Die Hoschköppe / 13. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 13. Kapitel

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Mittwoch, 27. Juli 1988


In aller Herrgottsfrühe aufgestanden, die Zeiger der Uhr quälten sich eben auf halb 8, denn ich wollte Jochen mit weich gekochten Eiern und dampfendem Kaffee aus seinem Bett locken. Viel Zeit konnten wir uns mit dem Frühstück nicht mehr lassen, da ich noch in meine Wohnung musste, um mich umzuziehen. Ich mochte neben Thomas, sollte er tatsächlich mitkommen, nicht wie ein Lumpensammler aussehen, denn er ist immer frisch aus dem Ei gepellt.
Um dreiviertel 9 klingelte er. Thomas scheint auch großen Wert auf Pünktlichkeit zu legen. Noch ein Pluspunkt für ihn. Er brachte einen Brief mit, den er Jochen in die Hand drückte. Der legte ihn beiseite, denn wir hatten es eilig, zur S-Bahn zu kommen. Wir fuhren bis zum Holbeinplatz, von dort mit der Straßenbahn weiter bis zum Doberaner Platz. Trotz des schönen Wetters waren viele Leute in der Stadt. Sie wollten alle die Ersten sein, wenn um zehn die Geschäfte öffnen würden. Auch wir hatten einen bescheidenen Wunschzettel dabei.
Über der Kinokasse, aus der heraus uns ein aufgedonnertes, aber müdes Gesicht anstarrte, befindet sich eine aus den Anfängen der Stummfilmzeit stammende Anzeigetafel, die jedem Besucher mitteilt, welche Vorstellung ausverkauft ist. Eigentlich wollten wir in die Nachmittagsvorstellung, aber da leuchtete bereits „ausverkauft“. Das hatten wir befürchtet. Jochen reichte einen Schein für die Zehnuhrvorstellung durchs Fensterchen. Da das Wechselgeld in der bescheidenen Kasse nicht reichte, erhielt er ihn anstandslos zurück. Ich sah in mein Portemonnaie. Das Kleingeld reichte vorn und hinten nicht. War uns ein bisschen peinlich, dass unser Gast uns mit sieben Mark freihalten musste. Für einen Schüler tat er sehr großzügig. Sollte er über mehr Taschengeld verfügen als wir?
Wir hatten Karten für Tisch mit der Nummer Neun bekommen. Nur wenige Loriotfreunde an anderen Tischen. Bei einer jungen Serviererin bestellten wir für uns Erwachsenen zwei Martini und fürs anspruchslose Kind eine Kola. Der Film ist voller hinreißender Blödeleien und ich habe mich köstlich amüsiert. Jedes Mal, wenn ich aus vollem Herzen lachte und dabei unter den Tisch zu rutschen drohte, straften mich Jochen und Thomas mit zurechtweisenden Blicken. Der Martini am Vormittag half mir, ihren Blicken zu trotzen und mir die Tränen in die Augen zu treiben.
Nachdem wir den Film und den Inhalt unserer Gläser zu Ende genossen hatten, warteten Thomas und ich draußen vor dem Eingang auf Jochen. Er wollte den Weg über die Toilette nehmen, um nicht den ganzen Tag den Martini mit sich herumtragen zu müssen. Gemeinsam gingen wir anschließend zum Imbisszentrum. Denn merke: Mittags muss der Mensch was essen! Gingen von Bude zu Bude um die Angebote zu studieren. Überall drängten sich Menschen. Es war fast unerträglich heiß geworden. Das grelle Mittagslicht stahl uns die Sicht.
„Was nehmen wir?“, fragte ich.
„Ich weiß auch nicht“, meinte Jochen. „Und du?“, fragte er Thomas.
Thomas wollte nichts essen. Er sagte nur: „Taschmaß.“
Diese jungen Leute heutzutage! Man versteht ihre Sprache nicht mehr. Thomas hat eine ganze Reihe solcher Kunstwörter in seinem Repertoire, mit denen Jochen und ich absolut nichts anzufangen wissen. Zu seinen Lieblingsworten gehören „moschno“ und „taschmaß“. Uns bezeichnet er als „Hoschköppe“, was auch immer das sein mag. In seinen Äußerungen liegt oft etwas Verletzendes oder Kränkendes. Der Ton, den er sich gegenüber Jochen manchmal herausnimmt, verwundert und erschreckt mich. Jochens Proteste dagegen werden wohl zur Kenntnis, aber nicht ernst genommen. Sie verpuffen wie ein Furz. Vielleicht sollen wir seine Reden nicht so nehmen, wie sie sein hübsches kleines Schandmaul verlassen, sondern in ihnen eine gute Absicht vermuten, wie ich es wiederholt zu Jochen gesagt habe. Wie schnell ist etwas dahingesagt, dass uns sofort leidtut, kaum dass es ausgesprochen ist. Vielleicht denkt Thomas nur, je kleiner der Mensch, desto größer muss seine Klappe sein. Jochen würde jetzt sagen, dass ich ihn wieder in Schutz nehme. Ich bin mir sicher, fast sicher, dass nichts weiter hinter diesen harmlosen Reden steckt. Hatte in meinen Jugendjahren auch ein Schlagwort aufgeschnappt, von dem ich sehr beeindruckt war und bei jeder Gelegenheit Gebrauch machte: „Objektive Realität“. Lässt sich aber mit „taschmaß“ und „moschno“ nicht wirklich vergleichen, glaube ich.
Nach längerem Hin und Her entschieden sich Jochen und ich für je ein Eckchen Pizza zu 2,15 Mark. Hier war die Schlange am kürzesten. Bei der Hitze reichte uns dieser Appetithappen vollauf. Thomas hatte etwas zu trinken besorgt.
Auf dem Weg zur Kröpeliner Straße statteten wir dem Shop im Warnow einen Besuch ab. Es war Thomas, der da unbedingt rein wollte. Jochen und mir standen für Einkäufe solcher Art keine Mittel zur Verfügung. Wir gingen danach wegen Unterwäsche für Jochen ins Korrekt, allerdings ohne Erfolg. Der nächste Versuch galt dem Centrum. Es nervte, vergebens die überfüllten Treppen rauf und runter zu steigen und gleichzeitig gegen die dicke Luft anzukämpfen. Im Fotogeschäft gleich neben dem Jagdausstatter bekam ich Fixiersalz. Das war ja auch schon was. Thomas und Jochen waren, weil ladenmüde, draußen geblieben. Mit meinem schweren Netz drängte ich die beiden zur Straßenbahnhaltestelle am Centrum. Die Innenstadt war ein brodelnder Kessel, es zog mich zum frischwindigen Strand. Ich hoffte, Thomas würde mitkommen. Das war aber ganz und gar nicht in seinem Sinne, wie sich herausstellte. Er wäre lieber mit uns durch die kochenden Straßen geschlendert. Aber wozu? Zu einem Eisbecher hatte er sich nicht einladen lassen. Er war überhaupt sehr darauf bedacht, nichts von uns anzunehmen, als fürchtete er einen Giftanschlag auf seine Selbstkontrolle. Mir drängt sich ein Bild auf, in dem Thomas völlig wehrlos auf der Couch sitzt und vergeblich den Angriff auf seine Keuschheit erwartet. Uns beiden war nicht danach, den dahin strömenden Menschen mit unseren Blicken aufzulauern. Klar, es gab auch hübsche Kerle und Jungs darunter, aber Thomas registrierte jeden noch so kleinen Seitenblick und kommentierte ihn als wäre er eifersüchtig, was Jochen dazu veranlasste, dies noch demonstrativer zu betreiben, womit er ihn erst recht herausforderte. Ich hielt dagegen meinen Kopf stur geradeaus und ließ nur die Augen arbeiten, was Thomas, der neben Jochen ging, nicht sehen konnte. Wenn Jochen und ich allein unterwegs sind, werden alle Jungs taxiert, nach Punkten bewertet. Der eine erhält vielleicht fünf, ein anderer nur drei, mit dem würde man und mit dem auf keinen Fall.
„Der gefällt mir gut. Sieht der nicht toll aus!“ sagte Jochen zu Thomas.
Wir standen auf dem Bahnsteig Holbeinplatz und warteten auf eine S-Bahn. Gegenüber war ein Zug aus Richtung Warnemünde eingefahren. Es war ein junger Mann ausgestiegen, der in der Menge auffiel. Jochen wollte Thomas ein bisschen ärgern, denn er hatte das ziemlich laut gesagt. Es ist sonst nicht seine Art, im Beisein anderer Leute so was zu äußern. Wir waren schließlich nicht allein auf dem Bahnsteig, um uns herum standen genügend andere Leute, die auch auf den Zug warteten. Ein vor uns stehender junger Mann drehte sich spontan um. Das war Thomas sichtlich peinlich, er lief rot an. Vielleicht kannte er ihn.
Zu Hause, Thomas war nicht mit reingekommen, machten wir uns ein wenig frisch und nahmen einen tüchtigen Schluck Brause. Auf dem Tisch liegend, wartete der Brief, den Thomas am Morgen mitgebracht hatte.

Hallo Jochen!
Ich dachte, daß Verhältnis, was sich nun zwischen uns gebildet
hatte, könnte weiterbestehen, wenn jeder das Seine tun würde und
versucht, den anderen zu verstehen. Irgend etwas gibt mir jedoch
das Gefühl als würden wir uns immer weiter voneinander
entfernen und ich behaupte sogar, Du gehst mir aus dem Weg.
Sobald ich das Fenster aufmache und Du stehst gerade an Deinem,
bist Du auch gleich wieder weg. Oder sogar Du machst es sogar zu.
Ich habe Dir natürlich nicht vorzuschreiben, wann Du wie lange
am Fenster zu sitzen hast, aber das mußte ich Dir jetzt sagen.
Du distanzierst Dich auch mehr und mehr, seitdem ich Dir
verklickert habe, ich würde nicht mit Dir schlafen. Da hast Du
dann gesagt, und das mit ziemlicher Warscheinlichkeit, mit 18
wäre ich drann. Dazu keinen Kommentar. Das würde ich
mit mir selbst nicht in Einklang bringen können.
Wir sprechen uns dann aber wieder - mit 18. Wie schon erwähnt,
möchte ich, und Du hoffentlich auch, daß wir 3 gute Freunde
sind und auch bleiben. In Zukunft werde ich, was meine
Ausdrucks- und Reaktionsart angeht, mich am Schlipper
reißen. Und nun weißt Du auch, was die beiden Sätze (dänisch)
ausdrücken sollten. Die Angst, die ich zuvor vor Friedemann hatte,
ist langsam abgeflaut. Und ich finde Ihn auch total okay.
Bereuen tuh ich es nicht - euch kennen gelernt zu haben,
aber trotzdem umschleicht mich sozusagen noch ein unsicheres
Gefühl. Solltest Du in den 2 Tagen vorhaben, mir zu sagen, den
Kontakt mit mir lieber abzubrechen, tuh es ruhig.
        Ihr seid 2 ich einer und dazu fast mittellos, um es ver-
                            hindern zu können.
                                                       Gruß auch an Friedi
                                                                                  Thomas
Wir fuhren zum Strand, blieben aber nicht lange dort. Morgen wollen wir uns spätabends mit Kati, ihrer Mutter und Nati in Warnemünde am Zug treffen und bis dahin musste gepackt sein. Wir brauchen auch noch Zeit zum überlegen, was wir einzupacken vergessen haben. Um halb 6 waren wir deswegen wieder zu Hause und überrascht, an der Wohnungstür wieder einen Brief von Thomas vorzufinden. Was mögen die Leute im Haus denken? Wenn er seine Briefe wenigstens in den Briefkasten stecken würde.
Hallo Jochen!
Wieso ich Dir schon wieder einen Brief schreibe, weiß ich wohl selbst
nicht so genau. Das einzige, was ich weiß, ist, daß sich für ein Gespräch
des selben nicht die Gelegenheit bot. Wenn ich das alles so überdenke,
sind wir auf ziemlich misterriöse Weise zusammengekommen.
Dadurch hat sich auch irgend etwas in meiner Denkweise geändert.
Du sagtest selbst mal, daß der Mensch an sich sich nicht verändern
kann. Aber das, was in Ihm passiert, kann sich wohl ändern.
Und genau das ist, auf Grund Deiner (nun ja Eurer) Bekanntschaft
passiert. Wenn Du das hier so alles liest und siehst, wird es Dir
wohl etwas extrem geschildert vorkommen. Ansich denke ich auch
jetzt ganz anders über Homosexualität. Früher waren solche Männer für
mich Abschaum. Daß Ihr beide nun echt sympatisch seid, werdet Ihr
ja wohl mitgekriegt haben. Sonst würde ich ja auch nicht zu Dir kommen.
Schade, daß Ihr für 2 Wochen wegfahrt, das macht die Sache natürlich
gleich beschissener. Für mich ist das dann doch nicht so günstig.
Die meiste Zeit bin ich dann wieder allein und weiß nicht, was machen!
Warscheinlich werde ich für 4 Tage nach Dänemark zur Tante fahren.
Dort habe ich zwar keine Freunde, aber allein die Fahrt mit der Fähre
ist immer ganz interessant. Zu diesem Zeitpunkt ist gerade ein Konzert
von „Duran Duran“ angesagt, da werde ich dann einen Nachmittag
mit meiner Tante nach Kophenhagen fahren. Ich werde Euch die
2 Wochen über vermissen. Aber endlich mal Zeit, sich von mir zu
zu erhohlen. Jochen, Du weißt, ich habe Dich nie um etwas gebeten,
jetzt mache ich es aber. Ich möchte nähmlich, daß Ihr mir schreibt, keine
Karte, da paßt zu wenig rauf. Alles andere, was noch offen war, kannst
Du mir rein schreiben. Über einige Dinge haben wir ja gelegendlich
gesprochen. Ich habe oft abweisend und zünisch reagiert, daß war dann
                                         aber im Eifer.
Rückseite:
Damit es mir nicht zu langweilig wird, fahre ich dann auch noch
ein paar Tage zu meiner Oma, da habe ich meinen Hund und
das Pferd, von dem ich Euch vergeßlicher Weise noch gar nicht erzählt
habe. Mein Opa hat vor einem Jahr einen 2 jährigen Hengst aus 'nem
Reitstall für 47000 M gekauft, ja und das habe ich dann zum
Geburtstag gekriegt. Ich werde Euch mal 'nen Bild von beiden zeigen.
Morgen Mittag werde ich dann nochmal zu
meiner Oma fahren, bevor ich dann am
Sonnabend zur Tante fahre.
Ich gehe so gegen 11.25 Uhr von zu Hause los.
Sollten wir uns dann nicht mehr sehen,
wünsch ich Euch gutes Wetter und 2 Wochen,
die es wert sind Urlaub genannt zu werden.
Die Hauptsache hätte ich nun beinahe ver-
gessen, wär natürlich ganz positiv, wenn Ihr
gesund und guter Laune zurückkommt.
Danke für alles. Grüß doch auch Friedi von
                                                         mir.
                                                         Danke!

Solltest Du mir nicht schreiben, weißt Du, was Dir blüht, wenn
Du wieder hier bist.
    Du hast mal gesagt, Du weißt nicht so recht, was Du von mir
    und von dem, was ich da mache, halten sollst.
    In 2 Wochen sage ich es Dir, wenn Du mich dann noch
    kennst. Soll ja Leute geben, die geben auf 'ne Freund schaft
    nicht viel, Du gehörst hoffentlich nicht dazu.
Du würdest das Bild, welches ich mir gemacht hatte zerstören.
                            Halt die ............. steif.

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