Die Hoschköppe / 12. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 12. Kapitel

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Dienstag, 26. Juli 1988


Wenige Minuten vor der verabredeten Zeit schlichen wir Stufe für Stufe die Treppen hinauf, sahen uns vor der Wohnungstür noch einmal um, holten tief Luft und klingelten pünktlich um 9 Uhr. Drinnen näherten sich Schritte. Wer mochte jetzt öffnen? Jochen hatte Herzklopfen, ich sowieso. Wir hätten uns nicht auf diese Unternehmung einlassen sollen. Wir wussten nicht, was uns erwarten würde. Was, wenn er uns eine Falle gestellt hatte? Noch konnten wir umkehren. Unvermittelt ging die Tür auf.
„Kommt rein!“, sagte Thomas und führte uns in sein Zimmer.
Wir trabten in ungewisser Erwartung hinterher. Die Schuhe hatten wir vorsichtshalber anbehalten. Sein Zimmer ist sehr schmal und vollgestellt. Mit ausgebreiteten Armen kann man fast die beiden Längswände berühren. Es bleibt kaum Platz zum Treten. Mehr als drei Leute gleichzeitig dürften Mühe haben, sich nicht gegenseitig zu behindern. Unter dem Fenster, von dem aus Thomas wirklich eine schöne Übersicht hat, steht seine Liege. Das Bettzeug blieb unter einer hellen Decke verborgen. Darauf saß ein rosa Schweinchen. Rosa! Den kleinen runden Knopfaugen, mit denen es seinen Thomas fragend ansah, war die Verwunderung über die fremden Eindringlinge deutlich anzumerken. Vor der Liege steht ein niedriges, längliches Bänkchen, das das Zimmer in seiner Längsachse teilt. Darauf stehen einige Flaschen, in Form und Farbe verschieden, die zu Leuchten umfunktioniert sind. Die Wände hatte er mit bunten Postern und Werbeplakaten geschmückt. In der Verlängerung des kleinen Bänkchens stehen mehrere Paar Schuhe, fein geordnet. Ein Paar fiel darunter wegen ihrer langen Spitzen besonders auf. An die Zeit kann ich mich noch sehr gut erinnern, als solche Schuhe der letzte Schrei waren. Zwei schmale Kleider- oder Wäscheschränke, ein eingezwängter Kinderstuhl, auf dem Thomas vielleicht schon als Kind gesessen hat, und ein Regal. Überall kleine Modellautos und fertige Puzzles. Zwei Radiorekorder, nur wenige Bücher, dafür aber mehrere kleine Püppchen und Fähnchen, die etwas Jahrmarkthaftes in sein Zimmer bringen. Links neben dem Fenster hängt eine Gitarre, mit der wir ihn schon auf dem Fensterbrett haben sitzen sehen. Vorspielen wollte er uns nichts. Thomas gewährte uns unaufgefordert Einblick in das gleich nebenan befindliche Zimmer seines Bruders. Es hat genau die gleiche Grundfläche, ist aber weniger bunt eingerichtet. Die einzigen bunten Farbtupfer hüpfen eingesperrt in Vogelkäfigen von Stange zu Stange, die auf den Schränken stehen. Die Wohnstube vermittelt den Eindruck, dass hier ganz normal verdienende Leute wohnen. Keine Extravaganzen. Für meinen Geschmack zu viele Nippsachen. Auch die Küche lässt keinen größeren Reichtum vermuten.
Augenscheinlich hatte Thomas uns tatsächlich erwartet, denn der Tisch war eingedeckt. Allerdings nur für zwei. Vielleicht reichten sonst die Brötchen nicht. Wir setzten uns. Thomas begann, Kaffee zu mahlen.
„Es hat geklingelt, soll ich aufmachen gehen?“, fragte ich Thomas unvermittelt.
„Was hast du gesagt?“ Er hatte mich wegen der lauten Kaffeemühle nicht verstanden.
„Ich hab gesagt: Es klingelt, soll ich aufmachen gehen?“
„Mach keinen Scheiß! Hat es wirklich geklingelt?“
„Nein, nein, du brauchst keine Angst haben“, beruhigte ich ihn.
Thomas erholte sich relativ schnell von diesem Schreck. Ich hatte nur herausbekommen wollen, ob er vielleicht noch jemanden erwartet.
„Möchtest du nichts essen?“, fragte Jochen.
„Nein, ich esse morgens nichts.“
„Du musst doch was essen!“
„Ich habe keinen Hunger“, beharrte Thomas.
Wir aßen je zwei Brötchen, eins mit Honig und eins mit Marmelade von RoKoMa. Dazu tranken wir Kaffee mit ganzen Bohnen, den uns Thomas in der Tasse aufgebrüht hatte. Es war nett, wie er uns umsorgte.
„Was sagst du denn, von wem das Geschirr ist?“, wollte ich wissen, nachdem Thomas die Tassen und Teller in die Abwäsche gestellt hatte. Wahrscheinlich würde er es später abwaschen.
„Ich sage ganz einfach, dass ich Besuch gehabt habe.“
Wir drei gingen zurück in sein Zimmer und unterhielten uns eine Weile über belangloses Zeug. Ich erwartete jetzt keine Gemeinheit mehr, war dennoch von einer treibenden Unruhe erfüllt. Jochen saß bei Thomas auf der Liege, ich auf dem kleinen Kinderstühlchen und drängte zum Gehen.
„Wir wollen morgen zu Ödipussi, willst du mit?“
„Wo spielt der?“, fragte Thomas.
„Im Theater des Friedens.“
„Warum nicht. Mal sehen.“
„Na, wenn du es dir überlegt hast, dann sei morgen Vormittag um dreiviertel 9 bei uns.“
„Ja, ist gut.“
Wir verabschiedeten uns und stiegen leise die vielen Treppen wieder hinunter.
„Hast du da irgendwo einen Hund gesehen?“, fragte ich Jochen.
„Nicht das kleinste Härchen, keine Spur davon. Ich hatte auch keinen erwartet.“
Wieder zu Hause stellten wir fest, dass wir nur eine gute Stunde weg gewesen waren. Wir schnappten unsere Räder und fuhren nach Evershagen. Unterwegs werteten wir den Besuch bei Thomas aus. Jochen, der bestimmt gern länger dageblieben wäre, hatte sich prima mit ihm unterhalten. Ich dagegen wusste wieder nicht, was ich sagen sollte.
Jochens Mutter war gestern Nachmittag in Warnemünde und hat dort tatsächlich einen Schlauch für ihre Waschmaschine bekommen. Man kann es fast nicht glauben. Es war nicht schwer, ihn anzubauen. Wenn die Waschmaschinen heutzutage nur nicht so schwer wären. Die Waschbalge meiner Mutter war wesentlich handlicher.
Da Kati nichts Gescheites für uns zum Mittag hatte, sind wir nach Hause zurückgefahren. Es hatte zu regnen angefangen. Jochen tat die restlichen Nudeln vom Sonntag in die Pfanne, die wir dann mit Zucker bestreut verputzten. Als Nachtisch gab es die Kirschsuppe, die ich gekocht hatte, noch bevor wir vormittags nach Evershagen gefahren waren. Sie schmeckte wunderbar. Nicht etwa, weil ich sie gekocht, sondern weil Thomas uns die Kirschen gebracht hatte. Der Himmel hatte sich nicht wieder aufgeklart. Strandwetter war also nicht in Sicht. Wir kletterten gemeinsam auf die Liege, zogen uns die Wolldecke bis über die Schulter und kuschelten uns dicht aneinander.
So gegen drei rappelten wir uns auf, machten das Radio an, um munter zu werden, und brühten Tee. Anschließend bummelten wir über den Boulevard bis zur Sparkasse, um uns dort etwas Taschengeld auszahlen zu lassen. Damit gingen wir in die Buchhandlung und kauften Schuberts Sinfonie Nr. 3 und 6.




Montag, 25. Juli 1988 - Mittwoch, 27. Juli 1988

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