Die Hoschköppe / 11. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 11. Kapitel

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Montag, 25. Juli 1988


Seit dem ersten zaghaften Blinzeln war das schönste Wetter, was wir nicht anders erwartet hatten, denn heute ist unser erster Urlaubstag. Auch Thomas war schon auf den Beinen, wie wir sehen konnten.
„Dem werde ich gleich mal einen Dämpfer verpassen“, sagte ich und stellte mich in voller Breite ans Fenster. Ich streckte mein Kinn gen Himmel, pumpte mich mit frischer Luft voll und tat total uninteressiert. Danach gab es Frühstück. Ich machte Jochen den Vorschlag, er solle Thomas nachher, wenn wir nach Evershagen fahren würden, einen kleinen Brief in den Briefkasten stecken. Wir sprechen alle Schritte ab, die mit Thomas zusammenhängen.
„Hör zu!“, sagte ich, „du schreibst ganz einfach: Hallo Thomas! Friedemann bedankt sich für die Grüße und möchte sie auf diesem Wege erwidern. Wir fahren jetzt zu meiner Mutter, die Waschmaschine reparieren, und anschließend zum Strand. Dorthin hätten wir dich gerne mitgenommen, aber du musst ja nach Tessin.“
Mit diesem Brief verfolgte ich weiter keine Absicht als die, Thomas aus der Reserve zu locken und möglichst bald persönlich kennenzulernen.
Jochen setzte noch hinzu, dass wir in Evershagen wegen eines dänischen Wörterbuchs in die Bibliothek gehen würden, um die beiden dänischen Sätze übersetzen zu können. Thomas hatte ihm einen Zettel dagelassen, auf dem er in zwei Sätzen auf Dänisch etwas mitteilen wollte, was er sich in Deutsch zu sagen wohl nicht traute.
Ich putzte draußen am Hinterausgang die beiden Fahrräder, die wir uns gestern ganz schön eingesaut hatten. Ein paar Tropfen Öl hier und da konnten auch nicht schaden. Jochen kam hinzu, bewunderte meinen Tatendrang und ging den Brief rüberbringen.
Es dauerte nicht lange und er war wieder zurück.
„Na?“, fragte ich.
„Ich bin nicht reingegangen, es sehen zu viele Leute aus den Fenstern.“ Er war also unverrichteter Dinge am Haus vorbeigegangen.
„Hat er dich gesehen?“
„Das Fenster war zwar offen, aber ich glaube nicht.“
Als ich mit den Rädern fertig war, Jochen die Strandsachen rausgeholt hatte und wir endlich losfuhren, war Thomas Fenster längst geschlossen und er wohl auf dem Weg zu seiner Oma. Es fuhr sich gut auf der grauen Asphaltdecke, die begierig die heißen Sonnenstrahlen aufsog. Stellenweise glänzte sie tiefschwarz. In Evershagen machten wir zunächst an der Bibliothek halt. Jochen ging mit dem Zettel rein und blieb eine ganze Weile drin. Ich wartete draußen und beobachtete die vorüberkommenden Leute, die entweder in die Bibliothek oder an den Strand wollten, was ihrem Gepäck anzusehen war. Es war so manch hübscher Kerl dabei.
„Hast du rausbekommen, was die Sätze bedeuten sollen?“, fragte ich Jochen, als er endlich wieder erschien.
„Einiges hab ich übersetzen können. Aber ich werde nicht so recht schlau daraus, was er meint. Es dauert einfach zu lange, wenn man jedes Wort nachschlagen muss. Hier!“
Er reichte mir den Zettel, auf den er über die dänischen Worte die möglichen Varianten der deutschen Übersetzung geschrieben hatte. Aber auch ich konnte mir keinen Reim daraus machen. „Kann er überhaupt Dänisch? Wer weiß, wo er den Scheiß abgeschrieben hat?“
„Ich hab keine Ahnung!“, meinte Jochen dazu.
Von hier aus fuhren wir zur Schule hinüber, die auf der anderen Seite der Bertolt-Brecht-Straße steht und in der Jochens Mutter arbeitet. Er klingelte sie runter und ließ sich das Malheur beschreiben. Kati sei noch zu Hause, meinte sie. Die kam uns dann im Treppenhaus auf halber Höhe entgegen. Auch sie zog es bei dem schönen Wetter zum Strand, kam aber wieder mit rauf. Gemeinsam rückten wir die schwere Maschine von der Wand ab und besahen uns die beiden Schläuche. Beide machten einen desolaten Eindruck. Der eine war schon so porös, dass er das Wasser mit bestem Willen nicht mehr halten konnte. Er musste unbedingt ausgewechselt werden. Wir überließen es Jochens Mutter herauszubekommen, ob der Handel ihr einen solchen anbieten kann. Kati ging zu ihr, um sie vom Stand der Dinge zu unterrichten.
Jochen führte mich über Elmenhorst zum Strand. Wir befuhren verschlungene Wege und enge Straßen, die ich mein Lebtag noch nicht gesehen hatte. Wir waren auf dem Lande. Über den hohen Pappeln, die zum Teil an den Straßen stehen, war nicht eine Wolke zu sehen. Hin und wieder legten wir einen kurzen Sprint ein. Trotz des schönen Wetters war tote Hose am Strand. Mit Vorfreude auf sein langes Gesicht nisteten wir uns auf Goldbrilles Stelle ein. In meinen Anfangsjahren war dies mein Stammplatz gewesen. Seit ich mit Jochen zusammen bin, sind wir nie früh genug zur Stelle. Goldbrille ist der Igel, der immer schon da ist.
Alle Kerle, die zu diesem Strandabschnitt kommen, haben ihren Stammplatz. Um den sie kämpfen, wenn es sein muss. Wie ein aufgeregtes Huhn laufen sie hin und her, wenn ein Fremder versehentlich ihren Platz belegt hat. Wir haben allen schon vor Jahren einen charakteristischen Namen verpasst. Neben Goldbrille kommt noch das Fernglas, das karierte Hemd, das rote Fahrrad, der Schmerbauch, die Gartenschere, Tarzan und sogar Tarzan II. Inzwischen kennen wir uns, zumindest vom Sehen. Jeder weiß, wo der Andere „arbeitet“. Wir grüßen uns. Nur Goldbrille tut Letzteres mit Widerwillen. Fast alle lassen uns in Ruhe und kommen uns kaum in die Quere. Nur Eddi und Gerd nötigten uns von Zeit zu Zeit ihren Besuch auf.
Das klare Wasser leuchtete in der Sonne, es war nahezu windstill. Nur am Ufer schwammen ein paar grüne Algen, durch die jeder hindurch musste. Viel schlimmer sind die unendlich vielen Steine, über die man ins kühle Nass stolpern muss. Ich ging das erste Mal in diesem Jahr baden. Nur zwei Schnullis konnte ich am ganzen Strand ausmachen, beide waren aber zu weit weg.
Bei Jochen haben wir Abendbrot gegessen und nebenher ferngesehen. Kurz vor 9 habe ich mich aus dem Staub gemacht, denn Thomas wollte gegen 9 kommen und uns mit den Segnungen aus Omas Garten beglücken. Er wollte das Füllhorn sein, aus dem Petersilie und Schnittlauch bröselten. Bei mir sah ich den Film zu Ende, dann ging ich duschen. Noch immer kein warmes Wasser. Wie scheußlich! Dann kritzelte ich ins mitgebrachte Kreuzworträtsel wahllos Buchstaben hinein. Das sollte mich solange beschäftigen, bis ich abgeholt werden würde.
Gegen dreiviertel 10 näherten sich draußen Stimmen. Eine davon könnte Jochens sein, dachte ich, war aber zu faul aufzustehen und ans Fenster zu gehen. Gleich darauf ging unten die Haustür. Ich überlegte gerade, die werden doch nicht beide …, da standen sie auch schon ohne Vorwarnung im Zimmer. Ich wusste nicht, wie mir geschah, war überrascht, erbost, erstaunt, betroffen und freudig beglückt zugleich. Das also ist Thomas! Sein rechtes Auge blitzte mich an, das linke blieb hinter blonden Haaren verborgen. Ich saß am Schreibteil der Anbauwand und kam mir ziemlich hilflos vor. Hinterher wusste ich nicht, ob Thomas mir die Hand gab, als Jochen uns miteinander bekannt machte. Mir war sofort der Mund ausgetrocknet, sodass ich kaum sprechen konnte.
„Das ist Friedemann und das ist Thomas“, sagte Jochen.
„Schön“, war zunächst alles, was ich rausbrachte, und: „Namd.“ Nur aus lauter Verlegenheit bot ich ihnen Plätze an, stand selbst auf, um mir eine lange Hose überzuziehen, denn ich hatte seit dem Duschen nur eine Turnhose an. Wie gut, dass ich mir überhaupt etwas angezogen hatte, dachte ich jetzt.
Thomas machte auf mich vom ersten Augenblick an einen sehr selbstbewussten Eindruck. Ob ihm das leicht fiel? Er kam mir irgendwie kühn vor, reichlich kühn sogar, was mir in seiner Nähe ein flaues Gefühl im Magen bescherte. Dieses Gefühl hatte ich schon als Kind, wenn ich was ausgefressen, die Hausaufgaben vergessen oder die Unterschrift meines Vaters unter ein Diktat nachgemacht hatte. Genau so fühlte ich mich auch jetzt, als könne ich jeden Augenblick ertappt werden. Aber wieso ich? Und wobei?
„Komm, zieh dich an, wir gehen“, drängte Jochen.
Ich schloss die Wohnungstür ab und dann auch die Haustür. Wir gingen an der kleinen Kaufhalle vorbei. Dann quer über die Straße zum Zeitungskiosk und der Uhr. Von Schüchternheit oder Weglaufen war bei Thomas nichts zu merken. Wir waren Jochens Haustür schon erschreckend nahe. Ich dachte, gleich wird er sich verabschieden und verschwinden, schade … Thomas machte aber keinerlei Anstalten in diese Richtung. Im Gegenteil. Wie selbstverständlich ging er mit rein. Vielleicht war das so abgesprochen. Der Fernseher wurde eingeschaltet, das half mir. Jochen brachte was zu trinken auf den Tisch und Gläser dazu. Thomas trank nichts. Wir hatten uns gleichmäßig um den Tisch verteilt. Ich saß auf der Couch, Jochen rechts von mir im Sessel, Thomas links. Die beiden redeten viel. Ich, der von ihrer Unterhaltung ausgeschlossen blieb, sah meist in die Flimmerkiste. Zumindest tat ich so. Es war schon spät. Dann schwiegen sie eine Weile, sahen auch in den Kasten und unterhielten sich kurz darauf weiter. Es wurde immer später. Keiner wollte den Abend beschließen. Ich saß zwischen ihnen wie nicht dazugehörig, fehl am Platze. Jochen sprach nur mit Thomas, der nur mit Jochen. Richtete ich mal eine bescheidene Frage an Thomas, wurde sie nur knapp oder gar nicht beantwortet, ohne mich auch nur flüchtig dabei anzusehen. Es machte mich krank zu sehen, wie gut sich die beiden verstanden.
Es war bald 2 Uhr morgens. Jochen, der sonst schon im Stehen einschläft, sobald es 19 Uhr geschlagen hat, war erstaunlich lange munter geblieben, aber jetzt doch ziemlich angeschlagen. Er gab Thomas zu verstehen, dass es wohl an der Zeit sei, ins Bett zu gehen. Er könne ja, wenn er wolle, hier schlafen, bot er ihm an. Mir schlug bei diesen Worten das Herz bis an den Kehlkopf. Thomas zeigte sich nicht abgeneigt. Er wolle sich mit dem Fußboden und einer Decke begnügen, sagte er. Während wir unsere Betten hervorholten, reichte ihm Jochen eine Decke rüber. Jochen lag zuerst in seinem Bett. Ich saß noch immer in Turnhose unschlüssig auf der zurechtgemachten Couch. Ich schlafe immer nackt.
„Ach, ich muss doch rüber“, sagte Thomas plötzlich. „Ich habe ganz vergessen, dass in meinem Zimmer der Hund lauert. Es ist ein Schäferhund. Den muss ich noch versorgen.“
Da war diesem kleinen Filou noch rechtzeitig eine rettende Idee gekommen. Ganz großzügig lud er uns für den nächsten, das heißt für den heutigen Morgen, denn es ist ja bereits Dienstag, zu sich ein. Er werde allein sein.
„Wenn wir schon rüberkommen sollen, dann möchten wir auch Frühstück haben“, spaßte ich.
Das werde sich machen lassen, meinte Thomas zustimmend.
Jochen brachte ihn an die Tür, wo sich beide auf 9 Uhr einigten. Als er ins Zimmer zurückkam, trug seine kurze Schlafanzughose vorn eine verräterische Beule.


Sonntag, 24. Juli 1988 - Dienstag, 26. Juli 1988

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