat von einem Bein aufs andere und ging mal hierhin und mal dorthin. Von einem dunkelblauen Halstuch und seinem VW in der gleichen Farbe wollte sich nichts sehen lassen. Dafür tauchten aber in regelmäßigen Abständen zwei Uniformierte von der Trapo auf, denen ich bestimmt schon aufgefallen war, denn sie sahen mehrere Male zu mir herüber. Fehlte nur noch, dass die angekommen wären und mich gefragt hätten, was ich hier in der Nähe der Bahnhofstoilette herumzulungern habe. Dann tauchte doch noch der dunkelblaue VW mit dem Westberliner Kennzeichen auf. Drinnen saß ein einzelner Mann. Aber ohne Halstuch. Er fuhr vorüber. Thomas hatte geschrieben, dass er die Nachmittagsfähre nehmen wolle. Vielleicht stand er jetzt in der Schlange der Wartenden. Ich ging sie ab, aber nichts. Möglich, dass er seine Pläne nochmals geändert hatte. Es war mir zu blöd, noch länger wie auf einem Laufsteg auf und ab zu gehen, lieber wollte ich die noch fehlenden Sachen einkaufen.
Über mein vergebliches Warten noch immer vergnatzt, stieg ich die ersten Stufen empor und hörte, dass Jochens Tür leise zugemacht wurde. Niemand weiter hat es nötig, seine Tür so zuzumachen. Beim Herauskramen des Schlüssels ließ ich mir Zeit und horchte. Es war also Thomas von gegenüber, der gerade gekommen war. Komisch, ich hatte ihn gar nicht ins Haus gehen sehen. Ich öffnete die Tür und trat in den Korridor, wo ich Jochen den vollen Einkaufsbeutel in die Hand drückte und Thomas begrüßte, der auch eine Plastetüte mitgebracht hatte, aus der er viel bunt glänzendes Papier hervorzog: Kino-Illustrierte 7/87, BZ vom 18. 8. 87, TV-Hören und Sehen 8/88, Sonderausgabe der Berliner Morgenpost zur 750-Jahrfeier, Auto Bild 46/86, start - Das Opel-Magazin und drei einzelne Kalenderblätter.
Von Anfang an hatte sich mir das Gefühl aufgedrängt, dass Thomas über mein unverhofftes Auftauchen ganz schön sauer war. Thomas tat sein Bestes, um keine richtige Unterhaltung aufkommen zu lassen. Es hatte nicht nur etwas Kränkendes, dass er auf meine Anreden mit keiner Faser seines Körpers reagierte. Demonstrativ sprach er wieder nur mit Jochen. Ich kam mir ziemlich beschissen und überflüssig vor. Allein gelassen saß ich auf der Couch wie ein kleines Kind, mit dem niemand spielen mochte. Nach dem Tee wusch ich mir im Bad lustlos die Hände, ging dann an den Kühlschrank und nahm einen tüchtigen Schluck versöhnende Medizin.
„Tschüss, ich gehe mal nach Hause, sehen, ob ein Zettel oder Brief im Kasten liegt“, rief ich ins Zimmer und zog hinter mir die Wohnungstür zu. Eifersüchtig trat ich von der Bühne ab, dachte aber, dass Thomas mit Jochen allein über den Brief sprechen wolle.
Es war natürlich niemand da gewesen, der mir eine Nachricht hätte hinterlassen können. Ich schloss das Fenster, das ich mittags offen gelassen hatte, und ging wieder runter, denn in meiner Bude mochte ich nicht rumhocken und die Wände anstarren. Zum Lesen fehlte mir die nötige Muße. Ich wanderte über den löchrigen Weidenweg raus bis zum Warnemünder Friedhof, überquerte dort die Doberaner Landstraße und bog nach links ins dortige Imbisszentrum ein, wo sich ein paar Spatzen mitten auf dem Weg um eine halbe Scheibe trockenen Weißbrotes stritten. Von dort aus führte mich ein Fußweg in westliche Richtung und parallel zum Strand zur Ausflugsgaststätte Meerblick. Die Bezeichnung „Ausflugsgaststätte“ wird heute allerdings nur noch von den Einheimischen und in Erinnerung an alte Zeiten gebraucht. Heute kann man sich dort an Containerbuden nur noch selbst bedienen. Auf dem Weg dorthin gab von Zeit zu Zeit lichteres Buschwerk den Blick frei auf das ach so weite Meer, den sandigen Strand und die Badenden. Mitunter wehte von dort eine leichte Brise herüber. Eine herb würzige Mischung aus salziger Seeluft, den Ausdünstungen der verwesenden, gärenden und grünbraunen Masse, die sich längs dem Ufer hinzog, den verschiedenen Sonnenschutzcremes und dem allgegenwärtigen Kot, den die vollgefressenen Sommerfrischler gleichmäßig unter die Sträucher zu verteilen gezwungen sind. Kurz vor dem Meerblick stieg ich die Steilküste hinunter und ging unten am FKK-Strand neben dem feuchten Ufersaum weiter. Hinter einem Windschutz war eine Kollegin mit ihrer Familie im Aufbruch begriffen. Wäre ich bloß oben geblieben, dachte ich, machte ein freundliches Gesicht und winkte hinüber. Dumm, denn sie hatte mich gar nicht bemerkt, wurden aber nun durch mein Winken aufmerksam. Scheiße, dachte ich. Wusste gar nicht, dass sie solch einen hübschen Sohn hat. Aber das gibt sich später.
Fünfzig Meter weiter fiel mir eine andere Familie auf, weil auch dazu ein sehr hübscher Bengel dazugehörte. Dessen Figur und vor allem der prachtvolle Schwanz stachen mir sofort ins Auge. Ich hätte ihn gern länger bewundert, aber der dazugehörige Vater sah misstrauisch herüber. Und außerdem spürte ich noch die Blicke meiner Kollegin im Rücken. Bekleidet musste ich am Effi natürlich besonders auffallen. Ein Stückchen weiter stand oben am Rand der Steilküste ein anderer Jüngling mit goldlockigem Haar, der seinen Blick suchend über die Nackten streichen ließ. Ich nutzte die nächste Möglichkeit um wieder hinauf zu kletterte und begab mich so ins Unsichtbare. Endlich oben angekommen war ich allerdings allein. Von dem, der noch vor Kurzem hier gestanden hatte, war nichts mehr zu sehen, außer ein paar Spuren im Sand. Ich musste mich nicht lange überreden, etwas zu verweilen, um nun meinerseits dieses herrliche Panorama auf mich wirken zu lassen, wobei ich aber stets ein Auge, häufiger noch alle beide, auf den Jungen da unten gerichtet hatte. Es ist immer ein Genuss, einen schönen jungen Körper anzusehen und ich tue es, so oft sich eine Gelegenheit dazu bietet. Das hat absolut nichts mit Spannen zu tun, sondern ist Ausdruck meiner Liebe zur Ästhetik. Der Junge begann, sich seine Jeans überzustreifen. Sie werden wohl auch abhauen wollen, dachte ich und ging deshalb weiter. Aber nicht sehr viel weiter, denn nun war der Strand leer, da er hier bereits im tiefen Schatten der Steilküste lag. Ich machte kehrt und wollte nach Hause, denn ich glaubte, nun schon lange genug fort zu sein. Zu lange wollte ich die beiden nicht allein lassen.
Plötzlich machte mein Herz einen gewaltigen Sprung zur Seite und riss mich mit, als vor mir der Junge von unten auftauchte und nach links in die Sträucher verschwand. Nichts ließ erkennen, dass er mich gesehen hatte. Der Junge hatte nichts weiter an als seine Jeans, die er sich vor wenigen Minuten über die Beine gezogen hatte, den Oberkörper hatte er unbedeckt gelassen. Aus sicherer Deckung heraus beobachtete ich ihn. Er öffnete den oberen Knopf seiner Jeans, seine Blicke schweiften dabei flüchtig nach rechts und links, zog den Reißverschluss runter, fuhr mit der linken Hand hinein und holte seinen Schwanz heraus. In weitem Bogen pullerte er sich leer, bis kein Tropfen mehr übrig war. Dann sah er sich nochmals um und ging, ohne das wieder einzupacken, was er noch immer in seiner Hand hielt, tiefer ins Gebüsch und entschwand so meiner heimlichen Zudringlichkeit. Verschiedenes Gehölz krüppelt hier am Rand der steil abfallenden Böschung dahin, darunter Buche, Sanddorn, Eiche und Holunder. Dieses Dickicht, das von Ahorn und Kiefer überragt wird, war nun in einen dämmrigen Schatten eingetaucht, denn die Sonne stand schon zu tief. Das, was der Junge jetzt zu tun vorhatte, wollte er für sich ganz allein tun. Mit erhöhtem Blutdruck schlich ich ihm vorsichtig nach, immer bemüht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen und mir die lästigen Zweige aus dem Gesicht zu halten. Als ich dann, für beide unerwartet, auf den Jungen stieß, jeder hatte gleichermaßen einen Schreck bekommen, hörte er mit dem auf, wozu er keine Zuschauer brauchte. Er zog seinen unbehaarten Bauch ein, ohne sich abzuwenden, steckte gelassen sein steifes Glied in die Hose zurück, die es aufzunehmen sich zu sträuben schien, und machte sie mit Mühe zu, wobei er seinen ganzen Körper straffte. Dann kam er erstaunlich langsam und ungerührt auf mich zu und ging an mir vorbei, als erwarte er, angesprochen zu werden. Ich folgte ihm zurück zum Weg. Mein Abstand zu ihm war so gering, dass ich ihn hätte berühren können. Aber mein kleines Herz, das nur in seinen Träumen Löwen bezwingt, war im Begriff in die Hose zu rutschen. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er sich hätte ansprechen lassen. Aber mein Hals war ausgedörrt und brachte keinen Ton heraus. Ohne seine Schritte auch nur im Geringsten zu beschleunigen, ging der Bengel weiter vor mir her. Da, wo der Weg zur Treppe abzweigt, die zum Strand hinunter führt, standen Leute. Bis zur Treppe mochten es noch dreißig Meter sein. Ich blieb zurück, weil ich sie für seine Eltern hielt. Der Junge ging, ohne sie zu beachten, zur Treppe, die Leute gingen weg. Ich sah ihn am Rand der Treppe unschlüssig verharren, als warte er auf irgendwas. Er sah sich nach mir um und hüpfte dann langsam, Stufe für Stufe, hinunter. Ich ging zurück an den Rand der Steilküste, wo ich freie Sicht hatte. Unten angekommen zog der Bengel die Hose wieder aus. Zusammen mit seinen Eltern ging er am Strand entlang. Sie suchten gebückt nach kleinen Steinen. Sie entfernten sich allmählich. Der Junge wirkte irgendwie unsicher, verlegen. Oder bildete ich mir das nur ein. Wenn er hoch sieht, dann winke ich ihm zu, nahm ich mir vor. Er schaute aber nicht, solange ich auch wartete. Alle drei gingen ins Wasser, ich zur nächsten Bus-Haltestelle der Linie 81.
Ich erreichte die Haltestelle gerade, als ein Bus vorfuhr, und stieg ein. 20.12 Uhr schlossen sich dann die Türen, der Bus fuhr ab. An der Haltestelle Wilhelm-Hörning-Straße stieg ich aus und ging zu meiner Wohnung. An der Wohnungstür hing ein Zettel mit der kurzen Mitteilung von Jochen, dass er auf mich warte.
Bevor ich aber zu Jochen hineinging, lief ich durch den Durchgang zur Rückfront des Hauses, um von dort einen Blick auf das Fenster gegenüber zu werfen. Es war geschlossen, nichts deutete auf die Anwesenheit von Thomas hin. Ist der noch immer bei Jochen, fragte ich mich. Dann erst ging ich ins Haus und öffnete behutsam die Wohnungstür. Im Korridor brannte Licht. Unter der Flurgarderobe standen unsere beiden Paar Hausschuhe, an den gedrechselten Knäufen neben dem Spiegel hing nichts. Da in der Stube kein Licht brannte, die Tür stand offen, und auch nichts zu hören war, nahm ich an, Jochen sei im Keller oder vielleicht im Trockenraum. Unten im Hausflur ging soeben eine Tür. Ich sah durch den Spion. Es kam aber niemand die Treppe herauf. Nachdem ich meine Sachen abgelegt hatte, ging ich ins Zimmer, machte das Licht an und war überrascht.
Jochen saß in der linken Couchecke und weinte. Mit beiden Händen knetete er sein weißes Taschentuch, dessen Ecken in spiralförmige Spitzen ausliefen. An den Füßen hatte er noch die Jesuslatschen.
„Was ist denn nu' los?“, fragte ich.
„Keine 10 Minuten, nachdem du weg warst, ist auch er gegangen. … Hat die Tür hinter sich zugeschmissen. Ich hatte zu ihm gesagt, dass er schuld daran sei, dass du gegangen bist.“ Seine Worte wurden immer wieder von Schluchzern unterbrochen, Jochen konnte sich kaum fassen. Thomas habe daraufhin gesagt, der (also ich) sei ja blöd und das habe er nicht gewollt und er wolle sich nicht zwischen uns stellen. Er fände uns beide okay. Über den Brief sei auch gesprochen worden. Jochen habe ihm aber nicht gesagt, dass auch ich ihn gelesen hätte. „Thomas hat vor dir entweder Angst oder Respekt“, meinte Jochen, „weil er nicht so recht glauben will, dass du wirklich schwul bist und das hat er auch in seinem Brief gemeint. Er hat zu mir gesagt, dass du nicht so aussiehst, du gibst dich nicht so, und das ich alles ganz anders mache als du.“
„Kann ich etwas dafür, dass ich nicht seinem Bild von einem Schwulen entspreche?“
„Und mit dem Raymond will er dich zusammenbringen. … Deswegen am Vormittag die Frage, ob du porträtieren kannst“, meinte Jochen, schon etwas ruhiger.
Das hatte ich aber am Vormittag gleich verneint, denn ich wolle niemanden beleidigen. „Zu welchem Zweck will er mich mit Raymond zusammenbringen?“, fragte ich misstrauisch.
Jochen glaubte, ich habe mit meinem Fortgehen irgendwelche Konsequenzen ziehen wollen. Hatte ich ja auch, aber nicht die, die Jochen befürchtet hatte. Noch in Thomas Gegenwart habe er zu weinen angefangen, gestand Jochen. Gleich nach meinem Weggehen oder erst, als Thomas gegen 19 Uhr noch einmal zurückgekommen war, um eine ausgeliehene Kassette zurückzubringen, das war aus Jochens Worten nicht herauszuhören. Jochen erzählte noch eine ganze Menge von dem, was sie sich alles gesagt beziehungsweise an den Kopf geworfen hatten. Das bringe ich aber im Nachhinein nicht mehr zusammen. Thomas wolle jedenfalls nicht eher wiederkommen, hatte der gedroht, als bis Jochen ihn rüberwinken würde.
Nachdem ich Jochen klargemacht hatte, warum ich gegangen war, tranken wir beide einen doppelten Klaren und aßen zu Abend. Ich machte ihm eine Schnitte, denn mehr mochte er nicht, hatte keinen Appetit. Dafür aber Kopfschmerzen, dicke Augen und zwei nasse Taschentücher.
Bei Thomas blieb das Fenster zugezogen.
Etwas von dem, was mir Jochen noch erzählt hatte, ist mir später doch noch eingefallen. Thomas war wie gesagt kurz vor 19 Uhr zurückgekommen und etwa eine Stunde geblieben. Jochen hatte ihm während dieser Zeit erzählt, dummerweise, wie ich fand, dass ich glaube, er sei doch schwul. Darüber habe sich Thomas mächtig erbost: So etwas solle ich nicht einmal im Traum denken. Daraufhin hatte ich Jochen zu wenig taktischen Scharfsinn vorgeworfen und gemeint, Thomas das unter die Nase zu reiben, damit hätte er ruhig warten können, bis wir einen handfesten Beweis in den Händen haben würden. Thomas habe Jochen gefragt, warum er so viel heule. Jochen habe ihm geantwortet, er säße wieder einmal zwischen zwei Stühlen. Und dann habe er Thomas vorgehalten, dass er nur in seinen Briefen schreibe oder wenigstens den Eindruck erwecke, dass er ihn mag, aber im Gegensatz dazu nicht mehr möge, wenn sie zusammen seien. Thomas habe davon gesprochen, dass seine Eltern ihn gefragt hätten, warum er die meiste Zeit so abwesend und beim Essen so langsam sei, nicht mit ihnen spreche. Er habe ihnen aber nichts geantwortet. Zu Jochen sagte er aber, er grübelt viel, denke über alles Mögliche nach, auch über uns, im Gegensatz zu Anderen, die ja über gar nichts nachdenken würden. Thomas habe noch einmal betont, dass er ihn so mag, wie er ist, uns beide, aber schlafen könne er nicht mit ihm, er sei nun mal nicht so. Jochen hatte nun verständlicherweise von ihm wissen wollen, was seine Briefe wirklich ausdrücken sollen.



Mittwoch, 27. Juli 1988 - Sonnabend, 13. August 1988

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