Die Hoschköppe / 10. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 10. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Sonntag, 24. Juli 1988


Der heutige Morgen ließ uns ausschlafen und anschließend gemütlich frühstücken: heißer Kaffee, grillfrische Brötchen, weich gekochte Eier, aber nicht zu weich, Marmelade und Honig. Die Marmelade war gerade dabei, flüssig zu werden und der Honig fest. Wurst mochten wir morgens beide nicht.
Jochen saß in seinem Sessel und erzählte mit vollem Mund von Thomas, während ich mich noch nackt auf meinem ungemachten Bett rekelte und ihm gespannt zuhörte. Wie gestern Abend. Thomas habe zwei Schwestern und einen Bruder. Alle älter als er. Seine Mutter sei Anwältin oder Richterin oder so, sein Vater Sprengmeister. Eine Oma habe er in Tessin, zu der er öfter hinfährt. Dort habe er sogar ein eigenes Pferd stehen. Von irgendwelchen Verwandten in Dänemark war auch die Rede. War das alles zu glauben? Mir schwoll der Kopf von alledem.
Zwischendurch hatte Jochen die Waschmaschine beschickt. Zum Mittag gab es Gulasch. Mit Spaghetti, da die Kartoffeln, die in einer Tüte im Korridor lagen, für die menschliche Ernährung nicht mehr geeignet waren. Die Sonne schien freundlich und so beschlossen wir, nach dem Essen zum Strand zu fahren. Wir steckten eine Packung Kekse und eine große Flasche Brause zu den Badesachen und fuhren mit den Rädern los. Nach einer halben Stunde waren wir dort. Kaum war die Decke ausgebreitet, bezog sich der Himmel, so weit man sehen konnte, mit Regen verheißenden Wolken.
„Das war wohl nichts!“, meinte Jochen und sah enttäuscht nach oben.
Es hatte keinen Sinn, alle Sachen auszupacken, es konnte jeden Moment zu gießen anfangen. Wir machten also wieder kehrt und trafen dabei auf Gerd, der auch gerade das Weite suchen wollte. Wir fuhren gemeinsam weiter. Nach ungefähr 10 Minuten kam uns Eddis Freund Wikolf entgegen, der es fertigbrachte, Gerd zum Bleiben zu überreden. Den Eddi würde er dort aber nicht mehr vorfinden, gab Jochen zu verstehen, denn der war uns schon auf unsrer Hinfahrt begegnet. Wir fuhren allein weiter und je weiter wir fuhren, desto heller wurde der Himmel wieder. Plötzlich waren alle Wolken verschwunden, als hätte es nie welche gegeben, und die Sonne lachte uns von oben herab aus. Unschlüssig fuhren wir weiter Richtung Warnemünde. Durch jedes Loch im Laubdach stach uns die Sonne schadenfroh ins Genick. Schließlich kehrten wir doch um. Aber irgendwas stimmte in der Rechnung nicht, denn als wir zu unserem Lieblingsplätzchen zurückkamen, waren auch plötzlich alle Wolken wieder da. Wir fühlten uns echt verarscht. Da es aber trocken blieb, setzten wir uns ans Ufer und lauschten den heranrollenden Wellen und dem Geklimper der kleinen Steine. Ich schloss die Augen und träumte. Der Wind strich uns übers Gesicht und durchkämmte die Haare.
Danach fuhren wir dann endgültig und ohne Unterbrechung nach Hause. Jochen fummelte den Schlüsselbund aus dem Beutel und schloss den Briefkasten auf. Er war leer. Dann stellten wir die Räder in seinen Kellerverschlag, der noch schmaler als meiner ist. Ich war zuerst an der Wohnungstür, weil Jochen alles wieder abschließen musste. So entdeckte ich den Brief, der an der Tür steckte. Auf dem Umschlag stand:

           J. Reger

Die Anfangsbuchstaben waren übergroß und das Ganze schien, im Gegensatz zu dem hier abgedruckten, nach links umkippen zu wollen.
„Den hab ich aber gefunden!“, sagte ich, als Jochen die Treppe hochkam, und schwenkte erwartungsvoll den Brief. Ich hoffte, ihn als Erster lesen zu dürfen. Aber dazu ließ es Jochen nicht kommen. Erst als er ihn überflogen hatte, las er ihn laut vor.

Ich hatte zwar versprochen keine Briefe mehr zu schreiben, aber
dies ist 1. kein Brief, sondern nur eine Mitteilung und 2. ist es
die letzte schriftl. Mitteilung. Da Sie Zu dem Zeitpunkt 15.32 Uhr
nicht anwesend waren, kann ich nur auf diese Methode zurück-
greifen. Ist das letzte Mal - versprochen!
  Ersteinmal wollte ich Ihnen für das sehr offene Gespräch
danken und sagen, daß ich Sie verstehe. Oder kann man das
nicht so sagen. Ich habe auch gar nicht geglaubt, daß es
noch Menschen mit solchem Charakter und so einem gesunden
Menschenverstand gibt. Sie haben mir ehrlich imponiert.
Die Diskussion hat mir auch echt weitergeholfen und nun weiß
ich auch, wie solche Menschen fühlen.
                                                    Also nochmal vielen Dank!
            Nun aber zu dem, was ich ursprünglich zu sagen vorhatte.
            Mir wurde heute ganz nebenbei mitgeteilt, ich müßte
            morgen Zu meiner Oma fahren, um Kirschen zu pflücken.
            Da meine Oma einen sehr großen Garten hat und fast
            alles an Obst und Gemüse vorhanden ist, steht die Frage, ob
            Sie etwas benötigen. Ich kann mir vorstellen, daß man
            zum Kochen und überhaupt in der Küche so einige
            Sachen bräuchte. (z.B. Sellerie, Dill, Schnittlauch, Petersilie,
                                     Mohrrüben).
              Ich weiß jetzt nur nicht, wie Sie mir sagen wollen, ob Sie
              was bräuchten oder nicht. Mir kommt es darauf hin
              dann nur auf Menge und Auswahl an.
                          Lassen Sie sich was einfallen.
                                                              Gruß, auch an Ihren Freund
                                                                           Thomas
Morgen Abend gegen 2100 bin ich dann wieder da.

„Erst schmeißt der Kerl Dreckklumpen an unser Fenster und jetzt will er uns Kirschen und Petersilie mitbringen“, sagte ich zu Jochen. Ich finde den Brief aufschlussreich und zugleich irgendwie rührend, denke, die Diskussion gestern Abend mit Jochen hat ihm in erster Linie geholfen, sich selbst besser zu verstehen.
Jochen trat ans offene Fenster und winkte mit dem Brief zu Thomas hinüber. Der verstand und machte sich sofort auf den Weg.
„Soll ich nicht lieber abhauen?“, fragte ich.
„Nein, du bleibst hier!“
Um aber einer Begegnung auszuweichen, verkrümelte ich mich ins Bad, zog mich aus und kletterte in die Badewanne. Meine Sachen hatte ich auf die Waschmaschine gelegt. Drehte dann vorsichtig den Hahn auf, um mich nass zu machen. Als ich beim Einseifen war, klingelte es und Jochen ließ Thomas rein. Beide gingen in die Stube und werden sich wohl unterhalten haben. Zu hören war nichts davon. Ich drehte wieder den Hahn auf, um den Schaum abzuspülen. Das eiskalte Leitungswasser schoss aus der Brause und schockte meine Wärme liebende Haut, denn wir hatten noch immer kein warmes Wasser. Nachdem ich das Wasser wieder abgestellt hatte, hörte ich Thomas aus dem Zimmer kommen. Er schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Vielleicht hatte er erst jetzt mitbekommen, dass ich auch noch da war.
„Doch nicht zu dritt …“, hörte ich ihn im Treppenhaus protestieren. Was hatte er wohl damit sagen wollen?
„Sogar seine Schuhe hat er mit ins Treppenhaus genommen, um sie erst dort anzuziehen, weitab von allen möglichen Gefahren“, meinte Jochen hinterher. „Möglich, dass ihm das sicherer erschien.“
Später kam noch Kati. Sie holte für Nati, die auch mit in die ČSSR fährt, das umgetauschte Geld ab. Sie bestellte Grüße ihrer Mutter, die uns zu kommen bat, denn die Waschmaschine leckt. Ein Schlauch sei wohl kaputt.

Sonnabend, 23. Juli 1988 - Montag, 25. Juli 1988

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt